**Zuerst erschienen in: Vereinte Nationen: Zeitschrift für die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen. Heft 4/2019, S. 171-176.
Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Agenda 2030) versteht Migration als wesentlichen Aspekt der Entwicklung. Zahlreiche Gremien und Foren haben das Mandat, die Umsetzung der festgeschriebenen Migrationsziele zu überwachen. Gleichzeitig gefährdet dieser institutionelle Flickenteppich eine kohärente Migrationspolitik
Migration hat die Menschheitsgeschichte geprägt und in den vergangenen Jahrhunderten die Welt verändert. [1] Aktuell ist internationale Migration, also die dauerhafte Aus- bzw. Einwanderung bei der eine politisch-territoriale Grenze überschritten wird, an die „Spitze der globalen politischen Agenda getreten“ [2]. Das zeigt sich auch in der Agenda 2030 und den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, die im Jahr 2015 von der Generalversammlung beschlossen wurden und bis ins Jahr 2030 das universelle Rahmenwerk für nachhaltige Entwicklung bilden, an dem sich alle Staaten orientieren müssen. [3]
Die spezifischen und relevanten Bezüge auf Migration und die Gremien und Foren, in denen die Umsetzung überwacht wird, machen deutlich welchen Stellenwert der Themenkomplex Migration innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen (VN) bekommen hat. Gleichzeitig stellt der Wandel der globalen Migrationspolitik, also die Steuerung und internationale Zusammenarbeit in der Migrationspolitik, eine große Herausforderung für eine kohärente Überprüfung dar.
Wie viel Migration steckt in der Agenda 2030?
Die Agenda 2030 ist das universelle Rahmenwerk für globale Entwicklung. Lokale, regionale und nationale Politikprogramme sollen sich an den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) orientieren. In ihr finden sich vielfältige Bezüge auf Migration, die die Debatten der letzten Jahrzehnte widerspiegeln. So wird in der Agenda das staatliche Interesse deutlich, insbesondere der Staaten im globalen Norden, grenzüberschreitende Mobilität von Menschen kontrollieren und steuern zu wollen – was oft als „Management“ von Migration beschrieben wird. Gleichzeitig verweist die Agenda 2030 auf die positiven Beiträge zu Wachstum, die Migrantinnen und Migranten für die Gesellschaften in Herkunfts-, Transit- und Zielländern leisten. Damit wird im Gegensatz zu den Milleniums-Entwicklungszielen (Millenium Development Goals, MDGs) die transformative Kraft von Menschen, die migrieren, gewürdigt. Migration ist Entwicklung, wenn sie gut geregelt und die Rechte der Migrant_innen gesichert werden. Deswegen sind Migrantinnen- und Migrantenrechte elementarer Bestandteil der Agenda 2030.
Nicht zuletzt identifiziert die Agenda 2030 Ursachen für Flucht und Vertreibung, deren Minderung höchste Priorität im politischen Projekt der Fluchtursachenminderung sein sollte. Wenn Menschen ihr Herkunftsland verlassen, haben sie wirtschaftliche, soziale, politische, religiöse oder rein persönliche Motive – meist mehrere davon zugleich.
Bereits Präambel und Erklärung der Agenda 2030 enthalten zahlreiche migrationsrelevante Erkenntnisse und Verpflichtungen. [4] Es wird festgehalten, dass humanitäre Katastrophen und die Vertreibung von Menschen den Entwicklungsfortschritt beeinträchtigen (Paragraph 14), gefährdete Gruppen wie Vertriebene, Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten gestärkt werden müssen (Paragraph 23), alle Menschen, auch Letztere, Zugang zu lebenslangem Lernen bekommen sollen (Paragraph 25), Zwangsarbeit, Menschenhandel und Kinderarbeit beendet werden muss (Paragraph 27), und dass Migration positiv auf ein inklusives Wachstum und eine nachhaltige Entwicklung wirkt (Paragraph 29). Des Weiteren greift Paragraph 29 bereits dem Ziel 10.7 vor und nimmt die Unterzeichnenden in die Pflicht,
„auf internationaler Ebene zusammen[zu]arbeiten, um eine sichere, geordnete und reguläre Migration zu gewährleisten, bei der die Menschenrechte uneingeschränkt geachtet werden und Migranten, ungeachtet ihres Migrationsstatus, Flüchtlinge und Binnenvertriebene eine humane Behandlung erfahren“.
Die Agenda 2030 integriert Migration und Flucht in unterschiedlicher Weise. Zunächst enthält er die migrationsspezifischen Unterziele 8.8, 10.7 und 10.c.
Das achte Ziel, „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“, fordert im Unterziel 8.8, die Arbeitsrechte zu schützen und sichere Arbeitsumgebungen für Arbeitsmigrantinnen und -migranten herzustellen. Erreicht werden soll dieses Ziel unter anderem, indem internationale Standards zu Arbeitsmigration in nationales Recht übernommen und angewendet, Arbeitgeber im Schutz von Arbeitsmigrantinnen und -migranten weitergebildet, ihre Arbeitsplätze hinsichtlich der Einhaltung von Standards überprüft und migrantische Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter gefördert werden.
Das zehnte Ziel, „Weniger Ungleichheiten“, hat den offensichtlichsten Migrationsbezug. Dabei bleibt offen, ob Migration und Ungleichheiten einander bewusst zugeordnet wurden oder ob die Kopplung dieser beiden Themen nur ein(en) (wurde allerdings nicht korrigiert) Verhandlungskompromiss zwischen den Staaten darstellt. [5] Immerhin ließe sich argumentieren, dass Migration als eine Entwicklungs- und Lebensstrategie Ungleichheiten zwischen Ländern unter bestimmten Voraussetzungen verringert – und damit zu nachhaltiger Entwicklung beiträgt.
Das Unterziel 10.7 fordert eine Erleichterung von geordneter, sicherer, regulärer und verantwortungsvoller Migration und Mobilität. Aus diesem Unterziel ist der Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration (kurz: Migrationspakt) abgeleitet worden, der mit seinen 23 Zielen allerdings weitaus mehr SDGs berührt.
Das Unterziel 10.c sieht vor, die Kosten von Geldtransfers auf unter drei Prozent des Überweisungsbetrags zu senken. Staaten werden aufgefordert die Kosten zu deckeln und kostengünstige Geldtransfersysteme zu fördern.
Neben diesen migrationsspezifischen Unterzielen gibt es eine Reihe von migrationsrelevanten Unterzielen. Dazu gehören die Förderung von Gesundheitsfachkräften in Entwicklungsländern (3.c), insbesondere, um den Fortgang hochqualifizierter Arbeitskräfte zu verhindern, mehr Auslandsstipendien für Studierende in Entwicklungsländern (4.b), die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen einschließlich des Menschenhandels (5.2), die Anerkennung und Wertschätzung unbezahlter Pflege- und Hausarbeit (5.4), die Abschaffung von Zwangs- und Kinderarbeit sowie von moderner Sklaverei und Menschenhandel (8.7), die Beendigung von Missbrauch und Ausbeutung von Kinder und Kinderhandel (16.2), die Registrierung der Geburten und der rechtlichen Identität aller Menschen (16.9) und die Erhebung von Daten zu Migration (17.18).
In der gesamten Agenda 2030 werden entwicklungsorientiere Ansätze mit rechtebasierten Ansätzen verbunden. Es gibt zahlreiche Unterziele, die entweder Schutzlücken aufzeigen oder konkrete Rechte von Menschen, die migrieren und von Flüchtlingen benennen.
Die erfolgreiche Umsetzung der Agenda 2030 setzt den Zugang zu Rechten voraus. Wenn Menschen ihre Rechte nicht wahrnehmen können, führt das zu prekären Lebensbedingungen und macht sie verwundbar – was Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge besonders betrifft. Grundlegende Menschenrechte, die in der Agenda 2030 verankert sind, sind unter anderem der Zugang zu Gesundheit (3.8), Justiz (16.3), Bildung (4) und anderen öffentliche Dienstleistungen sowie der Zugang zu Land (1.4) und Wohnraum (11). Erst wenn diese Rechte für alle gewahrt und geschützt sind, können Menschen ihre Potenziale voll entfalten.
Weiterhin benennt die Agenda 2030 an einigen Stellen verschiedene Ursachen von Flucht und Migration, denen begegnen werden soll. Zum Beispiel soll die Widerstandsfähigkeit von Menschen, zum Beispiel gegen klimabedingte Extremereignisse und andere wirtschaftliche, soziale und ökologische Schocks gestärkt werden (1.5). Auch sollen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergriffen werden (13), die Wüstenbildung bekämpft sowie geschädigte Flächen und Böden saniert werden (15.3).
Weiterhin erkennt das 16. Ziel, „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“, an, dass unter anderem Gewalt, Ausbeutung, Diskriminierung, Folter und Korruption Menschen dazu bewegen, ihr Land zu verlassen. Das 17. Ziel, „Partnerschaften zur Erreichung der Ziele“, adressiert wichtige Schieflagen in der Welthandelspolitik an, die die Lebensbedingungen in Entwicklungsländern negativ beeinflussen.
Insgesamt lässt sich eine hohe Dichte an Querverweisen auf Migration in der Agenda 2030 feststellen. Als Querschnittsthema ohne eigenes Oberziel besteht jedoch die Gefahr, dass Migration nicht genügend Aufmerksamkeit bei der Umsetzung erfährt. [6] Zudem sind für einige migrationsrelevante Indikatoren weiterhin keine Messmethodik und Datengrundlage vereinbart worden. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die globale Migrationspolitik im Umbau befindet und sich gleiche mehrere Foren und Gremien für die Überprüfung von Migrationszielen anbieten.
Überprüfung der Migrationsziele der Agenda 2030
Die Umsetzung, Überwachung und Überprüfung der migrationsbezogenen Entwicklungsziele erfolgt in einer Reihe von globalen, regionalen und nationalen Prozessen sowie in thematischen Foren innerhalb und außerhalb des UN-Systems. Daneben begleiten eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Schattenberichten den Umsetzungsprozess kritisch. Das Hochrangige Politische Forum für Nachhaltige Entwicklung (High-level Political Forum on Sustainable Development – HLPF) ist in erster Linie für die Überwachung der SDGs verantwortlich– und damit auch die Migrationszielen in der Agenda. Mit der Verabschiedung des Migrationspakts hat dasÜberprüfungsforum Internationale Migration (International Migration Review Forum – IMRF) ebenfalls eine Überprüfungsfunktion hinsichtlich der Migrationspakt-Ziele und damit indirekt auch für die SDGs. Das Globale Forum für Migration und Entwicklung (Global Forum on Migration and Development – GFMD)sucht nach einer neuen Rolle außerhalb des UN-Systems als informelles Dialogforum mit Scharnierfunktion zwischen den multilateralen Prozessen der Vereinten Nationen.
Das Hochrangige Politische Forum für Nachhaltige Entwicklung
Das HLPF ist das UN-Gremium, das die Umsetzung der Agenda 2030 überwacht. Es trifft sich jährlich im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialrates (Economic and Social Council, ECOSOC) zu mehrtätigen Sitzungen in New York. Regierungen stellen freiwillig ihre Staatenberichte. Diese bilden, zusammen mit thematischen und SDG-Überprüfungen, die Basis für die Diskussion über Fortschritte und Empfehlungen in den jeweiligen Staaten. Der UN-Generalsekretär legt zudem jährlich einen Bericht über die Umsetzung der Agenda 2030 vor, der in eine Ministererklärung einfließt. Ergänzend tagt alle vier Jahre auf Ebene der Staats- und Regierungschefs der UN-Nachhaltigkeitsgipfel (SDG-Gipfel). Dieser wird im September 2019 stattfinden und den ersten Weltbericht über nachhaltige Entwicklung vorstellen.
Die Fortschritte der Umsetzung sollen auf Basis von 232 globalen Indikatoren überprüft werden, die von der organisationsübergreifenden Sachverständigengruppe für SDG-Indikatoren (Inter-Agency Expert Group on SDG Indicators – IAEG-SDGs) erarbeitet und von der UN-Statistikkommission (UN Statistical Commission – STATCOM) im März 2016 vereinbart wurden. Allerdings konnte nicht für alle Ziele eine Methodik und Datengrundlage vereinbart werden – insbesondere nicht für Ziele mit Migrationsbezug. Für das Unterziel 10.c (Kosten für Geldtransfers) gibt es einen messbaren Indikator. Keine Einigkeit besteht dagegen bei der Definition einer „planvollen und gut gesteuerten Migrationspolitik“ (Ziel 10.7), auch wenn mit dem Globalen Migrationspakt ein ganzes Ziel- und Maßnahmenbündel verabschiedet wurde.
Die Internationalen Organisation für Migration (International Organization for Migration - IOM) hat daher einen Rahmen für die Steuerung der Migration sowie einenIndex vorgeschlagen. [7] Mit ihnen soll überprüft werden, inwieweit Staaten internationale Grundsätze wie Verträge, Übereinkommen und Normen [8] ratifizieren und anwenden. Der Index soll Regierungen anderen relevanten gesellschaftlichen Gruppen eine faktenbasierte Grundlage bieten, um die nationale Migrationspolitik weiter zu entwickeln. Dabei sollen rechtliche, ökonomische, soziale, arbeitsspezifische und entwicklungsrelevante Dimensionen zusammengedacht werden. [9] Fehlende aussagekräftige Indikatoren und die Komplexität der Agenda 2030 erschweren die systematische Überprüfbarkeit der thematischen Berichte und die Vergleichbarkeit der freiwilligen Staatenberichte bei zentralen migrationspolitischen SDGs, die in diesem Jahr im Fokus stehen, nämlich Ziel 4 (hochwertige Bildung), 8 (menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum) und 10 (weniger Ungleichheiten), 13 (Maßnahmen zum Klimaschutz) und 17 (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele). Trotz der Relevanz und hohen Aufmerksamkeit in den letzten Jahren, war das Querschnittsthema Migration beim HLPF in diesem Jahr kaum sichtbar. Von den 156 offiziellen Begleitveranstaltungen hatten gerade einmal fünf Veranstaltungen einen ausdrücklichen Migrationsbezug. Die freiwilligen Staatenberichte konzentrieren sich weitgehend auf die Beschreibung von Programmen. Dagegen bieten die zivilgesellschaftlichen Schattenberichte mehr Analyse und Evaluierung. [10]
Der globale Nachhaltigkeitsgipfel wird neben Weltbericht über nachhaltige Entwicklung auch eine Überprüfung des HLPF-Formats vornehmen. Das ist notwendig, denn das diesjährige HLPF hat gezeigt, dass die Umsetzung der SDGs zu erlahmen droht, sollte von ihm nicht ein deutliches politisches Signal ausgehen. Das HLPF wird zweifelsohne, das wichtigste Forum zur Überprüfung der SDGs bleiben. Für die thematische Vor- und Nachbereitung stellt die globale Migrationspolitik allerdings andere multilaterale Prozesse bereit: Das IMRF und das GFMD.
Das Überprüfungsforum Internationale Migration
Der seit 2006 jährlich tagende UN-Dialog auf hoher Ebene über Internationale Migration und Entwicklung (UN-High-level Dialogue on International Migration and Development) wurde mit der Verabschiedung des Migrationspaktes mit einer neuen Aufgabe betraut und in das IMRF überführt. Das IMRF dient als primäre globale Plattform für die Mitgliedsstaaten zur Erörterung und zum Austausch der Fortschritte bei der Umsetzung des Migrationspakts, insbesondere seiner Bezüge zur Agenda 2030. Ähnlich wie andere multilaterale Prozesse zu SDGs soll das IMRF dem HLPF als thematischer Vorbereitungsprozess für das Querschnittsthema Migration dienen. Ab 2022 soll das Forum alle vier Jahre abgehalten werden.
Auf dem mehrtägigen Forum sollen die 23 Ziele des GCM nach Themengebieten geordnet, diskutiert werden. Ähnlich wie beim HLPF können Staaten freiwillige Umsetzungsberichte abgeben und neue Initiativen zu internationaler Zusammenarbeit vorstellen. Am Ende jedes Forums wird eine Fortschrittsdeklaration verabschiedet, die an das HLPF übermittelt wird. Nicht-staatlichen Akteure wird es möglich sein, am Forum – wenn auch mit begrenzten Möglichkeiten –aktiv teilzunehmen.
Subregionale, regionale und regionenübergreifende Prozesse, Plattformen und Organisationen sind dazu eingeladen, bereits ab dem Jahr 2020 eigene Überprüfungsforen zu veranstalten, deren Ergebnisse das IMRF aufgreifen soll.
Ferner ist die Globale Gruppe für Migrationsfragen (Global Migration Group - GMG) [11] in ein neues UN-Migrationsnetzwerk überführt worden, in dem alle relevanten UN-Organisationen zusammenarbeiten, um Staaten bei ihren Umsetzungsplänen zu unterstützen. So etwa mit einem neuen Kapazitätsaufbaumechanismus, damit technische, personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die IOM wird die koordinierende Rolle innerhalb des neu geschaffenen Migrationsnetzwerks übernehmen. Das Sekretariat des Netzwerks, bereitgestellt von der IOM, wird dem IMRF als Unterstützungseinheit in der Vorbereitung und Organisation des IMRF dienen.