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Daniel Drewski und Jürgen Gerhards über die großen Unterschiede zwischen Staaten bei der Aufnahmebereitschaft von Geflüchteten
In dem 2024 veröffentlichten Buch „Framing Refugees: How the Admission of Refugees is Debated in Six Countries across the World” (Oxford University Press) gehen Daniel Drewski und Jürgen Gerhards der Frage nach, wie sich die großen Länderunterschiede in der Bereitschaft zur Aufnahme von Geflüchteten erklären lassen.
Weltweit sind fast 50 Millionen Menschen auf der Flucht vor politischer Verfolgung und Krieg. Nach internationalem Recht haben Geflüchtete das Recht, in einem anderen Staat Asyl zu suchen, und sie dürfen nicht dorthin zurückgewiesen werden, wo ihnen fundamentale Menschenrechtsverletzungen drohen. Angesichts der weltweit steigenden Flüchtlingszahlen gerät dieses Schutzrecht jedoch zunehmend unter Druck. Auch wenn die meisten Staaten die entsprechenden Abkommen wie die Genfer Flüchtlingskonvention (1951/1967) unterzeichnet haben, weigern sich manche ganz grundsätzlich, Geflüchtete aufzunehmen. Andere Staaten nehmen wiederum nur Geflüchtete aus bestimmten Herkunftsländern auf, verweigern aber Personen aus anderen Ländern den Zugang; zu dieser Gruppe gehört beispielsweise Polen. Schließlich gibt es Staaten, wie zum Beispiel Uganda, die ihre Grenzen für alle Flüchtlingsgruppen weitgehend geöffnet halten.
Diese unterschiedlichen Policies hängen maßgeblich mit den dominierenden Identitätsvorstellungen in dem betreffenden Land zusammen, wie die Auswertung politischer Reden und Parlamentsdebatten in Chile, Deutschland, Polen, Singapur, der Türkei und Uganda zeigt. Die genannten Länder waren allesamt in den vergangenen Jahren mit der Aufnahme von Geflüchteten konfrontiert, reagierten aber mit ganz unterschiedlichen Politiken. Das gilt auch für die politischen Parteien in den jeweiligen Ländern.
Wir argumentieren, dass die Flüchtlingspolitik eines Landes ganz entscheidend davon abhängt, wie deren Politikerinnen und Politiker zwei Fragen beantworten: Wer sind „wir“, die aufnehmende Gesellschaft? Wer sind die Geflüchteten, die zu uns kommen? Von der jeweiligen Definition des „wir“ und der „anderen“ hängt es ab, inwiefern man sich den Geflüchteten gegenüber beispielsweise solidarisch verbunden, humanitär oder rechtlich verpflichtet fühlt oder eine kulturelle Überfremdung des eigenen Landes befürchtet. Die politischen Akteure der verschiedenen Länder lassen sich bei der Beantwortung dieser Fragen von ganz unterschiedlichen Vorstellungen nationaler Identität leiten.
Illustrieren lässt sich dies anhand eines Vergleichs der politischen Debatten der letzten Jahre über die Aufnahme syrischer Geflüchteter in Deutschland, Polen und der Türkei. Seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs haben mehr als 6 Millionen Syrerinnen und Syrer das Land verlassen. Die drei Länder reagierten darauf mit ganz unterschieden Aufnahmepolitiken.
Die Türkei hat die meisten Geflüchteten aus Syrien aufgenommen. Überraschend ist, dass die islamisch-konservative und autoritäre Regierung unter Präsident Erdoğan von der „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) über lange Zeit eine offene Rhetorik und Politik gegenüber dieser Gruppe verfolgt hat. Es zeigt sich aber, dass diese Politik kaum von der Bindung an internationales Menschen- und Flüchtlingsrecht motiviert war. Stattdessen basierte sie auf einer neo-osmanischen und religiösen Identitätsdefinition der Türkei, die die Grenzen des türkischen Nationalstaats gleichsam ausdehnt. Geflüchtete aus Syrien wurden als „Brüder und Schwestern“ bezeichnet, da sie wie die Türkinnen und Türken überwiegend muslimischen Glaubens sind und aus einem Land kommen, das ehemals dem Osmanischen Reich angehörte. Durch die Aufnahme syrischer Geflüchteter konnte sich die türkische Regierung auch als humanitären Akteur gegenüber dem „scheinheiligen“ Europa inszenieren und Geflüchtete als Druckmittel in Verhandlungen mit der EU einsetzen.
Anders in Polen: Die nationalkonservative Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) lehnte es während der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 vehement ab, sich an der von der EU- Kommission vorgeschlagenen Umverteilung von Geflüchteten in der EU zu beteiligen und verweigerte grundsätzlich die Aufnahme syrischer Geflüchteter. Diese Politik basierte auf einer Vorstellung von Polen als ethnisch homogener, christlicher Nation, zu der Geflüchtete aus muslimischen Ländern kulturell nicht „passen“. Hinzu kam die Vorstellung, dass Polen seit je her von den europäischen Mächten in seiner Nachbarschaft bedroht wird, weshalb die nationale Souveränität gegenüber Entscheidungen aus Brüssel unbedingt verteidigt werden müsse. Diese nationale Identitätskonstruktion kann im Übrigen auch erklären, warum sich Polen gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine so offen zeigte, während die Aufnahme syrischer Geflüchteter verweigert wurde. Die Solidarität mit Ukrainerinnen und Ukrainern wurde aus der Bedrohung durch einen gemeinsamen Feind abgeleitet: Russland.
Deutschland hat unter den Mitgliedstaaten der EU die meisten Geflüchteten aus Syrien aufgenommen. Die 2015 von der großen Koalition unter Angela Merkel eingeleitete offene Flüchtlingspolitik war jedoch ganz anders motiviert als die Politik der türkischen oder polnischen Regierung. Im Zentrum stand ein eher kosmopolitisches Selbstverständnis der deutschen Identität, das den Nationalstaat transzendiert und durch universelle Merkmale gekennzeichnet ist. Grundlage bildete die Vorstellung, dass Deutschland an internationales Recht und das Grundgesetz gebunden ist und historisch bedingt eine besondere humanitäre Verpflichtung zur Aufnahme von Geflüchteten hat. Im Gegensatz zur Türkei wurde die Solidarität mit Geflüchteten also nicht aus einer geteilten Geschichte und Religion abgeleitet, sondern aus der Bindung an internationales Recht und an universelle humanitäre Werte. Diese Identitätskonstruktion wurde von allen damals im Bundestag vertretenen Parteien geteilt.
Allerdings ließ sich in Deutschland im Zeitverlauf beobachten, wie diese Flüchtlingspolitik durch den Aufstieg der AfD zunehmend unter Druck geriet. Schon zum Jahreswechsel 2015/16 wurden Maßnahmen ergriffen, um zwischen „richtigen“ Flüchtlingen (die Anspruch auf Schutz haben) und „Migranten“ (die freiwillig migrieren und keinen Anspruch auf Schutz haben) zu unterscheiden und dadurch die Asylantragszahlen zu reduzieren. Mit ihrem im Januar 2025 in den Bundestag eingebrachten Gesetzesentwurf zur Begrenzung der Migration ging die Union noch einen Schritt weiter und forderte eine Neuausrichtung der deutschen Migrations- und Asylpolitik. Die Heftigkeit der Debatte und die Proteste gegen den Gesetzesentwurf zeigen, dass es hier nicht nur um eine Änderung von konkreten migrationspolitischen Maßnahmen geht, sondern aus der Sicht einiger Akteure um eine Neuausrichtung der kollektiven Selbstdefinition Deutschlands.
Insgesamt zeigen unsere Analysen, dass Länderunterschiede in der Flüchtlingspolitik nur im geringen Maße durch die Bindung an internationale Menschen- und Flüchtlingsrechte erklärt werden können. Entscheidend ist, wie die kollektive Identität des Aufnahmelandes definiert wird und wie die Geflüchteten dazu ins Verhältnis gesetzt werden. Dies kann auch erklären, warum zum Teil autoritäre Regierungen wie in der Türkei eine offene Flüchtlingspolitik verfolgen. Dies sollte jedoch für liberale Demokratien ein Warnsignal sein: Gelingt es ihnen nicht, ihr Bekenntnis zur Aufnahme von durch Krieg und Verfolgung vertriebenen Menschen auch in die Praxis umzusetzen, drohen sie an internationaler Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Das Buch „Framing Refugees: How the Admission of Refugees is Debated in Six Countries across the World” (Oxford University Press) ist aus einem Forschungsprojekt am Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS) an der Freien Universität hervorgegangen.
Daniel Drewski ist 2021 Juniorprofessor für Soziologie Europas und der Globalisierung an der Universität Bamberg. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS) und am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin.
Jürgen Gerhards ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und forscht am Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS). Er ist Mitglied der Nationalen Akademie Leopoldina und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
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