Die Genfer Flüchtlingskonvention wird 70

Zu diesem Anlass sprachen wir mit dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, über das Recht auf Asyl und die Rolle und die Verantwortung Europas.


FES: Wir feiern heute das siebzigjährige Bestehen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Bevor das Protokoll von 1967 verabschiedet wurde, beschränkte sich die geografische Reichweite der Konvention auf Europa. Die Darstellung, Migration und Asyl seien hauptsächlich ein europäisches Problem, gewinnt innerhalb Europas wieder an Zugkraft. Was antworten Sie darauf?
 

Es gibt heute mehr als 82 Millionen Menschen auf der Welt, die unvorstellbaren und unbeschreiblichen Gewalttaten, Verfolgungen und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt waren und sind und die daher von ihrem Wohnort fliehen mussten, um zu überleben. Fast alle bleiben so nahe wie möglich an ihren Herkunftsorten in der Hoffnung, die Situation würde sich verbessern, so dass sie dorthin zurückkehren und ihr altes Leben wieder aufnehmen könnten. Denken Sie an Syrer_innen in der Türkei, Venezolaner_innen in Kolumbien und Afghan_innen in Pakistan.

Insgesamt leben fast 90 Prozent aller Flüchtlinge auf der Welt in Entwicklungsländern. Also zeigen die Zahlen ungeachtet der Rhetorik mancher europäischer Politiker_innen ein ganz anderes Bild. Der Großteil der Flüchtlinge befindet sich nicht in der reichen, industrialisierten Welt, und die Anzahl derjenigen, die heute in Europa ankommen, ist auf jeden Fall zu bewältigen, wenn die Staaten zusammenarbeiten.

Wie sehen Sie die Rolle und Relevanz Europas und insbesondere Deutschlands mit Blick auf Asyl und Flüchtlingsschutz weltweit?
 

Die Art und Weise, wie Europa Asylsuchenden und Flüchtlingen Schutz gewährt, ist von großer Bedeutung und hat Auswirkungen auch über seine Grenzen hinaus. Als engagierter Europäer will ich, dass Europa sich von unseren Idealen und Bekenntnissen leiten lässt und durch sein Beispiel führend wirkt.

Deutschland spielt in dieser Hinsicht eine zunehmend wichtige Rolle als großes Aufnahmeland für Flüchtlinge und als globaler Akteur. Als einer der großzügigsten und wichtigsten humanitären Geber ist Deutschland seinen internationalen Schutzverpflichtungen nachgekommen, nicht nur im eigenen Land, sondern auch durch die weltweite Unterstützung anderer bei der Einhaltung ihrer Verpflichtungen. Es hat also eine sehr starke Glaubwürdigkeit—sein Vorbild stellt sicher, dass Aufnahmeländer mit geringeren Ressourcen wissen, sie können auf die Hilfe Deutschlands zählen und werden bei der Deckung der humanitären und der Entwicklungsbedürfnisse der Flüchtlinge und der sie aufnehmenden Gemeinschaften nicht allein gelassen.

Wenn andererseits die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen—die die große Mehrheit der Vertriebenen aufnehmen—sehen müssen, wie europäische Länder ihre Grenzen dicht machen, Zäune errichten, Menschen zurückschicken oder ihre Asylverpflichtungen auslagern, fragen sie sich, warum sie so viel mehr Flüchtlinge aufnehmen sollten, wo sie doch über viel geringere Ressourcen verfügen als europäische Länder.

Was kann ich Ländern sagen wie etwa dem Libanon (wo jede_r fünfte Bewohner_in ein Flüchtling ist), wie Uganda (das mehr als 1,4 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat), wie Bangladesch (mit fast 900.000 Rohingya-Flüchtlingen aus Myanmar)? Dass sie ihren internationalen Verpflichtungen nachkommen müssen, während Europa—mit mehr Ressourcen und weniger Vertriebenen—sich abwendet?

Die Genfer Konvention von 1951 betrachtet das Recht auf Asyl als zentrales Instrument des Flüchtlingsschutzes. Warum ist dieses Instrument so wichtig?
 

Die Gewährung von Asyl ist ein grundlegender humanitärer Akt, der das Leben einer gefährdeten Person rettet. Dies bedeutet, dass Menschen, die in ihrem eigenen Land nicht mehr sicher sind, in einem anderen Land geschützt werden müssen. Es bedeutet auch, dass sie weder direkt noch indirekt in eine Situation zurückgeschickt werden dürfen, in der ihr Leben in Gefahr ist („refoulement“). Während die Konvention von 1951 eine universell anwendbare Definition von Flüchtlingen einführte, ist die Gewährung von Asyl eine uralte Tradition, die seit jeher von Völkern auf der ganzen Welt praktiziert wird. Seit 1951 wurde in weiteren regionalen Flüchtlings- und internationalen Menschenrechtsübereinkünften der Grundsatz der Nichtzurückweisung („non-refoulement“) verankert, er ist heute Teil des Völkergewohnheitsrechts.

Eines der neueren Instrumente für den Flüchtlingsschutz ist der Globale Pakt für Flüchtlinge, der 2018 verabschiedet wurde. Was ist das Neue daran?
 

Der Globale Pakt für Flüchtlinge von 2018 trägt zur Schaffung eines Rahmens bei, der den Umgang mit Flüchtlingsbewegungen modernisieren soll. Es geht darum, neue Akteure mit einzubeziehen, unter anderem aus dem Hochschul- und Privatsektor, und neue Instrumente und Ansätze zu entwickeln. Wichtig ist auch, dass der Pakt die Notwendigkeit anerkennt, nicht nur die Flüchtlinge selbst zu unterstützen, sondern auch die Länder und Gemeinschaften, die sie aufnehmen. Dies bedeutet ein stärker verzahntes Konzept, das einerseits humanitäre und lebensrettende Soforthilfe wie Nahrungsmittel und Medikamente bereitstellt, das andererseits aber auch Entwicklungsmaßnahmen wie Bildung und Schaffung von Arbeitsplätzen vorsieht. Die Integration der Vertriebenen in ihre neuen Gemeinschaften—und die Ressourcen, mit denen Aufnahmeländer und -gemeinschaften bei dieser Aufgabe unterstützt werden—, stellen eine wichtige Form des Schutzes dar.

Im Widerspruch zu diesem neuen ganzheitlichen Ansatz des Flüchtlingsschutzes gab es in letzter Zeit immer wieder Schlagzeilen über Menschenrechtsverletzungen wie „Pushbacks“ und „Pullbacks[1]. Welche Auswirkungen haben solche Verstöße gegen das Prinzip der Asylgewährung und des Schutzes der Menschenrechte?
 

Asyl zu suchen ist kein Verbrechen. Es ist ein grundlegendes Menschenrecht, das von den Staaten respektiert werden muss. Ganz gleich, um welche Situation es sich handelt: Staaten dürfen nicht das Leben von Menschen gefährden, indem sie sie daran hindern, Asyl zu suchen oder sie zurückweisen. Punkt. Und Menschen sollten auf gar keinen Fall strafrechtlich verfolgt werden, weil sie versuchen, Asyl zu erhalten, ganz gleich, auf welche Weise sie an die Grenze gelangen!

Während eine abschreckende Wirkung von Zurückweisungen unwahrscheinlich ist, werden diese Maßnahmen  verzweifelte Menschen weiterhin in noch gefährlichere Situationen drängen und möglicherweise zu weiterem Leid und weiteren Todesfällen führen, vor allem auf dem Meer.

Unsere Mitarbeiter_innen haben hunderte von Menschen interviewt, die nach dem Überschreiten europäischer Grenzen zurückgewiesen wurden, und viele zeigten sich zutiefst getroffen von diesen harten und häufig mit Gewalt verbundenen Erlebnissen, die die potenziell traumatischen Erfahrungen, die sie in ihren Herkunftsländern erlitten hatten, weiter verschlimmerten.

Neben der Frage der Menschenrechtsverletzungen gibt es derzeit auch eine Debatte über Externalisierung, also die Auslagerung des Asyls in Drittländer. Wie stellen Sie und UNHCR sich zu dieser Strategie?
 

Ich kann nachvollziehen, dass manche Staaten über ihre Asylsysteme besorgt sind. Diese Systeme müssen effizienter und wirksamer werden, und es muss einen Mechanismus geben, der dafür sorgt, dass—nach einer fairen Anhörung—diejenigen, die keinen internationalen Schutz benötigen, zurückgeführt werden. Wir wollen mit den Staaten zusammenarbeiten, um die Asylsysteme zu verbessern, indem sie fairer und schneller gestaltet werden.

Aber die Auslagerung des Asyls ist nicht die Antwort. Der Staat entzieht sich damit seiner Verantwortung und handelt gegen den Geist der Konvention von 1951. Außerdem wird das Problem dadurch nicht gelöst, sondern das Problem selbst und die Verantwortung dafür werden anderen zugeschoben—und das ist besonders beunruhigend, wenn eine Verlagerung in Länder erfolgen soll, die über geringere Ressourcen verfügen und heute schon mit den Herausforderungen von Zwangsvertreibungen zu kämpfen haben. Wie lange soll das so weitergehen? Bis nur noch die Nachbarländer von Kriegsgebieten Flüchtlinge retten und der Rest der Welt den Kopf in den Sand steckt und so tut, als existiere die Situation nicht?

Was sollten die Staaten stattdessen tun?
 

Anstelle solcher unpraktischer—und offen gesagt unmoralischer—Vorschläge müssen wir Lösungen verwirklichen, die die Rechte derjenigen schützen, die vor Gewalt und Verfolgung fliehen, und die bei den Bürger_innen der Aufnahmeländer das Vertrauen in das Asylsystem fördern. UNHCR will mit den Staaten zusammenarbeiten, um sie bei der Bewältigung der Probleme zu unterstützen und ihre Systeme stärker, effizienter und wirksamer zu machen, während gleichzeitig die Rechte der Menschen, die Hilfe benötigen, geschützt werden.

Im vergangenen September legte die Europäische Kommission einen Vorschlag für einen neuen Migrations- und Asylpakt vor, der einen umfassenden europäischen Ansatz zum Thema Migration enthalten soll. Was denken Sie über diesen Neuen Pakt?
 

Ich begrüße den vorgeschlagenen Pakt. Er ist darauf ausgerichtet, den unterschiedlichen Anforderungen und Kontexten der EU-Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen und ist deshalb—zwangsläufig—ein Kompromisstext, aber es ist ein guter und praktischer Vorschlag zur Bewältigung der Herausforderungen in Europa. Innerhalb der EU muss es eine sehr viel höhere Solidarität und Berechenbarkeit geben. Es kann nicht sein, dass die Staaten an der EU-Außengrenze beim Umgang mit der Situation allein gelassen werden, und es geht nicht an, dass jedes Mal langwierige Verhandlungen zwischen Staaten über die Frage geführt werden müssen, wer die Menschen aufnehmen wird, die eine grauenhafte Reise hinter sich haben. Auch muss mehr getan werden, um gegen die irreguläre Weiterreise von Asylsuchenden innerhalb der EU vorzugehen.

Leider ist dieses Thema in den letzten Jahren innerhalb der EU stark politisiert worden. Jedoch ist heute, da die Anzahl der in der EU ankommenden Asylsuchenden vergleichsweise niedrig ist, der Zeitpunkt gekommen, um diese Probleme zu klären. Ich ermutige die EU-Mitgliedstaaten, ihre Gespräche über die internen Aspekte des Paktes fortzusetzen, und meine Organisation steht für Beratung und Unterstützung zur Verfügung. Da diese Diskussionen Zeit brauchen werden, unterstütze ich diejenigen EU-Mitgliedstaaten, die versuchen, zumindest befristete Regelungen zu schaffen, um die Verteilung von Bootsflüchtlingen während der Sommermonate zu organisieren, bevor eine breiter angelegte Übereinkunft für die gesamte EU zustande kommt.

Der Pakt unterstreicht ferner, wie wichtig es ist, dass auch außerhalb der EU Unterstützung für Länder, die eine große Anzahl an Flüchtlingen aufnehmen, sowie für die von Flüchtlingen genutzten Transitländer bereitgestellt wird. Die Gewährung von Hilfe für eine bessere Organisation solcher Bevölkerungsbewegungen ist die richtige Art der Zusammenarbeit mit Ländern, die sich sozusagen näher am Ursprung der Fluchtbewegungen nach Europa befinden. Wenn wir diesen Ländern helfen, ihre Asyl- und Migrationssysteme zu stärken, können wir hoffentlich die Anzahl der Menschen, die sich zu äußerst gefährlichen Seereisen gezwungen sehen, sowie auch den Druck entlang der gesamten Fluchtrouten verringern.

Das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) wurde 1950 geschaffen, um Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg zu helfen, und es hat seither viele Flüchtlinge unterstützt. Sie selbst engagieren sich seit mehr als 30 Jahren für Flüchtlings- und humanitäre Arbeit und Sie sind seit 2016 Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge. Können Sie uns einige bewährte Praktiken nennen, wenn es um dauerhafte Lösungen für Flüchtlingsschutz geht?
 

Ich bin froh, dass Sie mich das fragen, denn es gibt für mich und die Mitarbeiter_innen meiner Organisation keine größere Belohnung, als Lösungen für die Vertreibung eines Flüchtlings zu finden—indem wir ganz praktisch Flüchtlinge helfen, „dazu zu gehören“, sei es durch örtliche Integration, durch Neuansiedlung einiger weniger oder durch das, was fast alle Flüchtlinge sich wünschen: die Rückkehr ohne Furcht in ihr Heimatland. Deshalb arbeiten wir so hart an diesem Teil unseres Mandats, selbst wenn die Bedingungen nicht gerade ideal sind. So versuchen wir zum Beispiel, in enger Zusammenarbeit mit dem Sudan und Südsudan sowie mit anderen Ländern in der Region ein Bündel von Maßnahmen zu erarbeiten, um Lösungen für die fast sieben Millionen Vertriebenen aus diesen und in diesen beiden Ländern zu finden. Das ist nicht einfach und wird viel harte Arbeit erfordern, aber wir müssen alles tun, was in unseren Kräften steht, um jenen zu helfen, die ihr Exil beenden wollen. Das ist das Mindeste, was wir tun können.

Die beschriebene Situation ist leider heutzutage ein Ausnahmefall. Es gibt viel zu wenige Konflikte, in denen die politisch Verantwortlichen und die internationale Gemeinschaft bereit sind, die erforderlichen Schritte zur Herbeiführung von Frieden zu unternehmen, der die eigentliche Voraussetzung für umfassende Konfliktlösungen ist. Sogar der UN-Sicherheitsrat ist nahezu immer nicht dazu in der Lage oder nicht willens, sich selbst in elementaren humanitären Fragen zu einigen, geschweige denn die notwendige Einheit zu finden, um seinem Auftrag der Wahrung von Frieden und Sicherheit gerecht zu werden. Das ist eine Schande.

In den letzten Jahren haben wir erlebt, dass Asyl- und Migrationsgesetze missachtet wurden und die globale Solidarität versagte. Was sind Ihre Hoffnungen für die Zukunft und Ihre Wünsche an diesem Gedenktag?
 

Es gibt über 82 Millionen Menschenleben (in etwa so viel wie die Bevölkerung Deutschlands), die nicht einfach als Kollateralschäden des Strebens nach Macht und Profit abgeschrieben werden dürfen. Wenn uns das vergangene Jahr, das von der Pandemie geprägt war, überhaupt etwas gelehrt hat, dann dies: wir sind alle verwundbar, und wir können die großen Krisen, mit denen wir es zu tun haben, sei es COVID-19, das Klima oder Konflikte—Krisen, von denen jeder und jede Einzelne auf diesem Planeten betroffen ist—nur bewältigen, indem wir zusammenarbeiten und die Interessen aller Menschen, ganz besonders aber der am meisten gefährdeten, in den Vordergrund stellen.

Meine Hoffnung richtet sich auf eine Welt, in der die politisch Verantwortlichen ihren Aufgaben gerecht werden und verstehen, dass die Vertretung der nationalen Interessen am besten durch gemeinschaftliches Handeln geschieht, bei dem die Interessen aller berücksichtigt werden—dass also der Ansatz „Mein Land zuerst“ überwunden wird durch die Anerkennung und Verwirklichung der Ziele, Werte und Verpflichtungen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind.

Herr Hochkommissar, herzlichen Dank für dieses Interview.

 

[1] Pushbacks: Menschen werden unmittelbar nach dem Grenzübertritt zurückgewiesen, ohne Rücksicht auf Fluchtgründe und die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen.

Pullbacks: Menschen werden von Behörden des Herkunfts- oder Transitlandes an Flucht oder Weiterreise (und damit der Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen) gehindert, oft im Austausch gegen Finanz- oder Wirtschaftshilfen der eigentlichen Zielländer (bspw. EU-Türkei Deal).


Filippo Grandi

ist der 11. Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge. Er wurde am 1. Januar 2016 von der UN-Generalversammlung für eine fünfjährige Amtszeit gewählt und im November 2020 für eine zweite Amtszeit bis zum 30. Juni 2023 wiedergewählt. Von 2010 bis 2014 leitete er als Generalkommissar das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA). Er war auch als Stellvertretender Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs in Afghanistan im Einsatz und arbeitete für NGOs und UNHCR in Afrika, Asien, im Mittleren Osten sowie am UNHCR-Hauptsitz in Genf.

Hinweise für weiterführende Literatur:

Website on the EU Commission's Proposal for a New Pact on Migration and Asylum