Die FES wird 100! Mehr erfahren

Migration als Entwicklungschance: Erkenntnisse aus Venezuela

Regionale Studien zeigen am Beispiel von migrierenden Venezolaner_innen, wie aufnehmende Staaten in Lateinamerika wirtschaftlich profitieren. Doch das Potenzial ist noch weitaus größer.


 

„Migration wirkt als kraftvoller Entwicklungskatalysator ...“


… so Diego Beltrand, Sonderbeauftragter für Venezuela der Internationalen Organisation für Migration (IOM).  Eine regionale Studie zeigt: Legaler Aufenthaltsstatus, Zugang zum formellen Arbeitsmarkt und zu Finanzmitteln, Abbau von Vorurteilen sind die Schlüsselfaktoren.

Ob es nach der illegitimen Amtseinführung Nicolas‘ Maduro am 10. Januar zu weiteren Abwanderungen aus Venezuela kommen wird, hängt maßgeblich von der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Landes ab. Nach Schätzungen der IOM leben derzeit knapp 7, 8 Millionen Venezolaner_innen außerhalb ihres Heimatlandes. Diese Abwanderung begann während der katastrophalen Wirtschaftskrise 2015/16 und wurden durch die Pandemie, politische Verfolgung und Repression weiter verstärkt. Seit April 2018 haben jedes Jahr rund eine Million Menschen das Land verlassen: 91% der Migrant_innen leben in lateinamerikanischen Ländern, die meisten im Nachbarland Kolumbien (2, 9 Millionen), gefolgt von Peru (1,6 Millionen) und Brasilien (627.000). 

 

Wer wandert aus?


Die venezolanische Gesellschaft ist eine Migrationsgesellschaft, in der jeder Ein- und Auswanderungsgeschichten über die Welt und über Generationen hinweg erzählen kann.  In der Mittel- und Oberschicht ist der Besitz von zwei Pässen eher die Regel als die Ausnahme. Allerdings ist die derzeitige Situation, in der Menschen aus wirtschaftlicher Not und aufgrund des autoritären Regimes das Land verlassen, neu. Ein Spruch lautet: „Früher flog man zum Shoppen nach Miami, jetzt zum Arbeiten.“ 

So verließen zunächst die gut ausgebildeten Menschen das Land, in den Folgejahren dann die weniger formal qualifizierten Personen, wie der IOM-Landesbericht zu Peru deutlich zeigt. Auswanderer_innen gehen nach Möglichkeit dorthin, wo bereits Familie, Freunde oder beruflich Kontakte bestehen. Während die Privilegierten mit dem Flugzeug reisen, versuchen die weniger Privilegierten ihr Glück in den Nachbarländern oder machen sich auf den gefährlichen Weg durch die Darién-Landenge nach Norden. Die Migrant_innen sind mehrheitlich im arbeitsfähigen Alter, häufig mit ein oder zwei Kindern unterwegs, und es gibt einen ausgewogenen Anteil von Frauen und Männern – kurz: keine Auffälligkeiten. 

 

Gekommen, um zu bleiben


Rund 90% der Venezolaner_innen in Kolumbien und 70% in Peru planen, langfristig zu bleiben – dies sollte Grund genug sein, mit ihnen zu planen. Grundsätzlich herrscht in Lateinamerika weitestgehende Personenfreizügigkeit, allerdings beginnen die Probleme beim dauerhaften Aufenthaltsstatus. In Peru besitzen lediglich 65% der Venezolaner_innen eine Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis. Fehlende Papiere sind vor allem auf den bürokratischen Dschungel und lange Wartzeiten zurückzuführen. Abschiebungen sind nicht bekannt. 

Rund 50% der venezolanischen Migrant_innen in Peru und Kolumbien haben einen akademischen oder fachberuflichen Abschluss. Dennoch sind nur 34% der Männer und 20% der Frauen formal angestellt; die Mehrheit arbeitet informell oder selbständig. Trotz dieser Umstände leisten Venezolaner_innen immerhin beachtliche wirtschaftliche Beiträge: In Peru erwirtschaften sie 1,35%, in Kolumbien1,91% der gesamten Steuereinnahmen. In allen von der IOM untersuchten Ländern übersteigen diese Einnahmen bei weitem die sozialen Investitionen für Migrant_innen wie staatliche Gesundheitsversorgung und Schulbildung. Dazu kommen in vielen Ländern internationale Hilfen zur Aufnahme und Integration von Migranten_innen – d.h.  rein wirtschaftlich ist bereits der Status quo ein Plus für die aufnehmenden Staaten.

 

Potenzial nutzen, Hindernisse abbauen


Wie würde sich die Situation entwickeln, wenn mehr Migrant_innen durch Legalisierung ihres Aufenthaltsstatus und die bessere Anerkennung ihrer Abschlüsse sozialversicherungspflichtig in den formellen Arbeitsmarkt integriert würden? Die Untersuchungen von IOM kommen zu einem klaren Ergebnis: Für Peru und Kolumbien wird eine potenzielle Erhöhung der Steuereinnahmen um über 50% errechnet, Chile könnte mit etwa einem Viertel mehr Einnahmen rechnen, Costa Rica mit einem Fünftel.

Zusätzlich erschwert der fehlende oder schwierige Zugang zu Finanzprodukten, wie Konten oder Kredite, die wirtschaftliche Teilhabe. Das liegt zum einen am fehlenden legalen Status aber auch an national unterschiedlichen Bankprodukten. Während beispielsweise in Venezuela Kreditkarten weit verbreitet sind, spielen sie in Peru und Kolumbien eine untergeordnete Rolle.

Schlussendlich sehen sich Migrant_innen auch in einem scheinbar kulturell ähnlichen Umfeld mit Vorurteilen und Diskriminierung konfrontiert. Neben den wirtschaftlichen Hemmnissen gilt es auch soziale Barrieren abzubauen, um Migrant_innen einen gleichberechtigten und gleichwertigen Beitrag in ihrer neuen Heimat leisten können.

 

Migration als Chance auf der globalen Bühne


2025 tagt das Global Forum on Migration and Development in Kolumbien. Als eine Region, die Ab- und Einwanderung gleichermaßen kennt, sind Lateinamerika und Karibik gut gerüstet, die Bedeutung von Migration für Entwicklung auf internationaler Ebene deutlich zu machen.
 


Zur Person

Anja Dargatz ist Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Venezuela. Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren bei der FES, u.a. war sie Landesvertreterin in Baden-Württemberg, Bolivien, Sudan und vertrat die FES in der interinstitutionellen Arbeitsgruppe Frieden und Entwicklung (FriEnt). Beim Umgang mit Migration ist sie überzeugt, dass der Globale Norden viel vom Süden lernen kann.  

Redaktion

Joana Marta Sommer
Joana Marta Sommer
030 26935-8304
Salome Lienert
+41 22 733-3450
Artikelreihe

Fokus: Migration progressiv ausbuchstabieren

weiter

Artikelreihe

Lesen Sie auch unsere Artikel mit deutschen, europäischen und internationalen Perspektiven auf die EU-Asylreform! weiter

nach oben