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Tessa Dooms, südafrikanische Soziologin, politische Analystin und Gründerin der Non-Profit-Organisation Rivonia Circle über die Wichtigkeit kollektiven basisdemokratischen Engagements.
In Südafrika schwindet 30 Jahre nach den ersten freien Wahlen das Vertrauen in die Demokratie, insbesondere in die Parteien. Dies zeigt sich auch in sinkender Wahlbeteiligung und dem Aufstieg populistischer Parteien wie die des Ex-Präsidenten Jakob Zuma. Die Frustration über unverändert hohe Ungleichheit, Arbeitslosigkeit und eine exklusive politische Kultur sitzt tief. Als „Think-and-Do-Tank“ fördert Rivonia Circle innovative Ideen und Ansätze für soziale Entwicklung durch Forschung und gemeinschaftliches Engagement. Rivonia Circle setzt an lokalem Aktivismus an und tritt ein für einen erweiterten Politikbegriff sowie für die Erneuerung und Vertiefung der Demokratie.
In Kooperation mit der FES brachte Rivonia Circle Bürger_innen in ihren jeweiligen Gemeinden in ganz Südafrika zusammen, um mit ihnen politische Strategien für die vor Ort jeweils drängendsten Probleme zu entwickeln. Im Rahmen des „Democracy Builder“-Programms begleitete Rivonia Circle die Bürger_innen auch bei der Umsetzung.
Das Interview wurde am 10. März 2025 von Klaus Brückner, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutsch-Südafrikanischen Forums (DeSaFor), geführt und in einer von Tessa Dooms bearbeiteten Fassung auf desafor.de veröffentlicht. Wir bedanken uns für die Möglichkeit der Zweitveröffentlichung.
Tessa Dooms: Der Rivonia Circle wurde als politische Denkfabrik gegründet, um in Südafrika einen Raum für die Entwicklung neuer politischer Ideen „von unten“ zu schaffen. Nach den Unruhen im Juli 2021 haben wir als Angehörige einer jungen schwarzen berufstätigen Generation, die in der neuen Gesellschaft „angekommen“ waren, feststellen müssen, wie sehr sich die offizielle Politik von der Realität der Menschen entfernt hatte. Uns wurde bewusst, dass auch wir uns mit unseren Privilegien in dieser Gesellschaft mit der höchsten Ungleichheit weltweit von deren großen Problemen abgeschottet hatten.
Mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter haben wir uns entschieden, unsere Möglichkeiten aktiv für Veränderungen einzusetzen. Den Gedanken zur Gründung einer Partei haben wir dabei schnell verworfen. Unsere Idee war, Politik wieder „von unten“ und gemeinsam mit den Menschen zu denken und nicht in einer Partei für sie zu denken. Wir definieren uns als eine NRO, die nicht parteipolitisch agiert, sondern Menschen politisieren und dazu ermutigen will, ihre eigene Meinung zu bilden und zu artikulieren. Menschen, die bei Wahlen genau auf die Agenden der Parteien schauen und bewerten, ob sie darauf vertrauen können, dass sie ihre Belange und Bedürfnisse vertreten werden. Wir wussten zunächst nicht, was und wie wir arbeiten sollten, aber wir waren sicher, die richtigen Fragen zu kennen: Können wir einen Raum für neue politische Ideen schaffen? Welche Art von Politik braucht Südafrika? Wie und wo können wir zusammenkommen, um sie gemeinsam zu entwickeln? Mit unserer Rivonia Circle Forschungseinheit führen wir u.a. repräsentative Umfragen durch und in unserer Programmeinheit, die ich verantworte, setzen wir unser „Democracy-Builder“-Programm um. Dort schaffen wir den Raum für die Menschen, aus den Erfahrungen mit ihren Lebensbedingungen über Politik zu sprechen. Und wir ermuntern sie, sich zu engagieren, indem sie „Politik als die Kraft zum Handeln“ verstehen und nutzen.
Der „Rivonia Circle“ ist in gewisser Weise eine Wiederbelebung des Aktivismus der Rivonia-Trialisten. Sie haben in ihrer Zeit als Aktivisten in ihrem intellektuellen „Liliesleaf Farm Project“ über Strategien und Handlungsoptionen nachgedacht. Der Rivonia Circle bietet in ähnlicher Weise die Möglichkeit, rund um ein Feuer oder einen Tisch zu sitzen, zu reden und Ideen zu entwickeln.
Südafrika hat eine der modernsten Verfassungen in der Welt, die die Rechte der Menschen schützt, hat eine starke Justiz und ein stabiles System demokratischer Institutionen. Ich habe deshalb keine Sorgen um die Stabilität dieses institutionellen Arrangements oder dass das Rad wieder zurückgedreht werden könnte. Die größte Errungenschaft des Landes ist das allgemeine Gefühl der Freiheit und die Fähigkeit, sich an einem robusten politischen Diskurs zu beteiligen, ohne Sorgen vor Sanktionen haben zu müssen. Das ist in vielen anderen afrikanischen Ländern – aber auch anderswo auf der Welt nicht selbstverständlich.
Und was mir immer noch viel Hoffnung gibt, ist das Ausmaß, in denen „Communities“ aktiv sind und arbeiten – sogar übermäßig viel arbeiten. Die Menschen haben immer noch das Gefühl, dass Südafrika funktionieren muss. Und so sind die „Communities“ zur letzten Instanz geworden, wenn es um irgendetwas im Lande geht.
Es ist nicht vorrangig ein Verlust an Vertrauen in den ANC. Es ist ein Verlust des Vertrauens in die institutionalisierte Politik und deren politische Akteure. Das starke institutionelle Gefüge hat Stabilität gebracht und sich als nützlich erwiesen. Aber es funktioniert nur für einige und nicht für alle. Das zeigt das hohe Maß an Ungleichheit. Bei der dreifachen Herausforderung durch Arbeitslosigkeit, Armut und Ungleichheit hat die ANC-Regierung bei der Reduzierung der Armut vor allem in den ersten zwei Jahrzehnten nach 1994 gute Arbeit geleistet. Beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit schneidet die Regierung schlechter ab. Das zeigt die tatsächliche Arbeitslosenquote von rd. 40 % (offiziell 32 %). Beim Kampf gegen die Ungleichheit hat der ANC absolut schlecht abgeschnitten. Und das führt dazu, dass Südafrikaner_innen in ihren Köpfen zwei Südafrikas haben.
Das eine Südafrika ist solide, robust, entwickelt, findet Anklang in der Welt und hat eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Und in dem anderen Südafrika haben die Menschen keinen Zugang dazu. Sie sind vielmehr auf die Aktivist_innen in den Communities angewiesen, die für ihre Mitmenschen leisten, was eigentlich der Staat leisten müsste. Sie sorgen freiwillig und ohne Bezahlung dafür, dass ihre Mitmenschen zu den Gesundheitszentren kommen oder in Sicherheit und Geborgenheit leben können. Arme leisten also freiwillig Sozialarbeit für Arme, ihre Mitmenschen, die sich die zunehmend privatisierten Dienstleistungen Gesundheit, Polizei, aber auch Bildung und Energie und Wasserversorgung nicht leisten können.
Die Ungleichheit hat zweifellos die größte und schlimmste Auswirkung auf das Leben der Südafrikaner_innen und ihr Vertrauen in die Politik. Die Korruption in den Institutionen verstärkt diese Entwicklung. Es ist erschreckend, dass es die Verantwortlichen im ANC noch nicht einmal mehr schockiert, wenn die öffentliche Daseinsvorsorge nicht funktioniert. Die Nicht-Erbringung von Dienstleistungen ist zur Normalität geworden. Die Verwurzelung der Ungleichheit und die Tatsache, dass das räumliche und sozioökonomische Erbe der Apartheid nach wie vor weitgehend intakt ist, verdeutlicht, dass es dem ANC nicht gelungen ist, sie grundlegend zu überwinden. Mit der Entstehung einer neuen schwarzen politischen Elite, die sich ebenfalls nicht mit den strukturellen Ungleichheiten befasst, muss man wohl feststellen, dass Südafrika die Apartheid als Rechtssystem abgeschafft, aber als sozioökonomisches System beibehalten hat. Das ist das Signal der Wahl 2024, mit geringer Beteiligung und entlang ethnischer/geografischer Linien.
O-Ton: „Das nationale Projekt, oder wie Pallo Jordan es nannte, die nationale Frage, wurde beantwortet. Und die Antwort ist, dass wir uns in der Frage, ob Ethnie noch immer ausschlaggebend dafür ist, wo man im Leben landet, keinen Deut von dem entfernt haben, wo wir zu Zeiten der Apartheid waren. Das haben die Wahlen bewiesen. Deshalb stelle ich die Frage, was gegenwärtig unser nationales Projekt ist, denn ich glaube nicht, dass uns die Frage der Ethnie weiterbringt. Südafrika hat keine Vision für die Zukunft. Wir stecken in alten Paradigmen fest und unsere Institutionen stützen sich auf alte Denkweisen über die Welt.“
Ich will nicht „Make America Great Again“ in den USA als Maßstab oder gutes Beispiel nehmen, aber man kann an dieser Bewegung gut erkennen, dass die Art und Weise, wie sie sich von institutionellem Denken gelöst hat, ihr viel soziale Macht und große Reichweite verschafft hat und das jenseits einer Zuordnung zur Republikanischen Partei. Wir dagegen drohen in unseren modernen bürokratischen Institutionen zu ersticken, und bieten keinen Raum für Visionen, die nach vorn gerichtet sind und die Gesellschaft in Bewegung bringen können – wie im Kampf gegen die Apartheid.
Parteien – nicht nur der ANC und die demokratischen Institutionen insgesamt müssen mit den Veränderungen Schritt halten, sonst fallen sie immer mehr hinter die Bevölkerung zurück, die sich dann mehr und mehr von ihnen abwendet. Kurz, es ist notwendig, die Zivilgesellschaft und die Communities neu zu politisieren und zu motivieren, sich von einer individualistischen und parteizentrierten Politik hin zu einem kollektiveren, basisdemokratischen Engagement zu bewegen.
Die besondere Stärke ist, dass der ANC mit der überwältigenden Mehrheit der in GNU vertretenen Parteien ein stabileres Arrangement geschmiedet hat, als es möglicherweise den Anschein hat. Es ist eine mathematische Koalition, denn auch wenn die Democratic Alliance (DA) sie verlassen sollte, bleiben dem Präsidenten ausreichende Stimmen, um seine Arbeit fortzusetzen. Eine Schwäche ist das kurze Statement of Intent, die Grundlage für die Koalition, die – verfassungsbedingt in der sehr kurzen Zeitspanne von 14 Tagen „zusammengeschustert“ wurde.
O-Ton: „Oh nein, für jemanden, der das miterlebt hat: Auf keinen Fall!“ Die Gefahr ist, dass es unter solch einem Zeitdruck eher um ein Gerangel um Positionen als um verbindliche Absprachen zu Inhalten geht. Und das ist eine große Schwäche: Es fehlt an Intention und Tiefe. Und Cyril Ramaphosa hat es versäumt, in dieser Phase ein wenigstens ansatzweise praktikables Programm zu entwickeln oder zu vereinbaren. Er hat auch die zwei Gelegenheiten der „State of the Nation Address“ zu Beginn seiner zweiten Amtszeit und kürzlich zu Beginn des Parlamentsjahres 2025 dafür nicht genutzt. Die Tatsache, dass der Haushalt nicht rechtzeitig eingebracht werden konnte, zeigt die Schwäche des Präsidenten, die unterschiedlichen Kräfte seiner Koalition zu einer Einigung über die Regierungsarbeit zu bringen. Mein Eindruck verstärkt sich, dass Ramaphosa es bevorzugt, Verantwortung auszulagern und zur Vermeidung von Angriffen auf sein Amt oder ihn selbst so wenig Verantwortung wie möglich zu übernehmen.
Die wichtigste Chance der GNU besteht darin, ihr Momentum zu nutzen und Politikgestaltung durch Koalitionen in Südafrika zum Normalfall zu machen. Südafrika ist an die „Anomalie einer Mehrheitsregierung in einem System der proportionalen Repräsentation“ gewöhnt. Die Südafrikaner_innen haben die Möglichkeiten der demokratischen Mehrheitsbildung daher noch nicht richtig verstanden und finden Koalitionen eher unnormal. Beispiele auf der Ebene der Provinzen und auf der kommunalen Ebene waren bislang auch in der Regel wenig geeignet, für Koalitionen zu werben. Wenn es aber gelingt, mit GNU den Nachweis zu führen, dass eine neue Kultur von Koalitionspolitik zu Ergebnissen führt und breite Akzeptanz findet, dann bietet sich eine gute Chance, dass das Verhältniswahlrecht als Stabilisierungsfaktor für eine widerstandsfähige parlamentarische Demokratie erkannt wird.
Sollte GNU jedoch scheitern bzw. keine Ergebnisse zustande bringen, wird das Zutrauen der Menschen in Koalitionsregierungen schwinden.
Tessa Dooms ist südafrikanische Soziologin, politische Analystin und Aktivistin. Sie ist Gründerin und Programmdirektorin der südafrikanischen Non-Profit-Organisation Rivonia Circle.
Zuvor war sie u.a. Direktorin der Jugend-Organisation „Youth Lab“ sowie Mitglied in der Nationalen Planungskommission Südafrikas. Sie ist eine gefragte Panelistin, Autorin (s. u.a. ihr Buch „Coloured“), Kolumnistin und Rednerin (s. u.a. ihr Ted-Talk zum “Democracy Upgrade”) insbesondere zu Fragen von Demokratie und politischer Teilhabe. Als politische Analystin tritt sie regelmäßig in nationalen Medien auf und ist sehr aktiv und einflussreich in Social Media (z.B. auf X). Seit dem 3. März 2025 moderiert sie die in Südafrika populäre und einflussreiche wochentägliche Frühstücksshow des Radio-Senders „Power 97,8“.
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