Eine starke deutsch-polnische Zusammenarbeit ist stark gefragt. Woran beide Seiten aktuell gemeinsam Arbeiten und welche neuen Ziele sie sich setzen erzählt Dietmar Nietan, Polen-Beauftragter der Bundesregierung, im Interview.
Am 15. Oktober jährt sich der Wahlerfolg der proeuropäischen Koalition unter Donald Tusk. Davor regierte acht Jahre die rechtsautoritäre PiS. In dieser Zeit lag die deutsch polnische Zusammenarbeit auf Eis. Etablierte bilaterale und trilaterale Foren, wie das Weimarer Dreieck zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, fanden nicht statt. Aber auch die deutsche Seite hatte zuletzt nicht zur Stärkung der nachbarschaftlichen Bande beigetragen. Die Einrichtung umfassender Grenzkontrollen an allen deutschen Grenzen wurde nicht nur in Deutschland im Hinblick auf ihre Effektivität und Reproduktion rechtsextremer Narrative diskutiert, sondern in Polen als Untergrabung der europäischen Zusammenarbeit wahrgenommen.
Wie kann aber in Anbetracht der aktuellen gemeinsam zu bewältigenden Herausforderungen sichergestellt werden, dass wir unsere Zusammenarbeit erneut effektiv und zielführend gestalten? Besonders im Hinblick auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa, seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine? Um diese Fragen zu erörtern, hat die Friedrich-Ebert-Stiftung am 30. September 2024 Vertreter_innen aus Zivilgesellschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft zum Progressiven Netzwerk in Warschau eingeladen. Vor Ort war neben dem polnischen Koordinator für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, Krzysztof Ruchniewicz, auch sein deutscher Konterpart und Bundestagsabgeordneter Dietmar Nietan, den wir wir am Rande der Veranstaltung interviewen konnten.
Das Interview mit Dietmar Nietan führte Hannes Weidemüller.
Wo stehen wir momentan bei der deutsch-polnischen Zusammenarbeit? Läuft sie nach dem polnischen Regierungswechsel auf Hochtouren, oder läuft sie gerade erst an?
Sie läuft gerade erst an, weil die jetzige Regierung auf leere Schubladen getroffen ist – alles was die Zusammenarbeit mit Deutschland betraf, wurde von der Vorgängerregierung nicht verfolgt. Wir haben jedoch mit der ersten Regierungskonsultation im Juli einen guten Startschuss gegeben und sind gerade dabei, die Dinge zu konkretisieren.
Welche Projekte haben dabei Priorität und werden zuerst „konkretisiert“?
Wie die Amerikaner sagen, gilt first things first - Und first things first heißt, dass Deutschland und Polen eine besondere Verantwortung haben, den Frieden und die Freiheit in Europa zu verteidigen. Deshalb ist eine engere Zusammenarbeit in Sicherheits- und in Verteidigungsfragen zentral. Ein Kern der Bewährungsprobe der neuen deutsch-polnischen Beziehungen ist allerdings auch, dass Deutschland entsprechend liefert, wenn es darum geht, in Polen und darüber hinaus die Sicherheit Europas zu verteidigen. Außerdem muss die Bundesregierung signalisieren, dass sie ihrer geschichtlichen Verantwortung bewusst ist. Dazu gehört eine schnelle humanitäre Geste für die letzten 60.000 Opfer und Überlebenden der deutschen Verbrechen in Polen. Deutschland muss bei allen Erfolgen der NS-Geschichtsaufarbeitung erkennen, dass die Verbrechen an nicht-jüdischen Polen bisher stiefmütterlich behandelt wurden und sowas wie ein weißer Fleck im kulturellen Gedächtnis vieler Deutscher ist. Es ist wichtig, das Denkmal für die polnischen Opfer und das deutsch-polnische Haus in Berlin schnell zu realisieren, um zu zeigen, dass wir uns trotz vergangenen 80 Jahren mit diesen Themen fortwährend auseinandersetzen. Jüngere Generationen in Deutschland sollen über den Warschauer Aufstand und den Überfall auf Polen sowie die Besatzungszeit von 1939 bis 1945 informiert werden, da diese Ereignisse einzigartig sind und nicht mit anderen Teilen des deutschen Vernichtungskriegs verglichen werden können. Denn Fortschritte in den Bereichen der Sicherheits- und Erinnerungspolitik könnten auch das Vertrauen in die gemeinsamen europäischen Projekte, die Reform der EU-Institutionen und die Zusammenarbeit im Klimaschutz stärken.
Mit welchen Instrumenten sollen diese genannten Punkte angegangen werden?
Die beiden Regierungen agieren ja nicht im luftleeren Raum. Viele Sicherheits- und Verteidigungsfragen kann man im Kontext von EU und NATO klären. Für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen existieren bereits zahlreiche Gremien und Kommissionen sowie zivilgesellschaftliche Akteure. Beispielsweise die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, der Bundesverband der deutsch-polnischen Gesellschaft und das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Es ist nicht nötig das Rad neu zu erfinden. Stattdessen sollten wir an den bestehenden Traditionen und Kooperationen in den Bereichen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft anknüpfen und diese auf eine qualitativ höhere Ebene bringen. Es ist wichtig, dass diese Akteure ihre Schwerpunktsetzung überarbeiten und wir sie mit den erforderlichen Finanzmitteln ausstatten, damit sie die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angehen können. Denn diese unterscheiden sich von jenen, mit denen die enge Zusammenarbeit vor über 30 Jahren begann.
In Aachen wurde 2019 ein neuer deutsch-französischer Freundschaftsvertrag unterzeichnet, der den Elysee-Vertrag ablöste. Könnte nach diesem Vorbild eine Neuauflage des 33 Jahre alten deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags die Zusammenarbeit zusätzlich befeuern?
Da gibt es zwischen meinem polnischen Kollegen und Freund Krzysztof Ruchniewicz und mir durchaus unterschiedliche Meinungen. Ich finde jedoch wir sollten direkt mit der Arbeit an einem neuen Vertrag beginnen. Zwar ist es bis zur Finalisierung ein langer Weg, es wäre aber die Chance, das bereits Erreichte zu evaluieren und die deutsch-polnische Zusammenarbeit auf die aktuellen Herausforderungen auszurichten. Allerdings müssen wir das Rad auch hier nicht neu erfinden, solch ein Vertrag könnte aber das Sahnehäubchen des Neustarts unserer Zusammenarbeit sein und zeigen, dass wir durchaus ambitioniert sind.
Um Foren der Kooperation noch einmal anzusprechen. Das Weimarer Dreieck wurde in letzter Zeit oft für tot erklärt. Wäre es beispielsweise sinnvoll, es durch ein „Frankfurter (Oder) Quadrat“ zu ersetzen und die Ukraine zu integrieren?
Also, ich würde sagen: „Totgesagte leben länger“. Das Weimarer Dreieck kann neue Impulse setzen, aber es ist nicht die Allzweckwaffe zur Lösung aller Probleme in bilateralen, trilateralen Beziehungen oder innerhalb der EU. Es kann jedoch an entscheidenden Stellen hilfreich sein, wenn neue Impulse aus dem Weimarer Dreieck – also von Frankreich, Polen und Deutschland – gemeinsam kommen. Die Ausweitung zu einem Quadrat würde ich sehr begrüßen, weil das Weimarer Dreieck sich als gut geeignet erwiesen hat, um Polen bei seinem Weg in die EU zu unterstützen. Nun könnte es als Vorbild für die Ukraine dienen. Das wäre eine spannende Aufgabe. Aber noch einmal: Man sollte das Weimarer Dreieck nicht abschreiben oder als tot erklären. Gleichzeitig muss man sich jedoch seiner Grenzen bewusst sein.
Nach dem polnischen Regierungswechsel kann man also vorsichtig sagen: Es lebe die deutsch-polnische Zusammenarbeit! Jetzt müssen aber auch dementsprechend von der deutschen Seite öffentlichkeitswirksam Taten folgen, um nicht nur der neuen proeuropäischen Koalition, sondern auch der polnischen Öffentlichkeit zu zeigen: Es ist uns ernst. Grenzkontrollen wirken da kontraproduktiv. Eine Neuauflage des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags könnte dabei nicht nur eine geeignete Maßnahme sein, um einen Neubeginn der bilateralen Beziehungen nach außen zu vermitteln, sondern die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern zu evaluieren und an neue Herausforderungen anzupassen. Es ist aber ebenso erforderlich die schon gesteckten Ziele umzusetzen. Denn bei all der Freude um die wiederaufgenommene Zusammenarbeit sollte man sich durchaus bewusst sein, dass die deutsch-polnischen Beziehungen tiefgreifende und komplexe Problembereiche und Verbesserungsmöglichkeiten aufweisen, die es entschlossen anzugehen gilt.
Über den Autor
Hannes Weidemüller hat im Rahmen seines Masterstudiums Zeitgeschichte und Medien an der Universität Wien ein 2 1/2-monatiges Praktikum im FES-Auslandsbüro in Warschau absolviert. Sein Studium fokussiert sich auf das "Narrative-Building" sowie die Geschichte der deutschen und europäischen Sozialdemokratie.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.