Es gibt nur einen Weg Europas aus der Krise: It's the solidarity, stupid!

Angesichts der Herausforderungen durch die Corona-Pandemie kann »mehr Europa« eine Chance sein: indem eine Solidarität zwischen den Staaten und ihren Menschen tatsächlich entsteht und insbesondere erlebt wird.

Autor_innen: Ulrike Hiller, Axel Schäfer, Babette Winter

Seit den ersten Gründungsakten der Europäischen Union vor 70 Jahren am 9. Mai 1950 (Schuman-Plan) und der daraus folgenden Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gab es keine globale Krisensituation, die vergleichbar wäre mit der jetzigen im Zuge der Corona-Pandemie. Es gab viele Herausforderungen und Konflikte, doch diese komplexe Bedrohung binnen kürzester Zeit für die gesamte Weltbevölkerung ist in jeder Hinsicht bisher einmalig. Nun wird sich zeigen, welche politische Struktur am handlungsfähigsten ist und ob die Europäische Union als Staatenverbund daraus eine neue solidarische Kraft ziehen wird!

Schon häufig ist es der EU gelungen, aus Krisen gestärkt hervorzugehen, mit vertiefter Zusammenarbeit – obwohl ihr naher Untergang prophezeit wurde. Auch jetzt kann »mehr Europa« eine Chance sein, indem eine Solidarität zwischen den Staaten und ihren Menschen tatsächlich entsteht und erlebt wird. Autokratische und nationalistische Strömungen könnten dadurch verlieren. Nach aller Dramatik am Anfang der Pandemie beginnen jetzt sowohl wichtige Schritte in eine »neue Normalität« als auch der Kampf um den richtigen Umgang mit den wirtschaftlichen, sozialen und fiskalischen Folgen in der EU. Der Ausbruch der Corona-Infektionen bewegte die Staaten Europas binnen weniger Wochen, ja Tage, zu nationalstaatlichen Maßnahmen ohne nennenswerte oder sichtbare Abstimmung mit den europäischen Nachbarn. Gemeinsames solidarisches Handeln und ein gemeinsames Krisenmanagement auf EU-Ebene waren – zumindest öffentlich – nicht erkennbar. Grenzen wurden geschlossen – was getrost als Menetekel aufgefasst werden darf, ist doch der Schengen-Raum, die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger ohne Grenzkontrollen, eine der Errungenschaften der Europäischen Union! Es stellt sich die Frage, ob wir nur mit einer dünnen Firniss der in vielen Europareden so gepriesenen Gemeinschaft leben. Es besteht die Gefahr, dass das europäische Einigungswerk, basierend auf einer Werte- und Rechtsgemeinschaft im transnationalen Verbund, nachhaltigen Schaden nimmt durch mangelnde Zusammenarbeit, Wiederaufflammen von (Vor-)Urteilen und Misstrauen unter den europäischen Nachbarn und durch den Primat des nationalstaatlichen Handelns. Und dies vor dem Hintergrund, dass die vorherigen Erschütterungen in der EU, die Finanzkrise und die Migrationsfrage bis heute nicht final gelöst und überwunden sind.

Wieder einmal wird die europäische Solidarität auf der einen Seite verbal eingefordert, auf der anderen Seite wenig gelebt oder zumindest für die Öffentlichkeit nicht sichtbar. »Der Zorn vieler Europäer richtet sich (…) gegen einen Mangel an politischer Führung«, so Henrik Enderlein am 14. April 2020 im Spiegel. Dagegen steht jedoch die Aussage eines Insiders: Wolfgang Schmidt, Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, berichtet in einem Hamburger Podcast über die frühzeitig einsetzende interne Zusammenarbeit auch bei den Euro-Ländern. Hier zeigt sich eines der Probleme: die Diskrepanz zwischen der internen Zusammenarbeit von Behörden und Ministerien in der EU und wie dies öffentlich kommuniziert wird.

Auch war in der ersten Phase der Pandemie, des sogenannten »Hammers«, wie sie Tomas Pueyo, ein ehemaliger Berater aus dem Silicon Valley, in einem Blog-Beitrag vom 19. März benennt, überall in der EU unter der Bevölkerung lokal und regional eine große Solidarität und Gleichheit spürbar, da alle gleichzeitig von harten Maßnahmen betroffen waren. Die längerfristigen Auswirkungen zeigten individuell wie auch national große Ungleichheiten in Wohn-, Arbeits- und familiärer Situation, besonders deutlich wurde aber auch die ungleiche Situation des Gesundheitswesens in den verschiedenen EU-Staaten. Ja, Gesundheitsschutz ist in der EU in erster Linie nationale Zuständigkeit. Die Europäischen Verträge geben da bislang nur sehr wenige Handlungsoptionen für die Institutionen der EU.

Koordinierung und gemeinsames Handeln erforderlich

Fakt ist, dass jede Tierseuche mehr Koordinierung in der EU in Gang setzt als eine Pandemie, die die Menschen erreicht. Auch wenn sich die Analogie in einigen Teilen verbietet, sei doch der Hinweis erlaubt, dass erst durch die Rinderseuche BSE eine umfassende Europäisierung der Tierseuchenbekämpfung stattfand. Die Ergebnisse sind: ein besserer Verbraucherschutz und weniger Tierseuchen bei weiterhin nationaler Zuständigkeit im Vollzug.

Im Bereich des Katastrophenschutzes wird seit einiger Zeit ein EU-weiter Pool an Hilfskräften und technischem Gerät diskutiert und vorbereitet. Unter Beibehaltung der nationalen Zuständigkeit sollen so schnelle Hilfen zwischen den Mitgliedstaaten ermöglicht werden. Können diese beiden Beispiele auch für den Umgang mit Pandemien in der EU in die Zukunft weisen?

Neben dem praktischen Effekt von z. B. technischer Hilfe bietet dies auch die Chance, dass die Menschen in Europa praktische Solidarität grenzüberschreitend erleben. Beispielsweise durch deutsches medizinisches Personal in Italien oder spanische Feuerwehrleute mit Löschflugzeugen bei der Bekämpfung von Waldbränden in Brandenburg entstünde ein Sinnbild für echtes Zusammenstehen in Europa und dies würde von den Menschen intensiver wahrgenommen als jede politische Solidaritätsadresse. Die EU als Gemeinschaft lebt nur, wenn sie auch von den Menschen erfahren wird. Zukünftig muss – auch in Pandemielagen – grenzüberschreitend gedacht, geplant und gearbeitet werden!

Noch mehr gilt dies bezüglich der wirtschaftlichen Folgen. Nach allen bisherigen Prognosen wird der Lockdown einen in Nachkriegszeiten nie dagewesenen wirtschaftlichen Einbruch mit Arbeitsplatzverlusten, Steuerausfällen und Firmeninsolvenzen zur Folge haben. Die Frühjahrsprognose 2020 der Europäischen Kommission erwartet eine Rezession von durchschnittlich 7,5 % in diesem Jahr.

Wenn es Konsens ist, dass der gemeinsame Binnenmarkt als gemeinsamer Wirtschaftsraum das Rückgrat der EU ist, dann müssen in der Folge auch transnationale, europäische Hilfen für die am stärksten betroffenen Staaten fließen. In einem ersten Schritt ist es den Finanzministern im Rat (ECOFIN) gelungen, ein nie dagewesenes Hilfspaket in Höhe von 500 Milliarden Euro zu schnüren. Es ist jedoch erkennbar, dass in der medialen und politischen Rhetorik die Umverteilung von Mitteln in der EU vom Stärkeren zu den Schwächeren und insbesondere »Corona-Bonds« als »Vergemeinschaftung von Schulden« verunglimpft werden. Hingegen stellt man den Wert, den eine Stabilisierung von stark gebeutelten Staaten innerhalb der Währungsunion und des Binnenmarktes für die Exportnation Deutschland bringt, hintan.

Das Signal Deutschlands ist entscheidend. Wir sollten es klar formulieren: Es wird nicht ohne Transfers gehen. Stabilität und die Chance auf gleiche Lebensverhältnisse, auf ein Miteinander auf Augenhöhe in der EU sind das Ziel und damit im Wortsinne Geld wert. Die EU-Politik und die nationale Politik müssen dies klar und überzeugend an die Menschen im Land kommunizieren.

Noch einen Blick über die europäischen Grenzen und ein Argument für eine globale, internationale Solidarität: Die Geberkonferenz war global ein wichtiges Zeichen. Bezeichnend war jedoch auch, dass sich die USA und Russland nicht daran beteiligt haben. Die Entwicklungsorganisation ONE warnte vor den Folgen, die eine weltweit zeitversetzte Einführung eines Covid-19-Impfstoffs hätte. »Leider haben Entwicklungsländer in der Regel erst sieben Jahre später Zugang zu neu entwickelten Impfstoffen und Medikamenten«, erklärte Deutschland-Direktor Stephan Exo-Kreischer. Das würde eine effektive Bekämpfung der Covid-19-Pandemie unmöglich machen. Deutschland solle einem »Patentpool« beitreten und andere Staaten dazu auffordern, dies auch zu tun. Dieser Pool würde es ermöglichen, große Mengen von Covid-19-Medikamenten und -Impfstoffen zu einem erschwinglichen Preis herzustellen. Die Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international e.V. äußerte sich ähnlich.

Die wirtschaftlichen – und damit auch sozialen – Folgen der Pandemie sind in Umfang und Schärfe noch nicht kalkulierbar. Europa kann, Europa muss jetzt gemeinsam die Folgen bewältigen. Jetzt beginnt »das große Hauen und Stechen, der harte Clash der Individualinteressen« wie Albrecht von Lucke am 24. April im Freitag prognostizierte. Jetzt wird sich nicht nur im deutschen Föderalismus, sondern auch in Europa zeigen, wie solidarisch und koordiniert wir die Auswirkungen bewältigen! Und auch, wie die EU auf die Tatsache reagiert, dass einzelne Mitgliedstaaten sogar diese Krisensituation nutzten, um demokratische Grundlagen stärker auszuhöhlen und den »Notstand« für ihre autokratischen Individualinteressen zu missbrauchen.

Der EU, insbesondere in Form ihrer Institutionen (Kommission, Rat und Parlament) muss es jetzt gelingen, echtes gemeinsames Handeln den Bürgern sichtbar zu machen – bei der Bewältigung der Pandemie und ihrer Folgen ebenso wie bei der weiterhin ungelösten Migrationsfrage. Sonst bleiben bestenfalls die Akzeptanz und Zustimmung zum Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten. Nationalstaatliches Denken und Handeln in diesen Wochen bergen die Gefahr, dass die Zustimmung der Menschen zu eben dieser EU deutlich absackt. Erste Umfragen scheinen das zu bestätigen.

Das Europa der Solidarität, der gleichen Lebenschancen, des Miteinanders auf Augenhöhe gehört zur sozialdemokratischen DNA. Der Koalitionspartner SPD legte im Europakapitel des Koalitionsvertrags die Grundsätze deutscher EU-Politik maßgeblich fest. Olaf Scholz hat zuletzt einen eindeutigen sozialdemokratischen Kurs für die EU als Weg aus der »größten Bewährungsprobe ihrer Geschichte« formuliert. Dabei gehe es sowohl um Finanzhilfen, aber auch um das Momentum der Krise, das es in gemeinsamen Fortschritt umzuwandeln gilt. Im Bundestag betonte er am 14. Mai, »es (ist) notwendig, dass wir europäische Solidarität praktizieren und auf den Weg bringen«.

Der deutsche Finanzminister hat maßgeblichen Anteil an der Gestaltung des deutsch-französischen Vorschlags über Haushaltsmaßnahmen mit einem Volumen von 500 Milliarden Euro. Diese sollen in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen an die Mitgliedstaaten fließen. Die Mittel sind ausschließlich zur Abfederung der ökonomischen Folgen der Corona-Krise zu verwenden. Das deutsch-französische Modell wäre ein europapolitischer Paradigmenwechsel, da erstmals die Verschuldung der EU über den gemeinsamen Haushalt vorgesehen wird.

Der jetzt als »Merkel-Macron-Initiative« diskutierte Weg trägt die lange vermisste sozialdemokratische Handschrift und wird entscheidend sein für die Verständigung auf ein gesamteuropäisches Vorgehen. Darüber hinaus hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen eigenen Plan für die Stabilisierung in und nach der Corona-Pandemie vorgelegt, der mit seiner Höhe von 750 Milliarden Euro die zuvor unterbreitete deutsch-französische Initiative deutlich übersteigt. Mit diesem Wiederaufbaufonds »Next Generation EU« würde der gesamteuropäische Haushalt das Volumen verdoppeln: statt 1 % beliefe es sich auf 2 %. Dies wäre ein enormer Sprung in der europäischen Einigung und enthielte eine Marge, die in den jahrzehntelangen Haushaltsverhandlungen zwischen Europäischem Parlament und Rat noch unvorstellbar schien. Die Verwendung der Mittel müsste an Kriterien der Nachhaltigkeit – ökonomisch, ökologisch und sozial – gebunden sein. Denn die anderen Herausforderungen der Zukunft schlafen nicht.

Die Reaktionen der sogenannten »sparsamen Vier« zeigen, wie wichtig das Bekenntnis zu Solidarität in Europa als Gemeinschaft – jetzt mehr denn je – ist. Die Kritik aus Österreich (schwarz-grün regiert), Schweden (rot-grün), Niederlande (schwarz-gelb) und Dänemark (rote Minderheitsregierung) erstreckt sich über Länder- und Parteiengrenzen hinweg. Dies ist Chance und Herausforderung zugleich. Wir stehen an einer entscheidenden Weiche, die wir für die gemeinsame europäische Zukunft stellen müssen.

Für die deutsche Ratspräsidentschaft im 2. Halbjahr 2020 bedeuten nundie Corona-Pandemie und ihre Folgen eine wahrhaftige Herkulesaufgabe. Wenn wir es richtig, und das heißt progressiv, pro-europäisch anfassen, kann diese Herausforderung zur Chance für Europa gewendet werden. Ein Aufruf von Gerhard Schröder und vier weiteren ehemaligen SPD-Spitzenpolitikern vom 22. April im Handelsblatt bringt es auf den Punkt: »Deutschland hat politisch und wirtschaftlich unglaublich durch die Einigung Europas gewonnen. Es muss jetzt vor allem seinen Beitrag zur Überwindung dieser schweren Krise leisten. Jetzt ist die Zeit für uneingeschränkte europäische Solidarität«.

Oft ist die EU aus Krisen gestärkt hervorgegangen. Neue, gemeinsame Wege wurden nach zähem Ringen gefunden. Klar ist, Solidarität ist eine Investition – in die Stabilität von Gesellschaft und Wirtschaft und damit eine friedenssichernde Maßnahme. Nicht weniger als das. Robert Schuman sagte vor 70 Jahren in seiner »Europa-Rede« am 9. Mai 1950 Folgendes: »Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.«

Der Artikel ist Zuerst in der Neuen Gesellschaft Frankfurter Hefter erschienen: https://www.frankfurter-hefte.de/

Die aktuelle Ausgabe ist hier einsehbar.

 


Ansprechpartnerin

Marie Meier

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Marie.Meier(at)fes.de

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