Landesbüro Nordrhein-Westfalen

Mittwoch, 06.04.22 18:00 - Online

Nachbericht: Krieg in der Ukraine – Krieg in Europa


Terminexport im ICS-Format

Die Folgen von Putins Überfall: „Alles wird sich fundamental verändern“

Wladimir Putins Befehl zu Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Europa und die Welt in die dramatischste und tiefgreifendste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs vor mehr als 75 Jahren gestürzt. Seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der russischen Armee in den Nachbarstaat Ende Februar scheint mit jedem weiteren Tag immer weniger noch so bleiben oder wieder so werden zu können wie vorher.

Schnell vollzog die Bundesregierung unter Bundeskanzler Olaf Scholz bereits eine historische Kehrtwende für Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik. Auch dadurch hat der gesamte Westen mit den USA an der Spitze die Ukraine seit Ausbruch des Krieges mit Waffen- und Hilfslieferungen für den aufopferungsvollen und bewundernswerten Kampf ihrer Bürger_innen gegen die verbrecherischen Invasoren unterstützt.

Immer mehr Bilder und Berichte über mutmaßliche Gräueltaten der russischen Soldaten in ukrainischen Städten nicht zuletzt gegen Zivilisten erschüttern dennoch die Weltöffentlichkeit und hinterlassen neben den Opfern auch die internationale Gemeinschaft nahezu in Ohnmacht. Entsprechend sind auch politische und wirtschaftliche Folgen dieses verbrecherischen Krieges, den außerhalb Russlands selbst noch wenige Tage vorher kaum jemand für möglich gehalten hatte, noch längst nicht in allen Facetten absehbar.

Weniger als zwei Monate nach Kriegsbeginn erörterten Angehörige der Bundesregierung sowie Insider in der Online-Diskussion „Krieg in der Ukraine – Krieg in Europa“ die gefährliche Situation nur rund zwei Flugstunden von der deutschen Hauptstadt Berlin entfernt. „Wir sehen täglich apokalyptische Bilder aus diesem brutalen und sinnlosen Krieg. Es geht bei diesem Meinungsaustausch um die Einordnung von Gedanken sowie Geschehnissen und um neue Erkenntnisse auch über die Bedeutung des Krieges für Deutschlands künftige Verteidigungs- und Sicherheitspolitik“, beschrieb Sohel Ahmed vom gastgebenden Landesbüros NRW der Friedrich-Ebert-Stiftung in seinem Begrüßungsworte die Intentionen der Veranstaltung.

Der nachfolgende Meinungsaustausch zwischen Siemtje Möller MdB, Parlamentarischer Staatssekretärin im Bundesverteidigungsministerium, sowie Russland-Kennerin Sarah Pagung von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Marcel Röthig, dem Landesvertreter der FES in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, beleuchtete den historischen Konflikt denn auch aus verschiedenen Perspektiven. Die Debatte unter Leitung von Moderatorin Vivien Leue fächerte unterschiedliche Probleme auf und machte dadurch nur noch deutlicher, dass in dieser beispiellosen Situation einfache Antworten gar nicht möglich sind.

Beispielhaft dafür schilderte Röthig inzwischen vorrangig virtuelle Kontakten zur einheimischen Bevölkerung und ukrainischen Mitarbeiter_innen an seinem Dienstsitz. Aufgrund von „Berichten über von Flucht, Vertreibung, Bombennächten, Raketenalarmen und Beschuss“ vermittelte Röthig einen Eindruck davon, dass „unter der Emotionalität des Augenblicks nur schwer rational zu erklären ist, dass es den Dritten Weltkrieg bedeuten würde, wenn der Westen Forderungen etwa nach Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine nachkommen würde“. Das Dilemma ist laut dem FES-Vertreter  in der Ukraine auch deshalb nur  schwer erträglich, weil nach der Entdeckung der Massaker in Ortschaften wie Butscha oder Irpin von Anfang April „alle das dumpfe Gefühl haben, dass dies nur die Spitze des Eisberges ist und die Dimensionen des Grauens in Städten wie Mariupol noch größer sein dürften“.

Die von Röthig geschilderte Diskrepanz zwischen dem von der Ukraine erwarteten und dem tatsächlichen Umfang von Unterstützungsmaßnahmen thematisierte Möller aus Regierungssicht. „Auch wenn es nicht genug ist, wird in erheblichem Maße etwas getan. Unser Hauptaugenmerk ist darauf gerichtet, dass Hilfe effektiv ist, und die Verläufe der Kämpfe zeigen auch, dass das ukrainische Militär auch durch unsere Panzerabwehrwaffen widerstandsfähiger geworden ist“, entgegnete die SPD-Politikerin dem kurz vor Ostern wachsenden Druck zur generellen Ausweitung von deutschen Hilfsleistungen. Röthig warnte in diesem Zusammenhang vor verfrühten Urteilen: „Bedeutung und grundsätzlicher Wert der deutschen Hilfe werden sich realistisch erst nach Ende des Krieges bewerten lassen.“

Möller stimmte die Teilnehmer_innen auch auf einen länger anhaltenden Kriegszustand ein. „Der Krieg wird nicht irgendwann demnächst zu Ende sein“, beschrieb die 38-Jährige die Erwartungen im Regierungslager und zog entsprechend nahe liegende Schlussfolgerungen: „Es wird in absehbarer Zeit keinen Rückkehr zum Status ante geben.“

Die Wiederherstellung des Zustands der Weltordnung vor dem 24. Februar sei durch den kompletten Verlust des Vertrauens in den russischen Präsidenten Putin unvorstellbar, erklärte Möller weiter: „Putin ist ja kein verlässlicher Verhandlungspartner. Alles, was er zugesagt hat, war entweder gelogen oder hat er gebrochen.“

Die Ursachen für die krasse Fehleinschätzung der Person Putin in praktisch der gesamten westlichen Welt analysierte Pagung: „Es gab zwei Gruppen. Einerseits Personen, die ihre Augen vor der Realität des russischen Regimes und trotz aller offenkundigen Warnsignale so sehr auf Kooperation gesetzt haben, dass man sich schon fragen muss, warum ein wesentlicher Teil der Bevölkerung und der Politiker das nicht wahrhaben wollte, und andererseits auch die Experten, die für Russland die Rationalität und wirtschaftliche Aspekte falsch eingeschätzt haben, auch wenn sie wie das Kaninchen vor der Schlange gesessen haben und warteten, was Russland jetzt macht. Vor allem aber wurden die russischen Denkgebäude mit ihrer Ermächtigungsidee und Großmachtvorstellungen in ihrer gesamten Erklärungs- und Ausschlagskraft vollkommen unterschätzt.“

Umso größere Bedeutung maß das virtuelle Podium der konsequenten Verhängung und Durchsetzung von Sanktionen gegen Russland zur spürbaren Unterstützung der Ukraine zu. „Da sind wir“, betonte Pagung, „noch lange nicht am Ende der Fahnenstange.“ Sowohl mit Hinweis auf Optionen auf einen nach Butscha noch intensiver diskutierten Importstopp von Öl und Gas aus Russland als auch die Beseitigung von Ausnahmen bei den Finanzaktionen rief Pagung aber Deutschlands Selbstverständnis in Erinnerung: „Wenn wir unsere Führungsrolle in Europa ernst nehmen, müssen wir bereit sein, einen Preis zu zahlen, weil Führung nicht immer nur Absahnen bedeuten kann, sondern eben auch die Übernahme von Kosten, die wir uns zu ersparen gedacht hatten.“

Möller kam an der Stelle jedoch auch auf die Auswirkungen von radikalen Sanktionen auf die deutsche Bevölkerung zu sprechen. „Die bisherige Weltordnung, das Wirtschaftssystem, die internationalen Organisationen, die diplomatischen Beziehungen – alles wird sich fundamental verändern, diese Veränderungen auf der ganzen Welt sind die schon viel zitierte Zeitenwende. Aber es gibt keinen Zauber oder Allheilmittel dagegen. Es wird nicht auf einmal einfach alles aufhören und alles wieder gut werden, nicht in der Ukraine und nicht mit Russland, und deswegen müssen wir es zusammen aushalten, wobei das etwas ganz anderes ist als das, was die Menschen in der Ukraine auszuhalten haben. Wir müssen aber jetzt schon überlegen, wie wir das für diejenigen, denen es schon jetzt nicht gut geht, erträglich gestalten. Das ist auch die Aufgabe von Politik“, sagte die enge Mitarbeiterin von Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht.

Pagung wehrte sich trotz ihrer prinzipiellen Zustimmung für Möllers Position vor zu viel Pessimismus: „Niemand erwartet einen Kollaps der Wirtschaft oder Massenarbeitslosigkeit. Es kann heftig werden, aber nicht so, dass das Land zusammenbrechen würde. Etwas ruhigere Debatten über die unterschiedlichen Sanktionsszenarien wären hilfreicher auch für die Ukraine, als mit Parolen Ängste zu schüren.“

Erklärtermaßen keine ernsthafte Hoffnung auf ein zeitnahes Ende des Krieges hatte keiner der drei Expert_innen. Möller sah hinsichtlich eines Umsturzes in Russland im „System Putin“ nicht einmal im Ansatz Schwächen, „weil das System knallhart durchgreift“. Für Pagung rücken die für einen Regimewechsel Eliten in Russland aufgrund der Krise „bis auf Weiteres“ zunächst noch näher an den Putin-Apparat heran, weil „Putin weiter der zentrale Verteiler auch von geringer werdenden Ressourcen bleibt“. In der Ukraine wiederum, berichtete Röthig, „halten die meisten die bisherigen Gespräche über einen Waffenstillstand nur für eine Simulation und ein Zeitspiel der Russen.“

Röthig wollte gleichwohl einen Sinneswandel in Russlands Führung nach der Fehleinschätzung bei Kriegsbeginn nicht völlig ausschließen: „Die Ukraine ist emotional für Russland nicht zu kontrollieren, und daher ist eine wichtige Frage, ob Russland sich in einen Partisanenkampf stürzen will oder nicht doch besser eine gesichtswahrende Lösung sucht.“

Lösungen für eine plötzlich vollkommen surreale Lebenswirklichkeit benötigen auch die ukrainischen Flüchtlinge. „Viele“, schilderte Röthig die Situation vor allem von Frauen und Kindern in Deutschland, „erleben in diesen Wochen viel Solidarität, haben aber im Hinterkopf, dass sie schon bald wieder in ihre Heimat zurückkehren könnten, und zögern deswegen oft noch sehr, mit dem Aufbau eines neuen Lebens zu beginnen. Es fällt ihnen allen schwer zu begreifen, dass ihre Männer und Väter womöglich nicht nachkommen und sie nicht zurück können. Die Frage nach ihrer Zukunft muss die Zeit beantworten.“

Dietmar Kramer, Journalist

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Krieg in der Ukraine - Krieg in Europa

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Termin

Mittwoch, 06.04.22
18:00-19:00 Uhr

Teilnahmepauschale
keine

Veranstaltungsort

+++Online+++

Ansprechpartner_in

Sohel Ahmed

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Godesberger Allee 149
53175 Bonn
Tel. 0228-883-7202, Fax 0228-883-9208


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