Rückblick Interview WIE GEHT GEMEINSCHAFTSSCHULE? 24.04.2018 Do, 26.04.2018, 18.30 Uhr ANNE-FRANK-SCHULE KARLSRUHE Mehr als fünf Jahre nach dem Start der Gemeinschaftsschulen (GMS) in Baden-Württemberg ziehen Friedrich-Ebert-Stiftung und GEW Bilanz. Bei einer Veranstaltungsreihe an verschiedenen Standorten diskutieren Lehrer, Eltern, Schüler und Gewerkschaftsvertreter über das pädagogische Konzept der GMS, ihre Anerkennung in der Öffentlichkeit und die Herausforderungen der nächsten Jahre – zuletzt an der Anne-Frank-Schule in Karlsruhe. Rund 300 Gemeinschaftsschulen (GMS) haben sich in den vergangenen fünf Jahren gegründet. Viele sind mittlerweile in der regionalen Bildungslandschaft gut etabliert. An manchen Standorten stagnieren jedoch die Anmeldezahlen oder gehen sogar zurück. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) bilanzierte Mitte März in Stuttgart, die bisherigen Erfahrungen mit der neuen Schulart seien „im Ganzen gesehen“ gut: „Letztlich entscheiden die Eltern, wo sie ihre Kinder hinschicken.“ Nicht nur für Kretschmann, auch für die Behörden vor Ort ist die Anmeldezahl meist das wichtigste Kriterium für Erfolg oder Misserfolg einer GMS. Der Leiter der Anne-Frank-Gemeinschaftsschule in Karlsruhe, Johann Schwarz-Hemmerling, stellte diese Definition jedoch als zu einseitig in Frage: „Wann ist eine Schule wirklich erfolgreich?“, fragte er bei der Veranstaltung „Wie geht Gemeinschaftsschule?“ Ende April im Karlsruher Stadtteil Oberreut: „Wenn sich viele Schüler anmelden? Wenn ihre Noten besonders gut sind?“ Für ihn persönlich sei genauso wichtig, dass Schülerinnern und Schüler gern zur Schule gingen und die Schule ihnen Perspektiven aufzeige , sagte Schwarz-Hemmerling. Für die Gemeinschaftsschule in Oberreut, die sich aus einer Werkrealschule heraus entwickelte, steht das selbständige Lernen im Vordergrund. „Alle Kinder wollen lernen. Aber viele haben die Erfahrung gemacht, dass sie ausgebremst werden“, berichtete Susanne Posselt, Lehrerin an der Anne-Frank-Schule. Sie selbst habe sich ganz bewusst für die Arbeit an der Gemeinschaftsschule entschieden: „Wir haben den Blick auf jeden einzelnen Schüler und sehen seine individuellen Entwicklungsmöglichkeiten.“ Die Anne-Frank-Schule liegt in einem Stadtteil, der als sozialer Brennpunkt gilt. Auch deshalb begreifen Lehrerinnen und Lehrer das gemeinsame und inklusive Lernen in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext. „Wir leben in einer Gesellschaft, die gefühlt immer weiter auseinanderdriftet. Die GMS ist eine Schulform, die auf diese Veränderung erfolgreich eine Antwort geben kann“, sagte Schulleiter Schwarz-Hemmerling –„gerade in einem Stadtteil, in dem die AfD bei den Wahlen 30 Prozent erhalten hat“. Veronika Pepper, Vorsitzende des Gesamtelternbeirats Karlsruhe, hat die Entwicklung der insgesamt vier staatlichen Gemeinschaftsschulen in der Stadt von Anfang an begleitet. Bei der Schulwahl für ihre Tochter hätten sie die individuelle Förderung, der Fokus der Gemeinschaftsschulen auf soziale Kompetenz, der Ganztag und das fest etablierte Coaching überzeugt, sagte sie bei der Podiumsrunde: „Kinder müssen lernen, sich Dinge zuzutrauen. Die Coaching-Gespräche unterstützen das. Jeder Schüler bekommt regelmäßig eine individuelle Rückmeldung.“ Die GEW-Landesvorsitzende Doro Moritz forderte mehr Ressourcen für die Gemeinschaftsschulen im Land. „Keine Schulart hat so umfassende Aufgaben wie die GMS. Deshalb müssen sie auch besonders gut ausgestattet werden.“ Moritz sprach außerdem die gymnasiale Oberstufe für die Gemeinschaftsschulen an. Bisher sind die GMS in Tübingen und Konstanz die einzigen mit eigener Oberstufe. In Karlsruhe soll es eine Oberstufe für alle vier GMS geben. An welchen Standort sie angegliedert wird, ist noch nicht entschieden. Klar sei aber schon jetzt, sagte Doro Moritz, dass die eigene Oberstufe entscheidend sei für die Akzeptanz der Gemeinschaftsschulen, nicht nur in Karlsruhe, sondern überall: „Eltern, deren Kindern Abitur machen sollen, werden sie nur dann auf eine GMS schicken, wenn sie eine Oberstufe hat.“ Patrick Jakob von der Handwerkskammer Karlsruhe bewertete das anders. „Der eigene Weg zum Abitur sei keine notwendige Voraussetzung für die GMS“, sagte Jakob. Aber auch er sehe, dass die Oberstufe für Eltern ein wichtiges Entscheidungskriterium sei. Die Handwerkskammer kooperiert seit einigen Jahren mit den Gemeinschaftsschulen. Die Betriebe lernen die Schülerinnen und Schüler bei Praktika kennen. Demnächst startet der Handwerkstag Baden-Württemberg eine Evaluation der GMS. Aber schon jetzt sei klar, was die Betriebe an GMS-Schülern schätzten, sagte Jakob: „Sie sind sehr eigenständig, und die Gemeinschaftsschule bieten eine gute Berufsorientierung.“ Das selbstständige Lernen scheinen auch die Schülerinnen und Schuler der Anne-Frank-Schule als besonders positiv zu erleben. Dabei helfe das Coaching durch die Lehrer, sagte etwa Sergiusz Zajac: „In den Einzelgesprächen vereinbart man Ziele, und der Lehrer kann sehr individuell auf die Schüler eingehen.“ Das sei eine gute Vorbereitung auf das Leben nach der Schule, sagte seine Mitschülerin Jaqueline Schönthal: „Später im Beruf ist es wichtig, selbständig zu arbeiten. Genau das lernen wir hier.“ Katja Irle Freie Bildungs- und Wissenschaftsjournalistin