Die SPD war bis 1914 die zentrale kolonialkritische Kraft. Doch der Beginn der kolonialen Expansion des deutschen Kaiserreichs 1884 löste auch in der deutschen Sozialdemokratie konfliktreiche Positionsbestimmungen aus.
Der westliche Zugriff auf die außereuropäische Welt intensivierte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich: Der Aktionsraum wurde größer, die Herrschafts- und Unterwerfungsmittel erweiterten sich und die Zahl der Kolonialmächte stieg an. Als die Vertreter*innen der europäischen Mächte und der USA am letzten Tag der Berliner Konferenz (15.11.1884 – 26.02.1885) ihre Unterschriften unter die sogenannte Kongo-Akte setzen, kam die Epoche informeller Durchdringung an ihr Ende und eine stärker formalisierte europäische Kolonialherrschaft wurde nun zur Regel. Damit endete auch Bismarcks kolonialpolitische Zurückhaltung. Dieser hatte noch 1883 die Forderungen nach Kolonien zurückgewiesen. Obschon die Gründe für diesen plötzlichen Kurswechsel vielfältig gewesen sein mochten, stand er in Einklang mit der kolonialbegeisterten Bewegung, die sich seit den 1870er-Jahren um Nationalliberale, Adlige, Missionare und Kaufleute bildete. Insbesondere im Streben nach einer „lebensfähigen großen Nation“ stießen die Forderungen nach deutschen Kolonien auf fruchtbaren Boden. Doch beschränkte sich die Unterstützung der deutschen Kolonialherrschaft keinesfalls auf den Kreis der deutschen Nationalbewegung.
Auch in der deutschen Sozialdemokratie vollzog sich mit Beginn der kolonialen Welterschließung eine konfliktreiche Verhältnisbestimmung zwischen der postulierten Vaterlandslosigkeit des Proletariats und der Identifizierung mit dem Nationalstaat. Dass sich hier ein Kreis aus Unterstützer*innen bildete, mag zunächst wundern, kamen doch am 100. Jahrestag des Sturms auf die Bastille, am 14. Juli 1889, Delegierte aus 20 Ländern in Paris zusammen, um die Sozialistische Internationale zu begründen und das Proletariat jenseits der nationalen Differenz im Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung zu vereinen. So beschäftigte sich der 5. Internationale Sozialistenkongress in Paris (1900) erstmals intensiv mit der Frage des Kolonialismus. In seiner Abschlusserklärung forderten die Teilnehmer*innen, „daß das organisierte Proletariat alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel anwendet, um die kapitalistische Kolonialbesitzausdehnung zu bekämpfen“. Die SPD, die insbesondere vor 1914 ein breites Meinungsspektrum beherbergte, bestätigte durch die jährlichen Parteitage diese antikoloniale Position für die nationale Ebene. Ganz im Zeichen ihrer kapitalismuskritischen Haltung kritisierte die Parteimehrheit die Kolonien vor allem dahingehend, dass sie der deutschen Arbeiter*innenklasse im Gesamten nur schade. Karl Kautsky legte seit den 1880er-Jahren als Cheftheoretiker der Partei das theoretische Fundament für die Ablehnung des Kolonialismus. Auch August Bebel prangerte gemeinsam mit anderen Politiker*innen immer wieder die Grausamkeiten der deutschen Kolonialherrschaft an. Der Kolonialabenteurer Carl Peters wurde auch deswegen 1897 als Reichskommissar für Ostafrika entlassen.
Zeitgleich gab es jedoch eine Strömung innerhalb der SPD, die den Kolonialismus nicht grundlegend ablehnte. Diese entwickelte sich im Rahmen des Revisionismus um Eduard Bernstein. Da der Zusammenbruch des Kapitalismus und damit die Revolution wider Erwarten nicht ‚natürlich‘ eintrat, entschied man sich, die Überwindung des Kapitalismus zugunsten einer Reformierung des Kapitalismus aufzugeben. Entsprechend sollte das Prinzip des Reformismus auch auf den Kolonialismus angewandt werden. So argumentierte Bernstein ab den 1890er-Jahren verstärkt für die Notwendigkeit einer sozialistischen Kolonialpolitik, die den Kolonialismus grundsätzlich gutheißen sollte, lediglich Methoden und Formen seien zu reformieren. Seine Thesen wurden jedoch auf dem Parteitag 1903 in Dresden abgelehnt.
Zum Weiterlesen, -hören und -schauen:
Deutschlandfunk Kultur: Deutsche Kolonien, Verdrängte Verbrechen.
"Die Wilden" in den Menschenzoos, ARTE, Dokumentarfilm von B. Victor-Pujebet und P. Blanchard (F 2017, 92 Min).
Merkel, Ole/Müller, Moritz (2021): Proletarier mancher Länder, vereinigt euch? : der schleichende Niedergang des Internationalismus in der "Kulidebatte" der II. Sozialistischen Internationale (1883-1910), in: Arbeit, Bewegung, Geschichte, 20. Jg., S. 12-28.
Schnurr, Eva-Maria/Patalong, Frank (Hrsg.) (2022): "Deutschland, deine Kolonien" : Geschichte und Gegenwart einer verdrängten Zeit , München.
Literatur und Quellen
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Heyn, Susanne (2006): Deutsche Missionen – Der Kolonialrevisionismus und seine KritikerInnen in der Weimarer Republik, in: iz3w, Nr. 296, S. 42-45.
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Internationaler Sozialistenkongreß Stuttgart 1907, Protokoll, Berlin 1907.
Kautsky, Karl (1907): Sozialismus und Kolonialpolitik: eine Auseinandersetzung, Berlin.
Koller, Christian (2005): Eine Zivilisierungsmission der Arbeiterklasse? Die Diskussion über eine „sozialistische Kolonialpolitik“ vor dem Ersten Weltkrieg, in: Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz, S. 229-243.
Luxemburg, Rosa (1999): Gesammelte Briefe, Bd. 2, Berlin.
Osterhammel, Jürgen/Jansen, Jan C. (2017): Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, 8., aktualisierte Auflage, München.
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Sozialdemokratische Parteitage (1900 - 1909).
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Vorwärts in der digitalisierten Historischen Presse der Deutschen Sozialdemokratie.
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