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Archiv der sozialen Demokratie

 

Ja. Doch. Nein. Ja.

Wenn Friedrich Nowottny ein Interview mit Willy Brandt führt, bleiben keine Fragen offen - erst recht nicht in jenem legendären 26-sekündigen Wortwechsel, in dem der Bundeskanzler den Journalisten und dessen geschlossene Fragen aufs Glatteis führte. Wann und wo genau dieses Interview zuerst gesendet wurde, lag lange Zeit im Dunkeln, lässt sich aber mithilfe von Archivalien klären ...

Im Pantoffelkino von früher haben sich viele Pannen sang- und klanglos versendet. Sobald Versprecher und andere Katastrophen jedoch stets aufs Neue hervorgekramt werden, verwandeln sie sich zügig in Evergreens, die ihre Urheber_innen unerbittlich verfolgen: Ähnlich wie Tagesschau-Sprecherin Dagmar Berghoff immer wieder nacherzählen muss, wie sie Boris Becker beim "WC-Turnier" gewinnen ließ und sich anschließend durch die Lottozahlen kicherte, so wird auch Nowottny - allen Jahrzehnten als gestandener Journalist bzw. WDR-Intendant und all seinen ausführlichen, tiefgründigen Interviews zum Trotz - diese amüsanten und doch quälenden Sekunden nicht mehr los. Wann immer er darauf angesprochen wird, erzählt Nowottny denn auch notgedrungen dieselbe Vorgeschichte: wie er es am Rande einer deutsch-französischen Konsultation wagte, via Regierungssprecher Conrad Ahlers dem Herrn Bundeskanzler Vorgaben zur Länge des Interviews zu machen, sie hätten nur 1:30 Min. zur Verfügung, also drei oder vier Fragen mit der Bitte, sich in den Antworten möglichst kurz zu fassen, wie Willy Brandt leicht verstimmt den Wunsch entgegennahm - und wie er ihn, schelmisch grinsend, erfüllte:

Nowottny: War die Währungsfrage, die ungelöste europäische Währungsfrage, das schwierigste Problem dieser Konsultation?
Brandt: Ja.
Nowottny: Und Sie haben dem Präsidenten keine Lösung von unserer Seite aus mit auf den Rückweg geben können?
Brandt: Doch.
Nowottny: Haben Sie ihm die Termine genannt, die so wichtig sind, die Termine, die Festlegung des Wechselkurses der D-Mark?
Brandt: Nein.
Nowottny: Und Sie sind sicher, dass er trotzdem befriedigt war?
Brandt: Ja.

Statt offenen Fragen, die zu ausführlichen Antworten anregen, folgen hier vier geschlossene Fragen direkt aufeinander: eine Lehrstunde aus dem Horrorkabinett der Rhetorik, wie man ein Interview formvollendet gegen die Wand fährt - erst recht, wenn man sich mit den einsilbig zugespitzten Antworten zufriedengibt und nicht nachfasst. Diese so schön pointierte Geschichte hat allerdings zwei Haken. Schließlich ist der knapp halbminütige Auszug nur das Fragment eines längeren Gesprächs, dessen andere Fragen und Antworten stets weggelassen werden. Zudem fällt auf, dass das Interview bislang bei jeder Wiederholung entweder gar nicht oder ungefähr, vereinzelt sogar völlig falsch datiert worden ist:
 

Was natürlich nichts daran ändert, dass dieses Frage-Antwort-Spielchen authentisch ist. Aber anstatt immer nur auf dieselben 26 Sekunden zu starren, könnte man doch mal versuchen, die anderen Sekunden drumherum aufzuspüren, um sich ein vollständiges Bild zu verschaffen? Da selbst Nowottny mit wechselnden Jahreszahlen mal die erste, mal eine andere deutsch-französische Konsultation nannte, sind Recherchen im Archiv der beste Weg zur Lösung.

Welche Konsultationen kommen überhaupt in Frage?

Eine deutsch-französische Konsultation als Anlass des Interviews nennt streng genommen nur der spätere, sich erinnernde Nowottny - aus dem Interviewfragment alleine geht das nicht eindeutig hervor, doch erscheint es aufgrund der Begriffe "Konsultation" und "Präsident" mehr als plausibel. Diese zumeist zweitägigen Regierungsgespräche beider Länder wurden seit der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages anno 1963 im halbjährlichen Turnus an wechselnden Orten, mal in Paris und mal in Bonn (gelegentlich auch in anderen Städten) durchgeführt. Nowottnys Fragen zufolge muss die Konsultation soeben beendet worden sein, da der Präsident sich bereits auf dem "Rückweg" befand: demnach interviewte Nowottny Brandt in Bonn. Die Daten der deutsch-französischen Konsultationen, die ab dem Beginn der sozialliberalen Koalition bis zu Brandts Rücktritt als Bundeskanzler in der Bundesrepublik Deutschland jeweils mit dem französischen Präsidenten Georges Pompidou und mehreren Ministern abgehalten wurden, sind sowohl in den Bulletins des Presse- und Informationsamtes und in späteren wissenschaftlichen Editionen, wie auch in den erschlossenen Redemanuskripten und Reiseunterlagen sowie den Terminkalendern im Willy-Brandt-Archiv leicht zu finden: die Konsultationen fanden in Bonn am 3./4. Juli 1970, am 5./6. Juli 1971, am 3./4. Juli 1972 und am 21./22. Juni 1973 statt.
 

Wären dies die vier Optionen für die Millionenfrage bei Wer wird Millionär?, würden Expert_innen auf dem Gebiet der europäischen Finanzpolitik anhand der einzigen inhaltlichen Anhaltspunkte der "ungelösten Währungsfrage" und der "Festlegung des Wechselkurses der D-Mark" die richtige Antwort gewiss sofort einloggen. Wir hier im Archiv greifen lieber noch auf zwei Joker zurück.

Wo könnte mehr vom Interview gezeigt worden sein?

Zunächst wurden die in den letzten Jahren im Fernsehen aufgenommenen Dokumentationen und Features mit Bezug zu Willy Brandt daraufhin überprüft, ob sie abweichende Fassungen des Interviews enthalten. Und siehe da, ausgerechnet in einer jener durchformatierten Ranking Shows, die altes Material aus der Mottenkiste im Hitparadenmodus recyceln und mit Kommentaren prominenter Persönlichkeiten aufmöbeln, ergeben sich neue Anhaltspunkte: In der Sendereihe Die Hitlisten des Nordens des NDR landete Nowottnys Interview in der Folge Die legendärsten Interviews und Talks im März 2011 zwischen Klaus Kinski, Rudi Völler und anderen Entgleisungen auf Platz 7. Hier laufen, während sich in Einspielern mehrere Interview-Profis zu der Szene äußern, im Hintergrund etliche sonst nie gezeigte Sekunden: eine auf der Dialogachse links positionierte zweite Kamera zeigt im Gegenschuss Brandt von der Seite und Nowottny von vorne sowie hinter ihnen mehrere Personen am Rande einer hellen Parkfläche vor einem von Sonnenlicht durchfluteten, in voller Blüte stehenden Busch oder Baum vermutlich beim Palais Schaumburg in Bonn. Zwei Zaungäste sind gut zu erkennen: neben Wolf-Dietrich Schilling, einer von Brandts Mitarbeitern im Büro des Bundeskanzlers, läuft auch Katharina Focke, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, kurz ins Bild. Zu hören ist allerdings nichts und obwohl den Produzenten dieser Ranking Show das gesamte Interview zur Verfügung gestanden haben muss, zeigen sie es nicht am Stück - und es bleibt vollends undatiert.

Wer nur den von rechts gefilmten Auszug betrachtet, wird in der dunklen, weil im Schatten liegenden Partie des Parkgeländes praktisch nichts Besonderes erkennen - das Augenmerk richtet sich nahezu zwangsläufig auf ein einziges Merkmal, das bei Willy Brandt deutlich hervorsticht: seine Krawatte mit ihrem charakteristischen Paisleymuster.

Wie aussagekräftig ist Willy Brandts Krawatte?

Natürlich sind Politikerschlipse keine Wegwerf-Accessoires, die nur einmal zum Einsatz kommen (Ausnahmen im Karneval an Weiberfastnacht bestätigen die Regel); dennoch dürfte die Krawatte ein hilfreiches Indiz für die Zuordnung des Interviews zu zweifelsfrei datierten Fotos eines zweiten Tages einer deutsch-französischen Konsultation in Bonn sein. So ziehen wir also den zweiten Joker in der Fotosammlung unseres Archivs. Dass es sich um den zweiten Tag handelt, erschwert die Suche nach Fotos jedoch immens, denn viele Fotograf_innen sahen ihre Chronistenpflicht offenbar mit Bildern vom Beginn der Konsultationen als erfüllt an.
 

Leider ist es uns mit den eigenen Archivalien nicht möglich, eine lückenlose Willy-Brandt-Krawattologie aller deutsch-französischen Konsultationen in Bonn von 1970 bis 1973 aneinanderzureihen. Gleichwohl hatten wir Glück, denn in der Fotosammlung des AdsD fanden sich Abzüge einiger Motive, die auf dem Rollfeld des Militärflughafens Köln-Wahn bei der Verabschiedung der französischen Delegation am Nachmittag des 6. Juli 1971 aufgenommen worden sind. Und ein Foto bringt des Rätsels Lösung:

Willy Brandt trug am 6. Juli 1971 nicht bloß dieselbe Krawatte, nein, ihr Knoten war auch exakt so gebunden wie im Interview mit Friedrich Nowottny. Bei Wolf-Dietrich Schilling ist ebenfalls jene Krawatte und jenes Einstecktuch wie kurz zuvor auf dem Flughafen zu sehen. Katharina Focke räumt jegliche Zweifel aus und macht die Datierung perfekt.

Wie hilft uns das genaue Datum weiter?

Das Datum des 6. Juli 1971 ermöglicht es nun, das vollständige Interview auszugraben. Zwar ist das Archiv der sozialen Demokratie kein Rundfunkarchiv und wir verfügen daher nicht über vor 50 Jahren aufgezeichnete Ausgaben der damaligen ARD-Nachrichtenformate Tagesschau, Bericht aus Bonn oder Wochenspiegel. Doch unsere Sammlung Personalia - eine riesige Mischung aus mehreren Pressedokumentationen und Zeitungsarchiven - hält abertausend Zeitungsausschnitte und sonstige Veröffentlichungen nach Personen und dann chronologisch geordnet bereit, darunter auch Transkriptionen von im Rundfunk und im Fernsehen ausgestrahlten Interviews und Diskussionen. In der Willy Brandt gewidmeten Serie genügt ein Griff zur Box mit dem Zeitraum des richtigen Datums - und das Interview taucht in Gänze auf:

Die Kürze der vier Antworten hintereinander wirkt selbst in der vollständig verschriftlichten Fassung des Interviews kurios, relativiert sich allerdings durchaus: Hat Friedrich Nowottny mehr Fragen gestellt, auf die Brandt gesprächiger geantwortet hat? Ja. Und da waren dann keine weiteren geschlossenen Fragen dabei? Doch. Da eine spätestens 2009 im WDR gesendete Fassung des Interviewauszugs mit einer zeitgenössisch wirkenden Bericht aus Bonn-Schrifttafel beginnt, spricht wohl nichts gegen die Annahme, dass man das Comedy-Potential der vier Antworten bereits damals sofort erkannt und diese als Einstieg der Bericht aus Bonn-Ausgabe am darauffolgenden Freitag, den 9. Juli 1971 erstmals wiederholt hat? Nein. Und dürften sich beide Sendungen - die Tagesschau vom 6. Juli 1971 mit dem Interview in voller Länge sowie Bericht aus Bonn vom 9. Juli 1971 mit der ersten Wiederholung des Auszugs - in den Archiven des Westdeutschen Rundfunks und des Norddeutschen Rundfunks finden lassen? Ja.

Sven Haarmann
 

Zum Weiterlesen, Weiterschauen und Weiterhören:


Deutsche Gewerkschaften und Grundgesetz, 1945–1949. Teil 1: Vom Wiederaufbau zum Tarifvertragsgesetz.

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Demokratischer Sozialismus: Das georgische Experiment

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Unbesungene Helden: Ukrainischer Widerstand und ukrainische Dissidenten

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