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Archiv der sozialen Demokratie

 

Die Erneuerung der Sozialdemokratie in Mittelosteuropa

Bild: Samtene Revolution 1989 in Prag, einer der Ausgangspunkte zur Demoktatisierung Mittelosteuropas; Rechte: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Sozialdemokratie hat überall in Europa schon bessere Zeiten erlebt. Aber in Mittelosteuropa war der Einbruch in den letzten zehn Jahren noch einmal deutlich ausgeprägter als im Westen oder Norden des Kontinents. Mitte-Links-Parteien waren in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in den meisten Ländern in verschiedener Form an der Regierungsverantwortung beteiligt. Die großen europäischen Integrationsschritte – EU- und Nato-Mitgliedschaft – sind in der Regel mit ihrer aktiven Beteiligung und Unterstützung vollzogen worden. 

Die erste Phase, unmittelbar nach dem Zusammenbruch des alten Systems 1989/1990, sah zunächst klar eine Dominanz liberaler und konservativer Kräfte. Da die Mehrzahl der sozialdemokratischen Parteien Mittelosteuropas aus den alten kommunistischen „Arbeiterparteien“ hervorgegangen war, hing ihnen zu stark der Geruch der Systemkontinuität an, als dass sie für eine an die schöne neue Welt der liberalen Verwestlichung glaubende Bevölkerungsmehrheit hätten attraktiv sein können. Dabei gab es allerdings Ausnahmen – in der Slowakei etwa konnten linkspopulistische Kräfte immer relativ gute Ergebnisse erzielen. In Polen kam der postkommunistische SLD bereits 1992 an die Macht und erwies sich – nicht zuletzt auch aufgrund der beiden Präsidentschaften Alexander Kwasniewskis (1995–2005) – sehr lange als ein zentraler Akteur der polnischen Politik. Und in Rumänien – wo die Nomenklatura den Systemwechsel 1989 mit dem Sturz und der Hinrichtung von Nicolae Ceaușescu lieber gleich selbst inszenierte – konnten postkommunistische Parteien sich auch nach der Wende an der Macht halten.  

Die Stunde der Sozialdemokratie schlug in Mittelosteuropa erst, als sich ungefähr gegen Mitte der 1990er-Jahre die Versprechungen des Wirtschaftsliberalismus als leer zu erweisen begannen. Die erste Phase der Transformation der Gesellschaften Mittelosteuropas wurde geprägt von dem neoliberalen Zeitgeist des „Washington consensus“. Die rasche Privatisierung der staatlichen Wirtschaft wurde zum Allheilmittel erklärt und restriktive Haushaltspolitik zur unbedingten Notwendigkeit. In dieser Phase der planlosen Transition – keine der Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks hatte irgendeinen Plan für eine geordnete Systemtransformation gehabt – kam es zu drastischen Einbrüchen der Wirtschaft, einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, einem enormen Verlust an industriellen und intellektuellen Ressourcen und einer wilden Bereicherung alter und neuer Systeminsider. Wichtige Teile der leistungsfähigeren ökonomischen Ressourcen gingen in den Besitz westlicher Konzerne über. Allerdings waren in vielen Ländern sozialdemokratische Parteien an diesem Prozess der wilden Privatisierung auch als Akteur_innen beteiligt. Die daraus entstehenden Ungleichheiten wurden auch ihnen angerechnet. 

In dem Maße, wie das liberal-kapitalistische Versprechen der unmittelbaren Transition an Glanz verlor, konnten sich auch sozialdemokratische oder linksliberale politische Kräfte wieder stärker Gehör verschaffen. Den Durchbruch in den „atomistischen“ und von einem hohen Misstrauen gegenüber staatlichen und kollektiven Lösungen geprägten Transitionsgesellschaften Ostmittel- und Südosteuropas brachte aber erst die Übernahme von Teilen der Rhetorik des „Dritten Wegs“ bzw. der „Neuen Mitte“ durch die postkommunistischen Parteien der Region. Mit dieser Mischung aus Liberalismus und traditioneller Sozialdemokratie trafen sie stärker den Zeitgeist ihrer Gesellschaften. Der Zeitraum von Mitte der 1990er-Jahre bis zum Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wurde hier – wie auch in Westeuropa – eine Phase relativer Stärke der Sozialdemokratie.  

Der seither zu beobachtende Niedergang hat verschiedene Gründe, die in der Regel aber etwas anderer Natur sind als die Gründe der Probleme der Sozialdemokratie in Westeuropa. In Westeuropa spielen die Folgen der Globalisierung und Europäisierung und die wachsende Bedeutung soziokultureller Konflikte in den multikulturellen Zuwanderungsgesellschaften eine starke Rolle beim Niedergang der traditionellen linken Volksparteien. Ähnliche Konflikte zwischen „Kosmopolitismus“ und „Kommunitarismus“ gibt es zwar in Mittelosteuropa auch, sie sind aber aufgrund des Fehlens einer signifikanten Einwanderung aus dem außereuropäischen Raum stärker auf Konfliktthemen entlang der klassischen Liberalismus-Konservativismus-Achse konzentriert. Einen wesentlichen Anteil am Niedergang der Parteien hatten ganz klassische Affären und die Tatsache, dass die Parteien in vielen Ländern zunehmend als Vertreter_innen einer egoistischen, sich selbst bereichernden neuen Elite wahrgenommen wurden. Zudem traten nationalistisch-populistische Akteure_innen auf den Plan, die erfolgreich die sozial schwächeren Wähler_innen ihrer Länder umwarben. Beispielhaft ist hierfür sicherlich Polen, wo die PiS heute klar die dominierende politische Kraft bei den „kleinen Leuten“ ist, während der SLD die bestgebildete und bestverdienende Wählerschaft aller Parteien hat – und in der Phase zwischen 2015–2019 nicht mehr im Parlament vertreten war.  

Diese Separation von den sozial schwächeren Wählermilieus – die auch im Westen Europas zu beobachten ist – stellt sicherlich das größte strukturelle Problem der sozialdemokratischen Parteien Osteuropas dar, wobei es in dieser Hinsicht, wie im Westen auch, durchaus große Unterschiede gibt. Betrachtet man die letzten Wahlergebnisse (Parlamentswahlen) wichtiger Sozialdemokratien der Region, so zeigt sich das Ausmaß des Problems: 

  • Tschechien: CSSD 7,3 % (2017) 
  • Ungarn: MSZP: 12 % (2018) 
  • Polen: Lewica (SLD plus andere linke Parteien): 12,6 % (2019) 
  • Slowakei: Smer: 18,3 % (2020) 
  • Slowenien: SD 9,9 % (2018) 
  • Litauen: LSDP 9,2 % (2020)

Momentan ist es sehr schwer, eine begründete Prognose für die weitere Entwicklung dieser Parteien abzugeben. Sie bewegen sich generell in einem sozioökonomischen Umfeld, das von einem langsamen, aber realen Aufholen in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und im Pro-Kopf-Einkommen gegenüber dem Rest der EU gekennzeichnet ist. Die Arbeitslosigkeit in Polen und Tschechien etwa zählt zu den niedrigsten in der EU, die Wachstumsraten in der Region liegen deutlich über dem EU-Durchschnitt. Als linksliberale Kräfte mit Bastionen in Großstädten und gebildeteren Milieus werden die sozialdemokratischen Parteien in einem nicht leicht zu gewinnenden Wettbewerb mit liberalen bürgerlichen und zunehmend auch grünen Parteien stehen.  

Ein größeres Mobilisierungspotential liegt wahrscheinlich in einer mittelosteuropäischen Variante des Themas der „sozial-ökologischen Erneuerung“ im Zeichen von Klima- und Technologiewandel, die für die auf ressourcenintensive industrielle Produktion spezialisierten Ökonomien Mittelosteuropas und Osteuropas von besonderer Bedeutung ist.  

Ernst Hillebrand


Deutsche Gewerkschaften und Grundgesetz, 1945–1949. Teil 1: Vom Wiederaufbau zum Tarifvertragsgesetz

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