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Archiv der sozialen Demokratie

 

... und wir sind nur die Kandidaten: Björn Engholm und Hape Kerkeling auf dem SPD-Parteitag in Bremen, 29. Mai 1991

Auf dem SPD-Parteitag in Bremen läuft bereits die Wahl von Björn Engholm zum neuen Parteivorsitzenden - da meldet sich ein Gegenkandidat ...

"Wat mutt, dat mutt!" Mit dieser im hohen Norden geläufigen Redensart hatte sich Björn Engholm, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, am 10. Dezember 1990 bereit erklärt, SPD-Parteivorsitzender zu werden - ein Amt, das andernfalls in wenigen Monaten vakant zu werden drohte, denn die SPD war bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl eine Woche zuvor auf 33,5 % abgestürzt und ihr glückloser Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine hatte tags darauf in einer Parteivorstandssitzung den ihm angetragenen Parteivorsitz ausgeschlagen. Der schon länger vorbereitete Generationswechsel von Willy Brandt über Amtsinhaber Hans-Jochen Vogel an die jüngeren "Enkel" drohte ins Stocken zu geraten.

Zu jenen "Enkeln" zählte auch Björn Engholm, der 1982 kurzzeitig Bundesminister für Bildung und Wissenschaft in den letzten Monaten der sozialliberalen Regierung unter Helmut Schmidt gewesen war und ab 1983 im Landtag von Schleswig-Holstein die Opposition so erfolgreich führte, dass ihn der Ministerpräsident der CDU aus der Kieler Staatskanzlei heraus mit unsauberen, kriminellen Mitteln zu bekämpfen begann. Unmittelbar vor der Landtagswahl 1987 flog alles auf, die Barschel-Affäre erschütterte die Bundesrepublik und nach den Neuwahlen 1988 regierte Engholm in Kiel als Ministerpräsident mit haushoch absoluter Mehrheit. Nun, im Dezember 1990 galt er zunehmend als Hoffnungsträger der gesamten SPD. Am 17. Dezember nominierte ihn das SPD-Präsidium, gewählt werden sollte er fünf Monate später auf dem nächsten ordentlichen Parteitag in Bremen.

In der Hansestadt an der Weser hatte bereits Ende 1989 ein Programm-Parteitag die neuen Leitlinien der SPD als "Bremer Programm" verabschieden sollen, doch daraus wurde nach dem Mauerfall kurzerhand das "Berliner Programm" und auch der 1990er Vereinigungsparteitag ereignete sich in der künftigen Hauptstadt des vereinten Deutschlands. Als nun die Genoss_innen in Bremen zusammenkamen, wurden - dank historischer Siege in konservativen Stammländern wie z.B. Niedersachsen und Rheinland-Pfalz - inzwischen neun von 16 Landesregierungen von SPD-Regierungschefs geführt. Die Sozialdemokrat_innen befanden sich bundesweit im demoskopischen Aufwind und bliesen zum Machtwechsel in drei Jahren oder früher, denn der Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl - so glaubte man - würden ihre Wahlversprechen von "blühenden Landschaften" in der ehemaligen DDR alsbald wie faule Eier um die Ohren fliegen.

Für die Rückkehr zur Regierungsverantwortung stellte sich die SPD in Bremen weiter neu auf; altgediente Genoss_innen schieden aus den Gremien aus, während neue Kräfte, auch aus dem Osten, nachrückten. Der Wechsel im höchsten Parteiamt brachte es mit sich, dass in Bremen Rückschau und Ausblick zugleich gehalten wurde: Nachdem am ersten Tag Hans-Jochen Vogel in seiner Rede eine Bilanz seiner vierjährigen Amtszeit der innen- wie außenpolitisch ereignisreichen Jahre von 1987 bis 1991 gezogen hatte, stand der 29. Mai ganz im Zeichen der Grundsatzrede und Wahl Björn Engholms zum Parteivorsitzenden (mit mehr als 97 Prozent) und einer Rede des Ehrenvorsitzenden Willy Brandt, für den es sein letzter Parteitag werden sollte.

In den Antragsberatungen, die sich an die übrigen Wahlen der Parteigremien und des neuen Bundesgeschäftsführers anschlossen, stachen zwei besonders leidenschaftlich geführte Debatten hervor. Nach dem Golfkrieg stand die Frage künftiger internationaler Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets im Raum und fand eine vorläufige Antwort mit dem von der Parteiführung eingebrachten und mit sanftem Druck durchgesetzten Kompromissvorschlag, auf eine Grundgesetzänderung hinzuarbeiten, welche die Beteiligung deutscher Soldaten ausschließlich an friedenserhaltenden Maßnahmen der UNO (Blauhelmmissionen) erlauben und militärische Kämpfe kategorisch ausschließen sollte. Der Streit um den Sitz von Parlament und Regierung im vereinten Deutschland färbte auch auf den SPD-Parteitag ab: gegen den Rat Engholms und des Parteivorstands erzwangen die Delegierten eine polarisierende Aussprache, forderten mit nahezu einstimmiger Mehrheit einen Volksentscheid anstelle der längst für den 20. Juni im Deutschen Bundestag anberaumten Sitzung und schritten zu einem Stimmungstest, der mit dem denkbar knappsten Vorsprung - 203:202 - für Bonn endete.
 

Obwohl oder gerade weil derlei Kontroversen auch in den Medien genüsslich kommentiert wurden, verbreitete der SPD-Parteitag lebendige Aufbruchstimmung, hübsch illustriert durch mehrere Geschenke, die dem neuen Vorsitzenden überreicht wurden. Ein kleiner Handventilator für beständig frischen Wind sowie ein langes, dickes Tau als symbolhaft überhöhter Strang, an dem sogleich viele gemeinsam zogen, sorgten für schöne Bilder. Gleichwohl wurde noch während der Wahl Björn Engholms der Albtraum einer jeden Parteitagsregie Wirklichkeit, denn auf einmal spielten sich vor der Bühne tumultartige Szenen ab - ausgelöst durch Hape Kerkeling.

"Herr Engholm, hallo!"

TV-Entertainer Kerkeling war zu jener Zeit 26 Jahre jung und erlebte im Frühjahr 1991 einen Höhenflug. Im Dezember 1990 waren drei Ausgaben seiner unregelmäßig ausgestrahlten Show Total Normal gezeigt worden, deren anarchische Sketche und Streiche dem Publikumsliebling in den Folgemonaten eine Lawine renommierter Preise (Adolf-Grimme-Preis mit Silber, Rose von Montreux in Bronze, Goldene Europa etc.) bescherten. Der Komiker setzte Ende April noch eins drauf, narrte als Königin Beatrix verkleidet das Sicherheitspersonal am Schloss Bellevue und moderierte in Total Normal Anfang Mai eine groteske Gameshowpersiflage ("Das ganze Leben ist ein Quiz und wir sind nur die Kandidaten ...") in Grund und Boden. Nur wenige Wochen später suchte er nun den SPD-Parteitag heim, hatte dabei allerdings keine Mörder-Duschhauben und auch nicht die Mitropa-Kaffeemaschine - achteinhalb Tassen, hängende Filter mit Tropfverschluss - im Gepäck: Er wollte sich als Gegenkandidat von Björn Engholm aufstellen lassen.
 

Negativstreifen, die sich in der Fotosammlung unseres Archivs befinden und die zweifelsfrei am 29. Mai morgens vor der Stadthalle belichtet wurden, zeigen - zwischen Fotos von ankommenden Delegierten - Hape Kerkeling in einem Wagen von Radio Bremen. Vieles spricht dafür, dass Kerkeling sich an jenem Morgen im Hintergrund hielt, zumal der zweite Verhandlungstag kurz nach 9 Uhr begann und mit Engholms Grundsatzrede alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

"Sie haben gestern in Ihrer Rede gesagt: Spaß muss in die Politik!"

Am Tag zuvor hatte Hans-Jochen Vogel in seiner Rede die Reform des Parteilebens angesprochen und für die Anwerbung neuer Mitglieder eines vorausgesetzt: "... und es muss im Ergebnis auch Spaß machen, bei uns zu sein und bei uns mitzumachen. Spaß machen muss es!" Diesem Wunsch wollte Kerkeling nun gerne Folge leisten. Nur wie? Auf dem CDU-Parteitag in Bremen im September 1989 (Total Normal, Folge 1) hatte er sich im Saal noch damit begnügen müssen, vor der Bühne einmal von links nach rechts zu laufen und an der Seite ein "Lachen!"-Schild hochzuhalten. Die Sozialdemokrat_innen hingegen boten ihm eine offene Flanke und unverhofft viele prominente Genoss_innen auf dem Silbertablett, denn ein an alle Journalist_innen verteilter SPD-Presseservice kündigte an, der ansonsten für Fotograf_innen gesperrte Raum direkt vor der Bühne werde zehn Minuten vor Bekanntgabe des Wahlergebnisses zum Parteivorsitz für die Berichterstattung geöffnet: SPD-Sprecherin Cornelie Sonntag wünschte sich "Ruhe" und "kollegiale Absprache", "um Turbulenzen zu vermeiden".

Die Turbulenzen hat Kerkeling dem Parteitag prompt geliefert: Zwar wurden alle Fotografen im Innenraum zunächst auf Abstand zur Bühne gehalten, doch Kerkeling gelang es, nach vorne zu stürmen. Zuerst landete er bei Gerhard Schröder, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Inge Wettig-Danielmeier und Egon Bahr, die ihn - mit Ausnahme des niedersächsischen Ministerpräsidenten - amüsiert belehrten, für seine Gegenkandidatur sei es "bisschen spät", schließlich laufe der Wahlgang bereits.

"Sehen Sie 'ne Chance, dass man irgendwie noch als Gegenkandidat, wenn ich mich mit aufstellen lasse ..."

Sogleich nahm Kerkeling seinen Konkurrenten ins Visier, Engholm spielte mit und parierte die Kampfansage: "Ich werde Sie mit aller Macht verhindern!" Doch dann drängte ein halbes Dutzend Saalordner und Leibwächter Kerkeling lachend, aber mit Nachdruck vom Bühnenrand weg, Cornelie Sonntag verlangte seine Akkreditierung zu sehen, die Stimmung drohte zu kippen. Kerkeling war allerdings akkreditiert. Zwar fehlt im Archiv in der Überlieferung des SPD-Parteivorstands in einer Mappe der Pressestelle mit alphabetisch geordneten Anträgen auf Akkreditierung zum Parteitag von Kerkeling jede Spur, doch möglicherweise haben er und seine Kollegen sich als Nachzügler erst an diesem Morgen am Empfangsschalter angemeldet.

Dass niemand ihn am Schlafittchen packte, hatte Kerkeling wohl auch den umstehenden Fotografen und Kameramännern zu verdanken, vor deren Objektiven er schwerlich aus dem Saal zu zerren war. So ließen sie ihn gewähren: Kerkeling klapperte Johannes Rau, Oskar Lafontaine, Hans-Jochen Vogel, Willy Brandt und Herta Däubler-Gmelin ab, zog sich dann aber zurück und führte erst später in fast leerer Halle (vermutlich in der Mittagspause) ein Interview auf Augenhöhe mit Gerhard Schröder. Darauf folgte noch ein Wortwechsel mit Wolfgang Thierse - mitten im Interview einer kopfschüttelnden NDR-Kollegin.
 

Die überfallenen Genoss_innen ließen sich allesamt nicht aus der Ruhe bringen, reagierten aber doch unterschiedlich. Viele wussten die Bühne zu nutzen, die Kerkeling ihnen für Sekunden bot. Hatte Schröder ihn anfangs noch eher beiläufig abgefertigt, als halte er ihn für einen unbedarften Reporterneuling, so wirkte er am Mittag wie ausgewechselt und bot ihm "einen Orden" an. Rau und Thierse schüttelten ihre Punchlines lässig aus dem Ärmel und Vogel lieferte mit seiner Frage, ob Kerkeling Sozialdemokrat sei, diesem sogar generös eine Steilvorlage für den nächsten Schenkelklopfer. Lafontaine hingegen zeigte ihm freundlich, aber deutlich die kalte Schulter. Brandt war so sehr in das Manuskript seiner nahenden Rede vertieft, dass er Kerkeling mit gemurmeltem "Danach können wir wieder miteinander sprechen ..." vertröstete, ihm also gewissermaßen ein Interview versprach. Kam es dazu? Wahrscheinlich nicht.

"Wo er recht hat, hat er recht!"

Mit seinen humoristischen Attacken auf offener Straße, an der Haustür oder auch auf Promi-Treffen hat Kerkeling das Genre des Überfallinterviews stark geprägt. Auf Parteitagen war er vermutlich sogar der erste seiner Zunft und somit Vorreiter von Satiriker_innen wie Lutz van der Horst und Ralf Kabelka, die seit Jahren für die heute-show Politiker_innen in ihrem eigenen Revier auflauern, um ihnen mit Humor auf den Zahn zu fühlen oder sie mit bissigem, ätzendem Spott bloßzustellen. So weit ist Kerkeling nie gegangen. Gewiss, er schüttete seiner eigenen TV-Ansagerin einen Eimer Wasser über den Kopf und er haute auf einer Kaffeefahrt einen Verkäufer mitten in dessen Kochgeschirrpräsentation gnadenlos in die Pfanne - Poltiker_innen aber wurden nie verletzt, allenfalls gehörig und gutgelaunt auf den Arm genommen. Dabei erweckte Kerkeling oft den Eindruck, als sei es ihm selbst unangenehm, die Grenzen gängiger Berichterstattung zu überschreiten. Ob andere auf dem SPD-Parteitag gefilmte Szenen und Gespräche später im Schneideraum als nicht sendefähig oder schlichtweg als nicht lustig angesehen und aussortiert wurden, muss offenbleiben.

Kerkelings Klamauk beeinträchtigte nicht einmal den Ablauf des Parteitages, weil er Björn Engholm nur in einer Pause die Show stahl - im Protokoll verschwindet die Aktion völlig unsichtbar zwischen zwei Absätzen. Dass Kerkeling an der Oberfläche der sozialdemokratischen Zeremonie kratzte und sich darüber lustig machte, dass die Wahl des einzigen Kandidaten von vornherein feststand, mag den neuen SPD-Parteivorsitzenden sogar dazu bewogen haben, am Rednerpult einen ironischen Schlenker einzuflechten, bevor er die Wahl annahm, denn er zeigte sich "zutiefst berührt von der Tatsache, dass ich schon im ersten Wahlgang gewählt wurde ..."

"Ist doch schön, wenn einfach ein Konkurrent da ist ..."

Etwaige Sorgen der SPD, Kerkelings Aktion könne in den Tagen darauf die öffentliche Wahrnehmung dominieren, erwiesen sich als unbegründet. In der zeitgenössischen Presse nach dem 29. Mai, die bei uns im Archiv als umfangreiche Sammlung unzähliger Zeitungsausschnitte vorliegt, wurden nur wenige Erwähnungen gefunden. BILD hob die Aktion ohne Foto auf Seite 1 bzw. 2 und bemühte falsch notierte Zitate. Ansonsten wurde "Kabarettist Harpe Kerkeling" noch im Flensburger Tageblatt erwähnt, drei Wochen später meldete DER SPIEGEL eine Replik des SPD-Ortsvereins in Oyten. Aber sonst? Selbst jene ausführlichen Parteitagsberichte, die auch für atmosphärische Details einen Blick hatten, ließen ihn links liegen. Die hochseriöse Tagesschau zeigte nichts; in den Nachrichten der Privatsender RTL plus, SAT.1 und PRO7 könnte die Hemmschwelle niedriger gewesen sein. Es scheint jedoch, als seien vier Wochen lang keine Bilder verfügbar gewesen.
 

Die neue Total Normal-Ausgabe am 4. Juli 1991 geriet als Doppelfolge zur absichtlich überdrehten Selbstbeweihräucherung und zugleich zum Abgesang auf die Sendereihe (es folgten "nur" noch Specials auf der Internationalen Funkausstellung). Die Aufnahmen vom SPD-Besuch wurden ohne Einleitung und ohne abschließenden Kommentar Kerkelings in einem dreieinhalbminütigen Zusammenschnitt eingefügt. Das meiste Aufsehen erregte jedoch die zwei Wochen nach dem SPD-Parteitag von einem vorgeblich polnischen Künstler-Duo auf einem klassischen Konzert dargebotene Passage aus einer modernen Oper ("Hurz!!!") mitsamt hilflosem Fachpublikum - demgegenüber nahm sich Kerkelings Abstecher zur SPD vergleichsweise brav und weniger subversiv aus. Doch im Kontext der Parteigeschichte mögen es Jahrzehnte später diese dreieinhalb Minuten sein, die vom SPD-Parteitag in Bremen vornehmlich im kollektiven Gedächtnis geblieben sind.

"Hat die Kamera das?"

Apropos dreieinhalb Minuten: Wurden die Rohfassungen und nicht gesendeten Aufnahmen bald danach überspielt und entsorgt, damit niemand Jahrzehnte später die Reste ausschlachtet? Oder schlummern diese ungeschliffenen Juwelen noch im Archiv von Radio Bremen? Nicht geschnittene Bilder könnte wohl auch der offizielle Mitschnitt des Parteitages liefern, der auf mehr als dreißig Videokassetten im antiquierten U-matic-Format in unserer audiovisuellen Sammlung verwahrt wird. Doch da sich bei der Sichtung umgehend die typischen Ausfallerscheinungen des gealterten Bandmaterials zeigten, müssen die Bänder erst in einem speziellen Verfahren "aufgebacken" und digitalisiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Szenen wenigstens der Videokamera ins Netz gingen; der Bonner Fotograf Jupp Darchinger und seine beiden Söhne Frank und Marc, die den Parteitag auf hundert Filmen dokumentierten, haben Kerkeling jedenfalls verpasst, wie sich bei der Sichtung der etwa 3600 Negative herausstellte ...

"Schade, schade, schade!"

Nach dem Parteitag in Bremen gingen die Beinahe-Konkurrenten höchst unterschiedliche Wege. Hape Kerkeling produzierte nach Total Normal mehrere TV- und Kinofilme mit heutigem Kultstatus (Kein Pardon, Club Las Piranjas). Nach mehreren Flops gelang ihm 1999 ein Comeback bei SAT.1, wo er die Werbeclip-Recyclingshow Darüber lacht die Welt mit zumeist medienkritischen Streichen aufmöbelte. Neben vielen weiteren Moderationen lief er insbesondere als abgehalfterter Lokaljournalist Horst Schlämmer zu erneuter Hochform auf. Seine Bücher Ich bin dann mal weg und Der Junge muss an die frische Luft wurden vom Feuilleton gefeierte Bestseller. Für den Herbst 2021 ist Kerkelings Rückkehr auf den Fernsehbildschirm bei RTL angekündigt.

Die SPD sonnte sich nach ihrem Parteitag in Bremen in steigenden Umfragewerten von bis zu 40 Prozent, geriet ab dem Herbst 1991 jedoch in schweres Fahrwasser, aufgewühlt durch innenpolitische Verwerfungen: Fremdenfeindlichkeit war auf dem Vormarsch, rechtsextreme Parteien wurden in neugewählte Landesparlamente in Bremen, Baden-Württemberg und auch in Schleswig-Holstein gespült, der Rechtsruck entfachte tödliche Anschläge gegen Ausländer und Asylanten. Die Abwehrreflexe der Bundesregierung zur Begrenzung der Zuwanderung stellten die Sozialdemokrat_innen - ihre Stimmen wurden im Bundestag für eine Änderung des Asylrechts mit Zweidrittel-Mehrheit benötigt - vor eine Zerreißprobe. Anstatt sich scharf von ihr abzugrenzen, kooperierte die SPD mit der Regierung, weitere Verschärfungen auf dem Gebiet der inneren Sicherheit und Verbrechensbekämpfung ließen den Oppositionskurs schlingern.

"Im Moment noch tragisch, aber es kann noch sehr komisch werden!"

Während die Zustimmungswerte der SPD in absoluten Zahlen sanken, war ihr Vorsitzender Björn Engholm bundesweit stets der beliebteste Sozialdemokrat. Im Januar 1992 meldete er den Anspruch auf die nächste Kanzlerkandidatur an und setzte auch auf öffentlichkeitswirksame Auftritte in den vermeintlichen Niederungen der Fernsehunterhaltung. Als am 14. Dezember 1991 Wetten, dass..? aus Kiel gesendet wurde, plauderte der Landesvater als Wettpate mit Thomas Gottschalk auf dem Sofa. Seinen Wetteinsatz, im Wattenmeer eigens gefischte Krabben pulen und sie zu einem wohltätigen Zweck versteigern zu wollen, löste Engholm jedoch erst im Juli 1992 mit Gottschalks Nachfolger Wolfgang Lippert im Hafen von Büsum ein, passend zum Auftakt seiner traditionellen Sommertour durch Schleswig-Holstein. Im Rahmen dieser Rundreise stürzte Engholm Anfang August auch am Ortseingang von Deekelsen "beim Rechtsabbiegen" vom Fahrrad und schleppte sich mit aufgeschürftem Unterarm in die Landarzt-Praxis ("Wann sind Sie das letzte Mal gegen Tetanus geimpft worden?" Patient: "Das ist 30 Jahre her, denke ich, da war ich noch ganz junger Juso ...").
 

Derlei Auftritte waren höchst umstritten, doch als die 59. Der Landarzt-Episode am 12. März 1993 ausgestrahlt wurde, hatte Engholm bereits mit einem ganz anderen Wundstarrkrampf zu kämpfen: die üblen Machenschaften des CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel und seines Referenten Pfeiffer im Jahre 1987 und ihre juristische Aufarbeitung warfen so lange Schatten, dass sie Engholm wegen dessen Umgang mit der sich nunmehr gegen die SPD Schleswig-Holstein richtenden Schubladenaffäre um zwielichtige Geldzahlungen an Barschels Handlanger einholten. Nachdem auch noch frühere, vor dem "Waterkantgate"-Untersuchungsausschuss gemachte Aussagen zum Wissensstand rund um die dreckigen Kampagnen von Barschel & Co. sich als unrichtig herausstellten, zog Engholm die Konsequenzen und trat am 5. Mai 1993 von allen politischen Ämtern zurück. Wenige Monate vor ihrem 125-Jahre-Jubiläum und dem Superwahljahr 1994 (Bundestagswahl, acht Landtagswahlen, viele Kommunalwahlen, Europawahl, Wahl des nächsten Bundespräsidenten) stand die SPD ohne Vorsitzenden und ohne Kanzlerkandidaten da.

"Herr Schröder, da müssen wir jetzt beide durch!"

Die Sozialdemokrat_innen machten aus ihrer Not eine Tugend und starteten im Juni 1993 eine Mitgliederbefragung, die gar nicht möglich gewesen wäre ohne Björn Engholms bereits auf dem Parteitag in Bremen skizzierte Bestrebungen, die Partei moderner und offener gestalten, mehr Bürgernähe zuzulassen und die innerparteiliche Demokratie stärken zu wollen. Plötzlich stellten sich - erstmals in der Nachkriegsgeschichte der SPD - mehrere Kandidat_innen für das Amt der/des Parteivorsitzenden zur Wahl, neben Rudolf Scharping und Heidemarie Wieczorek-Zeul auch Gerhard Schröder. Ihn, so möchte man fast meinen, könnte Hape Kerkelings vergebliche Gegenkandidatur in Bremen so nachhaltig beeindruckt haben, dass er wiederum zwei Jahre und eine erneut verlorengegangene Bundestagswahl später im November 1995 zu Beginn des SPD-Parteitages in Mannheim als parteiinterner Kritiker des Vorsitzenden Scharping am Podium stand und mit der Schlussbemerkung "gleichwohl, liebe Genossinnen und Genossen, werdet ihr euch entscheiden müssen, ich kandidiere nämlich!" für Schrecksekunden sorgte - bis er zurück zum Mikrofon eilte und "Zum Vorstand, damit das klar ist!" hinterherschob. Diesen als Scherz offen ausgesprochenen Gedanken einer Gegen- bzw. Kampfkandidatur um den Parteivorsitz setzte Oskar Lafontaine zwei Tage später in die Tat um, der Rest ist Geschichte.

Hape Kerkeling war und ist kein Vordenker der SPD, aber vielleicht wurde im Mai 1991 doch ein Keim gelegt, der Jahre später aufging? Auf jeden Fall hat seine witzige Eulenspiegelei auf dem Bremer Parteitag rückblickend und im Abstand von mehreren Jahrzehnten deutlich an Ironie und an Schärfentiefe gewonnen.

Sven Haarmann

 

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