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Archiv der sozialen Demokratie

 

Es geht nicht um die SPD, sondern um die soziale Demokratie

„Erneuerung oder Niedergang?“ – diese Frage überschrieb in den vergangenen Monaten eine sechsteilige Gesprächsreihe zur Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien in Europa seit 1970, veranstaltet von der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Die Bilanzder Gespräche zwischen Expert*innen aus Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie fiel ambivalent aus: Auf den fulminanten Erfolg sozialdemokratischer Wohlstands- und Mitbestimmungserweiterung bis in die 1970er-Jahre folgten Jahrzehnte des Niedergangs, des Scheiterns und jüngst sogar des örtlichen Verschwindens der Sozialdemokratie als politische Kraft. Die in den Gesprächen stets mitverhandelten Aussichten für die Zukunft waren überwiegend von Pessimismus gekennzeichnet: „Erneuerung“ der Sozialdemokratie wurde als ein dringend notwendiges, aber zugleich unerreichbar scheinendes Fernziel verhandelt.

Die genannten Gründe für die ambivalente Bilanz sind stichhaltig: Der Zusammenhang zwischen keynesianischem Boom, Strukturwandel der Industriegesellschaften und Globalisierung einerseits und einer in den 1970er-Jahren brechenden sozialdemokratischen Auf- und dann Abstiegserzählung andererseits ist überaus deutlich. Die Gründe für den Niedergang sahen die Gesprächsgäste denn auch nicht einseitig oder allein in einer vermeintlich erfüllten Jahrhundertaufgabe, einer von neoliberalen Verirrungen durchzogenen programmatischen Innovationsunfähigkeit oder unglücklichen Personal- und Kommunikationsentscheidungen. Die Ursachen sind vielschichtiger und unauflöslich verbunden mit den epochalen wirtschaftlich-strukturellen, politischen, demographischen und soziokulturellen Umbrüchen unserer Zeit.

So wenig die ernüchternde Bilanz der Reihe überrascht, so sehr erstaunt aber der nüchtern-ratlose Ton der Perspektivendiskussionen. Zwar wurden all die Themenfelder benannt, in denen visionäre Antworten gefragt sind, doch wie diese konkret aussehen könnten und sollten, blieb weitgehend offen. So könnten die Europäisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik und eine damit verbundene europäische Sozialpolitik zwar ein möglicher Ausweg sein, wie diskutiert wurde, da eine solche Forderung aber sowohl schwer umsetzbar als auch schwer vermittelbar sei, scheitert diese potentielle Vision schon an der eigenen Verzagtheit. Dabei zeigt die aktuelle Entwicklung in Richtung Einführung einer globalen Mindeststeuer für Unternehmensgewinne, für die die SPD energisch gekämpft hat, dass die Grenzen des Machbaren und damit auch des Vorstellbaren alles andere als festgezogen sind. Zu konstatieren, dass Weltordnung und sozialdemokratischer Erfolg auf das Engste miteinander verwoben sind und dass ein Festhalten an der Idee nationaler Wohlfahrtsstaaten allein keine hinreichende Antwort auf die Globalisierung, Digitalisierung und Virtualisierung der Welt sein kann, mag zutreffen, reicht aber bei weitem nicht aus. Die Frage ist vielmehr, mit welchem Gestaltungsanspruch man sich dieser neuen „Weltunordnung“ stellt.

Ein anderes Beispiel ist die hohe Relevanz von nach wie vor vorhandenen sozialen Unterschieden und Ungerechtigkeiten, wie sie in der Reihe unter dem Stichwort „Solidarität“ diskutiert wurden. Nur ansatzweise wurde jedoch auf das Potential eingegangen, das in einem modernisierten, „nachtraditionalen“ Solidaritätsbegriff steckt, wie es Helga Grebing einmal formuliert hat: Heute sollte solidarisches Handeln als soziales Beziehungssystem jedes und jeder Einzelnen gedacht werden, in dem Arbeit, Familienleben, Freizeit und die weitere Umwelt als ganzheitlich und miteinander verwoben betrachtet werden. Arbeit als zentraler Bereich gesellschaftlicher Teilhabe, in dem sich Fragen der materiellen, kulturellen und politischen Partizipation verdichten, verfestigen oder verflüchtigen, könnte damit noch immer ein Kernbereich sozialdemokratischer Kompetenz bleiben. In einer ganzheitlichen Neufassung des Solidaritätsbegriffs, in einer Perspektive, die „Arbeit“ in einem weiten Sinne auch als Demokratisierungsinstanz versteht, steckt ein enormes Potential für eine tragfähige Idee von sozialer Demokratie für das 21. Jahrhundert.

Diese soziale Demokratieidee, die sich eben nicht auf das „Versöhnen“ des „Nationalen“ mit dem „Sozialen“ kapriziert, wie man es im konservativ-neurechten Lager gelegentlich tut, sondern auf die Verbindung des Demokratischen mit dem Sozialen, lässt sich umstandslos aus der langen Geschichte der Sozialdemokratie ableiten. Die SPD war über lange Zeit, hinsichtlich ihrer sozialen Basis und des sozialen Raums, in dem sie entstanden ist, eine Klassenpartei, eine Arbeiterbewegungspartei. Sie strebte aber immer auch danach, jene Lassallschen „89 Prozent“ zu erreichen, die ohne nennenswerten Besitz waren. Es ging letztlich um die soziale und politische Teilhabe aller in einer Gesellschaft lebenden Personen. Die „soziale Frage“ war stets eine politische Frage – eine Binsenweisheit, mit der sich dennoch jede immer wieder neu und anders damit konfrontierte Generation selbst auseinandersetzen muss. Gerade in Zeiten, in denen die liberale, repräsentative Demokratie gewaltig unter Druck steht, scheint es essentiell, an das politische Ur-Werk der SPD, nämlich die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland, nicht nur ritualisiert zu erinnern, sondern aktiv und kreativ anzuknüpfen.

Aktuell steht die Sozialdemokratie jedoch vor allem für eine kleinteilige, wähler-, nein kundenorientierte Verwaltung der bestehenden Verhältnisse – nichts unterstreicht dies so deutlich wie der Leitspruch unter dem der aktuelle Wahlkampf steht: „Soziale Politik für Dich“! Sicher hat die SPD im Laufe der Zeit viele wichtige Reformen für mittlere und untere Einkommensgruppen angestoßen und strebt weitere an. Anspruch kann und sollte es aber nach wie vor sein, sich als Champion für die Demokratie nicht nur selbstverständlich nach rechts abzugrenzen, sondern für eine größtmögliche Teilhabe im umfassenden Sinne aktiv zu engagieren. Dass auf dieser Ebene derzeit nicht viel (oder vor allem auf der ermüdenden Identitätsdiskursebene) diskutiert wird, ist sicher auch eine Folge der schattigeren Seite sozialdemokratischer Geschichte, die sehr lange sehr männlich und „einheimisch“ dominiert war.

Ebenso nachdrücklich sei daran erinnert, dass die SPD immer eine Kämpferin für Bildung, Selbstbildung, soziale Mobilität und Aufstieg war. Und dabei ging es nie darum, dass jede und jeder einen akademisierten Lebenslauf erlangen oder es zu großem Wohlstand bringen muss. Zum ursprünglichen Menschenbild und damit Programmdenken der Sozialdemokratie gehörte es vielmehr, jedem einzelnen Menschen die bestmögliche Entfaltung zu ermöglichen – Umstände zu schaffen, die, entsprechend den individuellen Begabungen und Neigungen, eine freie persönliche Entwicklung befördern. Man erreicht eine große Zahl von Menschen nicht mehr, wenn man die Themen Bildung, Chancengleichheit und damit das Versprechen einer freien und zugleich gemeinwohlgebundenen Selbstentfaltung nicht wieder stärker und vor allem strukturpolitischer in den Vordergrund rückt. Bildung im Sinne von Aufklärung und Selbstaufklärung und das Ideal einer infolgedessen humaneren Gesellschaft – dies waren die weit ins 20. Jahrhundert hineinwirkenden, tatsächlich „geschichtsmächtigen“ Kernanliegen der „alten“ sozialdemokratischen Bewegungen.

Karl Marx hat Begriffe geprägt und Theorien entworfen, die vielen damals das Gefühl gaben, die Zusammenhänge einer nicht nur immer raueren, sondern auch zunehmend komplexeren sozialen Wirklichkeit zu verstehen. Er hat den Kapitalismus als Matrix sichtbar und damit für viele seiner Zeitgenossen verstehbar gemacht. Diese Fähigkeit, die zeitnahe gesellschaftliche Lage erklären zu können – oder zumindest die effektive Behauptung einer solchen Fähigkeit – braucht jede ernsthaft um nachhaltige, also nicht nur emotionale, sondern rationale Zustimmung bemühte Partei. Dass dies derzeit so wenig gelingt, hat nicht zuletzt und nicht nur an der Oberfläche mit politischer Sprache und Kommunikationsfähigkeit zu tun. Man spürt deutlich, dass es an Begriffen fehlt, dass es schwerfällt, eine immer komplexere Welt auf „einen“ Begriff zu bringen. Die Lösung liegt nun nicht darin, alte Begriffe wieder aufzuwärmen; jede Zeit hat ihre eigenen, gültigen Begriffe. Gerade dafür ist der Austausch zwischen Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kultur und Politik essentiell – und gerade um diesen Austausch steht es derzeitig eher schlecht.

Ein nicht nur programmatisch, sondern auch personell glaubwürdiger Bezug auf die klassischen, Individual- und Gemeinwohl balancierenden Teilhabe- und Aufstiegsversprechen, sowie ein den Umständen angemessener analytischer, semantischer und visionärer grip auf die reale Welt, wären unverzichtbare Grundpfeiler der viel geforderten „neuen Erzählung“ der sozialen Demokratie. Derzeit gibt es zwei dominante Krisenerzählungen: die fatalistische Krisenerzählung der AfD, die Mischung aus altem Rassismus und neuen Ressentiments als Programmatik verkauft, und die optimistische Krisenerzählung der Grünen, die mit großer Ausdauer, Disziplin und intellektueller Kraft ein doch beeindruckendes Beispiel dafür geliefert haben, was „programmatische Erneuerung“ – und zwar mit Blick auf nichts weniger als die Rettung der Welt – heißen kann. Der Sozialdemokratie würde in dieser Gemengelage die Suche nach einer pragmatischen Krisenerzählung sowohl historisch als auch politisch gut anstehen. Es spricht Einiges dafür, dass dies nicht in, sondern eher jenseits der derzeit existierenden sozialdemokratischen Parteien gelingen kann.

Christina Morina


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