100 Jahre FES! Mehr erfahren

"Und was mache ich mit der Haarlocke?" - Die Digitalisierung des Nachlasses von Hugo Sinzheimer

Eine Haarlocke, Blumen, beschriftete Servietten, Tonbänder unterschiedlicher Standards, Briefe aus nationalsozialistischer Haft – und natürlich viele weitere Unterlagen aus Papier – all dies enthält der Nachlass des bedeutenden Arbeitsrechtlers und Sozialdemokraten Hugo Sinzheimer.

Nachlässe dokumentieren Handlungen, Motive, Gedanken und das persönliche Umfeld des Nachlassers bzw. der Nachlasserin. Dadurch erhält man eine individualisierte Perspektive auf politische, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklungen. Diese Blickwinkel können Lebensbereiche sichtbar machen, die durch die Überlieferung von Organisationen nicht erfasst werden können und sind besonders bei Hugo Sinzheimer vielfältig und wertvoll.

Wer war Hugo Sinzheimer?

Hugo Sinzheimer wurde 1875 in Worms geboren und war im Laufe seines Lebens Rechtsanwalt, SPD-Politiker und Honorarprofessor für Arbeitsrecht. Durch sein Wirken in diesen verschiedenen Bereichen gelang es ihm unter anderem das deutsche Arbeitsrecht mitzubegründen und ihm gleichzeitig seinen Rang als eigenständiges Rechtsgebiet zu sichern. Seine jüdische Religion und die Mitgliedschaft in der SPD führten ihn auf doppelte Weise ins Visier der Nationalsozialisten. Trotz mehrfacher Verhaftung in Deutschland und später in den besetzten Niederlanden gelangen es ihm und seiner Frau aber die NS-Zeit zu überleben. Daher bietet Sinzheimers Nachlass eine einzigartige Perspektive auf die deutsch-jüdische (Rechts-)Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die hybride Scanstation des AdsD

Um den Nachlass möglichst breit zugänglich zu machen, fassten wir den Entschluss, ihn zu digitalisieren. Als Werkzeug zur Digitalisierung diente uns die abgebildete hybride Scanstation. Diese besteht aus drei Komponenten:
1) der auf dem linken Tisch stehende Aufsichtsscanner für fragile Objekte bis DIN A2: Hier werden die Objekte auf eine gepolsterte Buchwippe gelegt und mit einer herunterklappbaren Glasplatte fixiert. Anschließend wird durch eine über der Glasplatte fest verbaute Kamera ein Scan angefertigt.
2) der auf dem rechten Tisch stehende, speziell für Kulturgut modifizierte Einzugsscanner für Objekte in gutem Zustand: Hier werden die Objekte mit Rollen in den Scanner transportiert, gescannt und anschließend wieder ausgegeben.
3) der unterhalb des linken Tisches sichtbare Computer, über den beide Scanner verbunden sind und mittels Software gesteuert werden können.

Die gleichzeitige Steuerung beider Scanner macht die Scanstation zu einer „hybriden“ Scanstation: Man kann so bis auf Einzelblattebene entscheiden, welchen Scanner man für welches Objekt verwenden möchte. Die von den beiden Scannern erzeugten Digitalisate werden direkt zusammengeführt. (Eine ausführlichere Beschreibung der hybriden Scanstation findet sich hier.)

Digitalisierung und Transkription

Doch zurück zum Sinzheimer-Nachlass: Bei einer kurzen ersten Durchsicht der Objekte führten wir eine konservatorische Prüfung durch und erfassten die Anzahl der Objekte. Die Prüfung ergab, dass eines der im Nachlass enthaltenen gebundenen Notizbücher vor der Digitalisierung zunächst durch die Werkstatt für Papierrestaurierung des LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum restauriert werden musste.

Anschließend legten wir fest, wie die Digitalisate der Objekte erzeugt werden sollten. Aus den Digitalisaten, die zunächst nur als Bilder vorliegen, sollten Texte extrahiert werden. Die zu diesem Zweck von uns verwendete Technik nennt sich Handwritten Text Recognition (HTR) und wird unter anderem von der Plattform Transkribus angeboten. Vereinfacht lässt sich sagen, dass hierbei die Scans der Objekte automatisiert in Textzeilen zerlegt werden und diese unter Verwendung von künstlicher Intelligenz entziffert werden.

Beim eigentlichen Scanvorgang stießen wir jedoch auf ein Problem: Zwar waren die Briefe Hugo und Paula Sinzheimers durchgehend in einem für den Einzugsscanner geeigneten Zustand, allerdings waren sie zu einem großen Teil zweispaltig. Leider war Transkribus bei ersten Tests nicht in der Lage, das Layout korrekt zu erkennen und die Zeilen in der korrekten Reihenfolge zu sortieren.

Daher entschieden wir, dass die mehrspaltigen Briefe nicht mit dem Einzugsscanner, sondern mit dem Aufsichtsscanner digitalisiert werden sollten. Das verlangsamte den Digitalisierungsvorgang zwar erheblich, dafür konnten die Digitalisate der Briefe mit diesem Scanner aber aufgeteilt werden, d. h. pro Spalte ein Bild. Dies war uns auch deshalb wichtig, weil wir unseren Nutzer_innen die zukünftige Möglichkeit der Auswertung des Briefwechsels mithilfe Künstlicher Intelligenz offenhalten wollten.

Nachdem für das Scannen der Briefe mehr Zeit aufgewendet werden musste, brauchten wir für das Scannen einiger gebundenen Notizbücher deutlich weniger Zeit als ursprünglich geplant. Auch die Bearbeitung der zwei im Nachlass enthaltenen analogen Tonträger konnte im Rahmen einer vom AdsD ohnehin in Auftrag gegebenen Digitalisierung größerer Mengen an Tonträgern zügig abgeschlossen werden. Durch die Verwendung unseres Einzugsscanners bei einspaltigen Briefen beschleunigten wir die Digitalisierung des Nachlasses enorm, ohne die Objekte dabei zu schädigen.

Schwierigkeiten bei KI-gestützter Transkription

Die Digitalisate der beschriebenen Objekte unterzogen wir nun mit Transkribus einer HTR. Das Ergebnis war zwar durchaus brauchbar, erreichte allerdings nicht die Qualität einer professionellen Transkription. Als Beispiel dafür dient die im Bild markierte Zeile: Diese wird vom Transkribus als „worin, sich sich nie zu ihm schrieben und mehr“ transkribiert. Das ist natürlich Quatsch: die Zeile steht schlicht auf dem Kopf. In Wirklichkeit steht dort „Morgen früh spreche ich mit Wertheimer, der“. Trotz solcher Fehler muss jedoch betont werden, dass durch den von Transkribus erstellten Text der paläografische Einstieg in die unterschiedlichen Handschriften der Familie Sinzheimer ungemein erleichtert wird.

Schlussendlich traf auch das mittlerweile restaurierte Notizbuch ein. Wegen seiner Fragilität digitalisierten wir es mit dem Aufsichtscanner. Nach der obligatorischen Textextraktion durch Transkribus war somit auch das letzte Objekt des Nachlasses digitalisiert.

Am Ende dieses Projektes steht die allgemeine Verfügbarkeit und Durchsuchbarkeit von circa 4.700 spannenden Seiten deutsch-jüdischer (Rechts-)Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich auf Briefe, Notizbücher, Fotoalben und einzelne Fotos, Zeitungsartikel, Zeugnisse und Pässe aufteilt. Und um unsere Frage vom Anfang zu beantworten: Die Haarlocke haben wir übrigens, ganz behutsam, mit dem Aufsichtsscanner digitalisiert.

Der digitalisierte Nachlass steht Interessierten hier zur Verfügung.

 

Weiterführende Literatur

Kempen, Otto Ernst: Hugo Sinzheimer. Architekt des kollektiven Arbeitsrechts und Verfassungspolitiker, Frankfurt am Main 2017.

Weiss, Manfred: Arbeitsrechtswissenschaft auf den Spuren Hugo Sinzheimers, Frankfurt am Main 2015.

Wolf, Abraham de: Hugo Sinzheimer und das jüdische Gesetzesdenken im deutschen Arbeitsrecht, in: Jüdische Miniaturen, Bd. 159, Berlin 2015.


Sie wollen über unsere Beiträge auf dem Laufenden bleiben? Dann folgen Sie uns einfach auf Bluesky oder Mastodon oder schreiben uns eine Mail an public.history(at)fes.de, um sich für unseren Newsletter anzumelden.

Ansprechpartner für den Blog Feshistory ist PD Dr. Stefan Müller (Stefan.Mueller(at)fes.de0228 883-8068).

Neueste Blogbeiträge

Sommer in Amsterdam: Mein Praktikum im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG)

Außenansicht des IISG

Im Rahmen der Ausbildung zur Fachangestellten für Medien und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv (FaMI), empfiehlt es sich, auch in andere Fachrichtungen hineinzuschauen. Unsere Auszubildende Nike Pfaue absolvierte ein Auslandspraktikum beim Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam.


weitere Informationen

Gedächtnisorte der Arbeiterbewegung und NS-Raubgut

Stürmung des Leipziger Gewerkschaftshauses durch Nationalsozialisten. Bücher und Dokumente werden vernichtet und aus den Fesntern geworfen.

Im Rahmen seines bibliothekarischen Provenienzforschungsprojekts veranstaltete das Archiv der sozialen Demokratie am 15. und 16. Oktober 2025 eine Fachtagung zum Thema „Provenienzforschung und Arbeiterbewegungsgeschichte“. Genese und Zielsetzung der Tagung werden an dieser Stelle reflektiert.


weitere Informationen

Otto Hörsing: Ein Sozialdemokrat im Kampf für die Weimarer Republik

Der Sozialdemokrat Otto Hörsing gründete 1924 das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das sich binnen kurzer Zeit zur größten der SPD nahestehenden Massenorganisation entwickelte. Dennoch ist Hörsing heute weitgehend vergessen – warum?


weitere Informationen

Revolution in der Westukraine 1918: Eine demokratische Republik zwischen aufmarschierenden Armeen

Denkmal zu Ehren des Aktes der Vereinigung der Ukrainischen Volksrepublik und der Westukrainischen Volksrepublik am 22. Januar 1919 (Dnipro), 2017

Dieser Beitrag ist die Fortsetzung einer Artikelserie über die ukrainische Revolution 1917-1921 („Das fortschrittliche Erbe der Ukrainischen Volksrepublik”) und befasst sich mit der Entwicklung in der Westukraine.


weitere Informationen
nach oben