Donnerstag, 03.02.22 10:30 bis Donnerstag, 03.02.22 12:00

Nachbericht | Wendepunkt in der beruflichen Pflege: Perspektiven für Zukunftsberufe


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Wendepunkt in der beruflichen Pflege: Perspektiven für Zukunftsberufe

Veranstaltungsbericht

 

Die berufliche Pflege in NRW ist nicht nur von großer gesellschaftlicher Bedeutung, sondern hat auch wirtschaftliche Relevanz. Der Beschäftigungsanteil im Pflegesektor ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. Pflegeberufe sind Schlüssel- und Zukunftsberufe. Gerade im Pflegebereich existieren aber auch besonders dringliche Handlungsbedarfe für strukturelle Verbesserungen. So konstatiert der Rat der Arbeitswelt, ein unabhängiges Beratungsgremium der Bundesregierung, in seinem ersten Bericht, dass es zeitnaher Lösungen zur Aufwertung von Pflegeberufen bedarf. Dazu braucht es flächendeckend bessere Löhne, eine Stärkung von Arbeits- und Gesundheitsschutz und die Schaffung neuer Berufsperspektiven im Pflegebereich.

Gemeinsam mit Beschäftigten und Interessenvertreter_innen in der Pflege, mit Sachverständigen aus der Wissenschaft und politischen Akteur_innen wurden im Werkstattgespräch des Landesbüros NRW der Friedrich-Ebert-Stiftung am 03.02.2022 Antworten auf die drängendsten Fragen zur Gestaltung eines zukunftsfähigen Pflegesektors diskutiert. Wie gelingt es, dass der stark wachsende Beschäftigungssektor der beruflichen Pflege in NRW nicht nur in seiner sozialen, sondern auch in seiner wirtschaftlichen Bedeutung anerkannt wird? Wie können gerechte Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen erreicht werden? Wie kann die digitale Transformation in der Pflege gestaltet werden, damit sie zu einer Verbesserung von Beschäftigungsverhältnissen und Qualität der Pflege beiträgt? Und: Was muss sich an der Ausbildung in NRW ändern, damit sie den Veränderungen in der Pflege gerecht wird?

Die Veranstaltung unter der Moderation von Vivien Leue begann mit einem Impulsvortrag von Michaela Evans, Direktorin des Forschungsschwerpunkts Arbeit & Wandel am Institut für Arbeit und Technik, Westfälische Hochschule Gelsenkirchen und Mitglied im Rat der Arbeitswelt. Michaela Evans konstatiert für NRW eine steigende Fachkräftelücke. Es seien zwar mehr Menschen ausgebildet worden, den steigenden Bedarf könne dies aber nicht abdecken. Zudem sei die Erfolgsquote der Abschlüsse in der Pflegeausbildung, die zwischen 2002 und 2019 bei 60 bis 70 Prozent lag, weiterhin zu gering. Evans betonte daraufhin die Notwendigkeit, ausbildungs- und qualifizierungsinteressierte Menschen in beruflichen Qualifizierungsphasen in der Pflege individueller und gezielter zu unterstützen und zu begleiten.

Neben der Ausbildung nannte Evans die Digitalisierung als einen Schlüsselmoment für die Zukunft der Pflege. Eine curriculare Stärkung der Themen „Arbeitsunterstützende Technologien“, „Arbeitsgestaltung in hybriden Versorgungskontexten“ und „Reflexion der eigenen Berufsrolle“ sowie der Ausbau digitalisierungsrelevanter Weiter-/ Fortbildungsangebote für Lehrpersonen in der Pflege sei dringend notwendig. Auch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen müssten zunehmende Anforderungen durch die Digitalisierung künftig stärker spiegeln.

Als dritten Punkt nannte Evans den (industriellen) Strukturwandel und die Fachkräftesicherung, die viele Branchen in NRW vor enorme Herausforderungen stelle. Neue Berufswege und -chancen erhöhten die Notwendigkeit beruflicher und betrieblicher Weiterbildung. Ein zentrales Hemmnis mit Blick auf diese Weiterbildungen sei ihrer Argumentation folgend die Pflege von Angehörigen, die gleichzeitig auch eine enorme Entlastung des Pflegesektor darstelle. Besonders wichtig sei deshalb eine Weiterentwicklung der Versorgung vor Ort in vernetzten Strukturen, gerade auch zwischen Pflegeeinrichtungen und anderen Branchen (Ausbau der Kurzzeit-/ Tagespflege), ein Mehr an Aufmerksamkeit für neue Versorgungskonzepte und ein Aufzeigen von neuen Formen der (interprofessionellen) Arbeitsorganisation und der Entwicklung von Aufgaben- und Tätigkeitsfeldern in der ambulanten Versorgung.

Am Ende ihres Impulsvortrages machte Evans zudem deutlich, dass es eine (Lohn-) Aufwertung der pflegerischen Berufe brauche. Gerade im Bereich der Altenpflege sei noch viel Luft nach oben. Eine Aufwertung in diesem Bereich könne die berufliche Mobilität zwischen pflegerischen Einsatzfeldern erhöhen. Dazu brauche es aber nicht nur eine Erhöhung der Löhne, sondern eine strukturelle Aufwertung des Berufsfeldes.

Im Anschluss an den Impuls-Vortrag gaben Reiner Schmidt, Krankenpfleger und Personalrat im Universitätsklinikum in Essen, und Katharina Wesenick, ver.di, Landesfachbereitsleiterin Gesundheits- und Sozialwesen, einen Einblick aus der Praxis. Schmidt machte es ganz deutlich: „Die Ressourcen sind komplett aufgebraucht, die Mitarbeitenden ausgebrannt.“ 17 Pfleger_innen von der Covid-Station befänden sich in psychotherapeutischer Behandlung. Grund dafür sei nicht allein die Corona-Pandemie, schon vor drei Jahren habe es einen zwölfwöchigen Streik gegeben. Die daraus entstandenen Vereinbarungen konnten aufgrund des Personalmangels aber nicht langfristig eingehalten werden, berichtete Schmidt. Besonders den wirtschaftlichen Konkurrenzdruck im Gesundheitswesen und die unzureichende Finanzierung sorge für immer mehr Verärgerung und Frust.

Katharina Wesenick bezeichnete die Problematik im Pflegebereich als „gesellschaftliche Zeitbombe“. Aus ihrer Sicht gibt es eine „politisch erzeugte Berufsflucht“. Es gäbe kein gesunkenes Interesse an pflegerischen Berufen, sondern eine Abwanderung des Personals aufgrund von Aspekten wie dem Fallpauschalsystem und der Kommerzialisierung des Gesundheitssystems allgemein. Aus ihrer Sicht müsste die Privatisierung gestoppt und rückgängig gemacht werden, die Personalbemessung per Gesetz festgelegt und die „gesellschaftlichen Scheinwerfer angeknippst werden, um positive Beispiele hervorzuheben“. Bei den politischen Forderungen der Beschäftigten ginge es hauptsächlich um die Einhaltung von Gesetzten, erläuterte sie. Wesenick machte auch deutlich, dass ohne Personalmaßnahmen, die auf Bundesebene angeschoben werden, „auf keinen Fall die bis zu 300.000 Kolleg_innen, die wir bis 2035 brauchen werden, gewonnen werden können.“

Aus der Diskussion ergeben sich auch Forderungen an die Politik. Thomas KutschatyMdL, Vorsitzender der SPD-Fraktion im NRW-Landtag kommentierte diese und machte deutlich, dass ein erster Erfolg darin bestehe, dass das Thema Pflege mittleiweile prominent im öffentlichen und politischen Diskurs verankert sei. Dies sei die Voraussetzung, um zu einer Lösung zu kommen. „Wir stehen vor einem Dilemma: Wir machen völlig zurecht darauf aufmerksam, wie stark die Belastungen in der Pflege sind. Aber auf der anderen Seite sagen wir: Aber komm doch in die Pflege! Das Dilemma müssen wir durchbrechen, sonst schaffen wir es nicht, für Entlastung zu sorgen“, so Kutschaty. Der Beruf müsse attraktiver gestaltet werden, indem Arbeitsbelastungen reduziert würden. Konkret bedeute dies: Stundenreduzierung bei gleichem Lohn, stationäre Pflege als letzte Maßnahme, mehr Tagespflege-Unterstützungen. Ein Teil der Lösung könne der lokale Pflegestützpunkte sein, um Beratung und Weiterbildung vor Ort garantieren zu können. Weiterhin sprach sich Kutschaty dafür aus, Pflege zu Hause mehr wertzuschätzen, beispielsweise über eine Anerkennung bei den Renten oder Vergünstigungen in verschiedenen Bereichen. Mehr Anerkennung brauche auch die Ausbildung an sich. „Der Respekt vor jeder Berufsausbildung ist abhandengekommen“, „wir müssen weg vom Akademisierungswahn“, betonte Kutschaty.

Die anschließende Diskussion, die auch die Teilnehmenden vor den Bildschirmen miteinschloss, drehte sich um Themen, wie die Unterstützung von privat Pflegenden - zum Beispiel durch eine Art Pflegezeit als Äquivalent zu einer Elternzeit und um das viel diskutierte Thema einer möglichen Pflegekammer in NRW. Aus dem Chat kam zudem ein Hinweis eines Teilnehmers, zur Verschärfung der Arbeitsbedingungen von Pflegekräften durch Mitarbeitende von Zeitarbeitsfirmen, die mit einer selbstbestimmten Schichteinteilung und übertariflicher Bezahlung angelockt würden. Auch das Thema der Ausbildung von Lehrpersonal wurde auf Anregung einer Diskussionsteilnehmerin angesprochen. Sie erläuterte, dass Berufsschullehrer_innen im pflegerischen Bereich zum Großteil an privaten Hochschulen mit horrenden Studiengebühren ausgebildet würden und forderte einen verstärkten Fokus auf staatliche Hochschulen.

Daran anschließend wurde auch über die mögliche Akademisierung der pflegerischen Ausbildung diskutiert. Ein Diskussionsteilnehmer schlug dahingehend ein modulares Studium vor, dass an verschiedenen Stellen abgeschlossen werden könne und daher nicht zu einer Abwertung der klassischen Berufsausbildung führe. Mit Blick auf das Thema der Digitalisierung betonte Reiner Schmidt, dass es durchaus arbeitserleichternd sein könne, beispielsweise in Form der elektronischen Patient_innenakte. Gleichzeitig müsse die Digitalisierung schon in der Ausbildung thematisiert und die Pflegekräfte dahingehend professionalisiert werden. Nur so könne gute Arbeit mit Digitalisierung funktionieren.

Am Ende der Veranstaltung wurde noch einmal deutlich betont, dass die Abwanderung vieler Pflegekräfte kein Ausstieg aus der pflegerischen Versorgung, sondern vielmehr eine Flucht aus den Rahmenbedingungen der klinischen Versorgung darstellt. Diese grundlegend zu verbessern, sei eine der vielen Herausforderungen. Gleichzeitig müsse das Berufsfeld attraktiver gestaltet werden, um junge Menschen anzuwerben und mehr qualifizierte Ausbildungsabschlüsse zu erreichen. Katharina Wesenick brachte es auf den Punkt: „Die Leute gehen raus und keiner geht rein, weil die Leute rausgehen. Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen“. Dazu sei es aus ihrer Perspektive unerlässlich, Möglichkeiten der Interessenvertretung im Pflegesektor bereits in der Ausbildung mehr zu bewerben und die gewerkschaftliche Vernetzung allgemein zu verstärken.  

Autorin: Theresa Wagner

Verantw.: Henrike Allendorf

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