Europa sozial gestalten – die Gewerkschaften sind gefordert!

Peter Scherrer über eine aktive, gewerkschaftliche Gestaltung des Sozialen Europas, Gendergerechtigkeit und Demokratie am Arbeitsplatz.

Bild: Peter Scherrer, stellvertretender Generalsekretär von EGB

Bild: European Trade Union Confederation - 14th Congress #ETUC19 Vienna 21-24/05/2019 von ETUC

 

Kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 debattierten fast 700 Delegierte auf dem 14. Kongress  des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) in Wien die Zukunft Europas. Für die Gewerkschaften stand naturgemäß die Sozial- und Wirtschaftspolitik im Vordergrund.

Über Einblicke und Ausblicke der gewerkschaftlichen  Europapolitik sprachen wir am Rande des Kongresses mit Peter Scherrer, der bis zum Kongress stellvertretender Generalsekretär des EGB war.

FES: Peter, du hast über viele Jahre gewerkschaftliche Europapolitik mitgestaltet. Wie haben die internen und öffentlichen Debatten auf dem Kongress den politischen Kurs für die europäischen Gewerkschaften bestimmt?

Peter Scherrer: Im Zentrum stand die Diskussion um das „EGB Manifest 2019-2023“ und das daraus resultierende Arbeitsprogramm. Die Forderung nach einem sozialen Fortschrittsprotokoll, welches sozialen Rechten Vorrang vor der Wirtschaft einräumt steht an erster Stelle. Dazu ist die Stärkung und Implementierung der Prinzipien der europäischen Säule sozialer Rechte durch Gesetze, Richtlinien und Tarifverträge Voraussetzung. Für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik in der ganzen (!) Europäischen Union fordern die EGB Mitgliedsgewerkschaften mehr öffentliche und private Investitionen in allen Wirtschaftssektoren aber ganz besonders im öffentlichen Dienst, bei öffentlichen Gütern und beim Sozialschutz. Damit das funktioniert, müssen wir die wirtschaftspolitische Steuerung in der EU, das Europäische Semester und den EU-Haushalt verändern. Soziale Gerechtigkeit, z.B. durch faire Besteuerung, muss das Leitmotiv sein! Stärkung des sozialen Dialogs auf europäischer, nationaler und sektoraler Ebene durch verbesserte Rechtsvorschriften und ausgehandelten Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern. Wir brauchen auch mehr Anstrengungen für die Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft. Alle Formen von Diskriminierung, insbesondere des geschlechtsspezifischen Lohngefälles müssen bekämpft werden. Beim Thema Gleichstellung gab es beim Kongress eine sehr positive Überraschung. Erstmals stellten Frauen und Männer zu gleichen Teilen die Delegierten! Und selbstverständlich gab es eine intensive Debatte für überzeugende Sofortmaßnahmen gegen den Klimawandel.

Was steht für die deutschen Gewerkschaften in Brüssel ganz oben auf der Tagesordnung?

Peter Scherrer: Die Punkte des erwähnten Manifestes sind auch die Prioritäten des DGB, aber es kommt natürlich noch ein besonderer Schwerpunkt hinzu, nämlich „Demokratie am Arbeitsplatz“. Seit vielen Jahren gibt es keinen Fortschritt bei den Eurobetriebsräten und die deutsche Mitbestimmung gerät durch europäische Gesetzgebung immer häufiger unter Druck. Der EGB hat hierzu klare Positionen aber durch die herausragende Stellung, die die Mitbestimmung in Deutschland und Österreich hat, sind sowohl ÖGB als DGB hier ganz besonders als treibende Kraft gefordert.

Der DGB ist die mitgliedsstärkste Organisation im EGB. Wie ist er im Vorstand vertreten?

Peter Scherrer: Die deutschen Gewerkschaften sind durch Isabelle Schömann in der EGB-Führungsspitze außerordentlich kompetent vertreten. Der DGB hat mit ihr, sie ist Französin und hat lange Erfahrungen in der europäischen Gewerkschaftsarbeit, einen wirklich europäischen Personalvorschlag gemacht. Als Juristin hat sie tiefe Kenntnis des Arbeitsrechts sowie der europäischen Gesetzgebung. Dieses Knowhow gepaart mit gewerkschaftlichem Politikverständnis ist für die erfolgreiche Arbeit des EGB ein ganz wichtiger Beitrag. Darüber hinaus ist Isabelle ist über viele Jahre eine beherzte Kämpferin für mehr Demokratie am Arbeitsplatz gewesen, und sie verantwortet im Vorstand des EGB auch das Resort „Arbeitnehmerbeteiligung“.

Was steht für Dich im Mittelpunkt der Aufgaben für den EGB in den kommenden Jahren?

Peter Scherrer: Die Gewerkschaften haben eine „Herkulesaufgabe“ vor sich. Sie müssen für das „Soziale Europa“ eintreten und mit gleicher Energie und Beharrlichkeit einen aktiven Beitrag zum Um- und Ausbau des „Projektes Europa“ leisten. Wollen wir Freiheit, Frieden, Demokratie und eine tolerante Gesellschaft dauerhaft sichern, so müssen wir Europa neu aufstellen. Sollen die Ideale, die europäischen Werte, Realität bleiben - und zurück gewonnen werden, da wo sie schon jetzt unter die Räder gekommen sind - so müssen wir jetzt handeln. Visionen brauchen konkrete Politikvorschläge, um erfahrbar zu werden. Die Gewerkschaften müssen sich an der Reform der Europäischen Institutionen und Strukturen aktiv beteiligen. Das erfordert eine systematische und gut strukturierte interne Debatte aus der eine gemeinsame, verbindliche und überzeugende Stimme der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf der europäischen Politikbühne resultieren muss.

 

Peter Scherrer war von 2015 bis Mai 2019 stellvertretender Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB), nachdem er zuvor zuständig für die europäische Industriepolitik bei der IG Metall war. Er hat Geschichte, Sozialwissenschaften und Journalismus studiert.