Sie soll das Vorbild für Greta Garbos „Ninotschka“ gewesen sein – die schöne und elegante Funktionärin Sowjetrusslands. Sicher aber war sie erste Ministerin und erste akkreditierte Botschafterin der jüngeren Geschichte; zweimal wurde sie für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen: Alexandra Kollontai, russische Revolutionärin, Ikone der sozialistischen Frauenbewegung.
1872 als Tochter eines reichen russischen Generals geboren, wuchs sie unter privilegierten Verhältnissen auf. In Zürich studierte sie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, sie engagierte sich früh für die sozialistische Bewegung. Fünf Sprachen beherrschte sie fließend, sie war eine leidenschaftliche Rednerin und mitreißende Agitatorin. Ihre Themen waren die soziale Situation der Frauen, besonders die Lage der Arbeiterinnen, Mutterschutz, Sexualmoral und grundsätzlich: die volle Gleichberechtigung der Geschlechter.
Soziale Fürsorge für Mutter und Kind
Bereits 1910 unterstützte sie auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen die Resolution „Soziale Fürsorge für Mutter und Kind“. Hierin werden – uns heute durchaus vertraute – Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen gefordert:
- der gesetzliche Achtstundentag für alle Arbeiterinnen über 18 Jahre,
- für Schwangere das Recht der kündigungslosen Einstellung der Arbeit acht Wochen vor der Niederkunft,
- für Wöchnerinnen das Verbot der Arbeit für acht Wochen, wenn das Kind lebt, für sechs Wochen nach Tod und Fehlgeburten oder falls das Kind innerhalb dieser Frist stirbt,
- eine obligatorische Schwangerschaftsunterstützung im Falle der durch die Schwangerschaft verursachten Erwerbslosigkeit für die Dauer von acht Wochen,
- die Festsetzung der Unterstützung für Schwangere, Wöchnerinnen und Stillende auf die Höhe des vollen durchschnittlichen Tageslohnes,
- die Errichtung von Pflege- und Erziehungsanstalten weltlichen Charakters für das vorschulpflichtige Alter.
Neue Gesellschaft, neue Gesetze
Nach Jahren im Ausland kehrte Alexandra Kollontai mit dem Zusammenbruch des Zarenregimes im Februar 1917 nach Petrograd zurück und unterstützte Lenin im Sinne seiner April-Thesen: „Alle Macht den Räten!“ Sie wurde Mitglied im bolschewistischen Zentralkomitee und plädierte für den bewaffneten Aufstand und die Bildung einer Räteregierung aus den eigenen Reihen. In dieser ersten Regierung übernahm sie das Amt eines Volkskommissars für Soziales und Volkswohlfahrt.
Louise Bryant zitiert in ihren „Reportagen aus dem Roten Oktober“ die Ministerin: „Zu meinen größten Sorgen gehört die Versorgung der zweieinhalb Millionen Krüppel und Invaliden unter den Soldaten, deren Situation verzweifelt ist. […] Zu den Krüppeln kommen noch die Millionen Verwundete und Kranke, die 350.000 Kriegswaisen, die Tauben, Blinden und Verrückten.“
Kollontai erwirkte einen viermonatigen bezahlten Schwangerschafts- bzw. Mutterschaftsurlaub sowie Zusagen für die Einrichtung und Finanzierung sozialer Einrichtungen wie Kindergärten, Krippen, Kinderheime, öffentliche Kantinen und Wäschereien.
In ihrer kurzen Amtszeit als Volkskommissarin (sie gab ihr Amt bereits 1918 aus Protest über den Frieden von Brest-Litowsk auf) und Funktionärin in der neu gegründeten Frauenabteilung der Partei (Zhenotdel) ersetzte sie die bisherige kirchliche Trauung durch eine zivile Eheschließung, installierte ein neues Scheidungsrecht (bis dahin war eine Scheidung quasi unmöglich), legalisierte Abtreibungen und bewirkte eine rechtliche Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern. Ihr erklärtes Ziel war die völlige Gleichberechtigung der Frauen, ihre Befreiung aus Unterdrückung durch Kirche oder Patriarchat. Frauen sollten ökonomisch unabhängig werden – und ihre so dringend benötigte Arbeitskraft der neuen Gesellschaft zur Verfügung stellen können. Die Sozialisierung von Haushaltsarbeit und Kindererziehung in kommunalen Einrichtungen sollte dies ermöglichen.
Innerparteiliche Konflikte und politisches Scheitern
Die tatsächlichen Gegebenheiten allerdings sahen anders aus: der größte Teil der Frauen konnte weder lesen noch schreiben und war in den alten gesellschaftlichen Normen verhaftet. Die – allgemeine wie politische – Bildung der Frauen war eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Das Land war durch den Ersten Weltkrieg und den nun folgenden Bürgerkrieg verwüstet, es herrschte Hungersnot. Kriegsinvaliden und Kriegswaisen lebten in Elend, die Wirtschaft lag danieder; es fehlten männliche Arbeitskräfte – und die finanziellen Mittel für die so erstrebenswerten sozialen Einrichtungen.
Das liberalisierte Scheidungsrecht befreite nicht nur Frauen aus ungewollten und unglücklichen Ehen; auch die Männer nutzten die Möglichkeit, sich schnell und unkompliziert zu verabschieden und Frauen und Kinder mittellos zurückzulassen, die nun wiederum auf Unterstützung angewiesen waren. Die Möglichkeit zur Abtreibung führte zu einem drastischen Geburtenrückgang.
Für Alexandra Kollontai war eine sozialistische Gesellschaft ohne die Befreiung der Frau und ohne die Entwicklung neuer Formen von Sexualität und Liebe undenkbar. Sie selbst bezeichnete sich als sexuell emanzipierte Kommunistin – was ihr die prüderen Genossen allerdings als lockeren, bürgerlichen Lebenswandel vorwarfen. Überhaupt geriet die Kollontai immer wieder in Konflikt mit der herrschenden Linie: so schloss sie sich 1921 der „Arbeiteropposition“ an, die später als parteifeindliche Gruppe galt. Sie warf den Spitzenkadern der Kommunistischen Partei vor, die Gewerkschaften entmachtet, die Arbeiterselbstverwaltung pervertiert und sich von den Massen entfernt zu haben. Sie setzte sich für Arbeiterdemokratie und die Freiheit der innerparteilichen Kritik ein - Forderungen, die mit den Grundbegriffen des Leninismus allerdings niemals zu versöhnen waren.
Erfolgreiche Diplomatin im Dienste Stalins
Die innerparteilichen Konflikte und das letztliche Scheitern ihrer emanzipatorischen Bestrebungen mögen die Gründe für eine Neuorientierung gewesen sein. Kollontai begann eine Karriere im diplomatischen Dienst und verbrachte als erste akkreditierte Gesandtin erfolgreiche Jahre vor allem in den skandinavischen Ländern. Ihre Erfahrung und ihr diplomatisches Geschick waren der Moskauer Führung über Jahrzehnte unentbehrlich, auch als sie bereits gesundheitlich angeschlagen war. Wichtigen Anteil hatte sie daran, dass Finnland die Unterstützung Hitler-Deutschlands aufgab und 1944 aus dem Krieg austrat; 1946 wurde sie daraufhin für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, den sie allerdings nicht erhielt. Diese Erfolge täuschten aber nicht darüber hinweg, dass sich Alexandra Kollontai in ihrem de facto Exil der stalinistischen Linie anpasste und ihre Prinzipien hintenanstellte. Vielleicht rettete diese Gesamtkonstellation ihr und ihrem Sohn in der Zeit der stalinistischen Säuberungen das Leben.
Mitte der 1940er Jahre zog sie sich schließlich aus dem aktiven Dienst zurück; am 9. März 1952 verstarb sie im Alter von fast 80 Jahren in Moskau.
Kristen Rogheh Ghodsee analysiert die Bedeutung Kollontais und der von ihr eingeleiteten Maßnahmen für die Gleichstellung der Frau u.a. in ihrem aktuellen Buch „Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben“.
Den zeitgenössischen Beitrag von Louise Bryant über Alexandra Kollontai können Sie hier im Volltext nachlesen:
Die (bemerkenswerten) Beschlüsse der 2. Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz 1910 in Kopenhagen zur sozialen Fürsorge für Mutter und Kind können Sie hier nachlesen (pdf-Download).
Eine Liste mit Veröffentlichungen von Alexandra Kollontai, z.B. ihre Autobiographie, finden Sie im Katalog der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Gleich zwei Texte von Alexandra Kollontai finden sich in der Ausgabe der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift "Die Gleichheit" vom 29.08.1910. Diese Ausgabe ist hier digital verfügbar.