Archiv der sozialen Demokratie

„Mehr Geschichte – aber ohne falsche Nostalgie“. Zum Tode von Thomas Welskopp

Bild: Thomas Welskopp, 9. Oktober 2009, Friedrich-Ebert-Stiftung; Rechte: FES.

Die historisch-politische Arbeit der Sozialdemokratie und ihrer Bewegungen lebt seit über 150 Jahren nicht nur von der Würdigung ihrer Stars oder der Erzählung ihrer Stürme, Gesänge und Erfolge. Sie lebt von der kritischen Selbstreflexion und der besonderen Sensibilität ihrer Erzähler_innen. Ein besonderer Beobachter und Analytiker der Arbeiter_innenbewegung ist der Historiker Thomas Welskopp, der geschichtswissenschaftlich und persönlich immer wieder gute Gründe gefunden hat, ihr seine ungeteilte wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu schenken.

In einer von ihm selten gewählten Textsorte einer geschichtspolitischen Empfehlung schreibt er der Sozialdemokratie ins Stammbuch, dass sie ihrer schwindenden gesellschaftspolitischen Akzeptanz des 21. Jahrhunderts mit einem „Mehr“ an Geschichte begegnen solle, um aus einer „Walhalla angestaubter Mythen“ heraus und in die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition, deren Kontinuitäten und epochalen Brüche einzutreten. Denn für ihn speist sich die angemessene Berücksichtigung ihrer Historie in Forschung, Kultur und Politik unbedingt und nach wie vor aus ihren progressiven Anfängen: Die Soziale Demokratie steht für gesellschaftliche Emanzipation, die Interessenvertretung derjenigen, die für die Gesellschaft arbeiten, für politische Aktivität der „einfachen Leute“, für Gerechtigkeit und Humanität. Sie habe widersprüchliche Charaktere hervorgebracht, die vielfach „eckig“ waren, aber auch Inspiration für politische Weiterentwicklung. In der historischen Bilanzierung stehen demgegenüber die „Zahl der politischen Irrtümer und Fehler“, die im „angestaubten Erinnerungsbestand“ der Sozialdemokratie ausgeblendet oder im „retrospektiv historisch Feindbild“ polemisiert werden. Die Geschichte der Sozialen Demokratie und ihrer Bewegungen sollte sich ihrer Geschichte „schonungslos öffnen“, ohne „falsche Nostalgie und ohne Scheuklappen“, für Welskopp ist sie „bewegt und farbig, mit vielen überraschenden Facetten – und durchaus hin und wieder mit Anlass für Stolz“.  

Thomas Welskopp selbst hat in seinen sozial-, intellektuell- und kulturgeschichtlichen Forschungen zur Geschichte der Arbeiter_innenbewegung, zu transatlantischen Bündnissen und Lebenswelten der Arbeitenden immer wieder wissenschaftliche Angebote gemacht, damit nachwachsende Erzähler_innen ihre Arbeit mit der nötigen theoretisch reflektierten Tiefenschärfung aufnehmen können. In seinen Studien und Wortmeldungen  erklärt er komplizierte historische Situationen mit großer gedanklicher Sorgfalt, mit Witz und mit einer komplexen, aber nie unverständlichen Sprache – viele Texte sind längst zu einem prominenten Bestandteil der Historiografie der Geschichte der Arbeiter_innenbewegung geworden.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung verliert mit Thomas Welskopp einen herausragenden Experten, engen Freund und Verbündeten für ihre historische Arbeit. So erschien seine Habilitationsschrift „Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Vormärz und Sozialistengesetz“ in der von der FES herausgegebenen Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte (PGG), er schrieb regelmäßig Beiträge für das Archiv für Sozialgeschichte und übernahm auf zahlreichen Fachtagungen des Archivs der sozialen Demokratie ganz unterschiedliche Rollen, vom Keynote-Speaker bis zum Kommentator, der immer pointiert, aber nie persönlich verletzend zuspitzte. Daneben hat er sich über viele Jahre in der Studienförderung als Vertrauensdozent engagiert, da ihm Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit eine Herzensangelegenheit waren. Wir haben ihn als äußerst liebenswerten und zugewandten Menschen erlebt und werden ihn sehr vermissen.

Professor Dr. Thomas Welskopp starb am 19. August 2021 mit nur 59 Jahren an den Folgen einer schweren Erkrankung.

 

Die Zitate von Thomas Welskopp stammen aus: Ders., Mehr Geschichte – aber ohne falsche Nostalgie. Zu Norbert Seitz, Vorsicht Dino-Falle!, in: Berliner Republik 1/2013, S. 90 f.

Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Vormärz und Sozialistengesetz (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 54), Bonn 2000 (zugl. Habilschrift FU Berlin, 1999).


Aktuelle Beiträge

Veranstaltung

75 Jahre Grundgesetz: Was war, was ist, was fehlt?

Grafik zur Veranstaltung

Das Grundgesetz ist eine Erfolgsgeschichte. Gleichzeitig ist es ein Dokument des Wandels. Mehr als sechzigmal ist es geändert worden, oft nach…


weitere Informationen

Demokratie | Denkanstoß Geschichte | Publikation

Die Grenzen des Sagbaren – FEShistory Impuls #2

Wegschild, das in entgegengesetzter Richtung nach "Demokratie" und "Populismus" zeigt

Populist:innen brauchen Lautstärke und Reichweite zur Positionierung und zum Machtgewinn. Hierfür braucht es ein feines Gespür für die…


weitere Informationen

nach oben