Archiv der sozialen Demokratie

Hugo Haase und Paul Levi: Über die Kritik am Weltkrieg und den Kampf für eine solidarische Gesellschaft

Die Biografien von Hugo Haase (1863–1919) und Paul Levi (1883–1930) verbindet schon bei oberflächlicher Betrachtung einiges: Beide stammten aus religiös-praktizierenden jüdischen Elternhäusern. Beide studierten Jura und erarbeiteten sich schnell einen öffentlichen Ruf als kundige Anwälte der Arbeiter_innenbewegung.

Beide engagierten sich im linken Flügel der Sozialdemokratie und hielten am Ziel einer Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung fest. Zugleich erkannten beide den Wert eines demokratischen Verfassungsstaates, den es auch „von links“ zu schützen und zu verteidigen gelte. Beide lehnten die Beteiligung des damaligen Deutschen Reiches am Ersten Weltkrieg ab und gerieten in teils erbitterte Opposition zur Parteimehrheit. Dennoch trennten beide seit dem Kriegsausbruch im August 1914 politisch Welten: Während Levi zu den ersten Akteuren des „Spartakusbundes“ um Rosa Luxemburg gehörte, versuchte Haase als einer der beiden amtierenden SPD-Parteivorsitzenden zunächst, die Partei zurück auf einen den Krieg ablehnenden Kurs zu führen. Insbesondere in den Jahren 1918 und 1919 gerieten beide auch öffentlichen in harten Widerspruch, als Haase – nun als Vorsitzender der Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) – die Mitarbeit im Rat der Volksbeauftragten und die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung unterstützte, während Levi als Parteiführer der neu gegründeten Kommunistischen Partei (KPD) beides ablehnte und zunächst auf ein Weitertreiben der revolutionären Umwälzungen setzte.
 

Hugo Haase


Hugo Haase wurde als ältestes von zehn Kindern am 29. September 1863 im ostpreußischen Allenstein geboren. Anders als für seine Eltern Nathan und Pauline spielte für Haase der jüdische Glauben in seinem Alltag keine große Rolle. Das Verhältnis Haases zu seinen Eltern wird als liebevoll und zugewandt beschrieben. Zugleich begann Haase schon früh, sich innerlich vom jüdischen Glauben seiner Eltern zu distanzieren. Er selbst suchte die Synagoge nicht auf und folgte keinen religiösen Ritualen – richtete seinen Haushalt aber seinen Eltern zuliebe koscher ein. Zu ernsthaften Zerwürfnissen mit seinen Eltern kam es, als er diesen eröffnete, seine Verlobte Thea Lichtenstein ohne religiöse Zeremonie heiraten zu wollen. Schließlich erreichte Haase einen auch für seine Eltern akzeptablen Kompromiss, indem er einen Vetter, der als Kantor arbeitete, dafür gewann, im Rahmen der Hochzeit eine Rede „mit allgemein-menschlichem Charakter“ zu halten. Nach dem Jurastudium in Königsberg ließ Haase sich dort noch während des Sozialistengesetzes als Anwalt nieder und avancierte bald zu einem der bekanntesten Sozialdemokraten in Ostpreußen. Im Jahr 1893 war Haase zum ersten sozialdemokratischen Abgeordneten im Stadtparlament von Königsberg gewählt worden, wenig später gelang auch die Wahl in den Reichstag. Innerhalb der Sozialdemokratie dem „marxistischen Zentrum“ um August Bebel und Karl Kautsky zugehörig, machte Haase sich einen Namen als kluger Analytiker und Debattenredner. Nach dem Tod von Paul Singer wählte der Parteitag in Jena 1911 Haase auf Vorschlag von August Bebel in einer Kampfkandidatur gegen Friedrich Ebert zum Parteivorsitzenden.

Haases Versuch, die Fraktion bei Kriegsausbruch auf eine Ablehnung der Kriegskredite festzulegen, scheiterte. Als amtierender Partei- und Fraktionsvorsitzender wurde er gedrängt, die begleitende Erklärung zur Zustimmung zu verlesen, was er letztlich aus Pflichtgefühl auch tat. Die Hoffnung, bei einer der kommenden Abstimmungen eine Mehrheit gegen die Kredite zu erreichen, gab Haase lange Zeit nicht auf.

Zum offenen Bruch kam es erst im März 1916, als er im Reichstagsplenum offen gegen die Position der Fraktionsmehrheit sprach: Wenn es nur um die Unversehrtheit des Reiches ginge, hätte man vermutlich bereits Frieden haben können. Die folgenden Szenen beschreibt der Abgeordnete der dänischen Minderheit Peter Hanssen in seinem Tagebuch genauer: „Nachdem Haase seine Rede begonnen hatte, gab es sofort Tumult […] begleitet vom Beifall und den Bravorufen der bürgerlichen Parteien. Am weitesten von deren Mitgliedern ging Kopsch, der ausrief: ‚Wiedermal ein Jude, ein Jude, was wollen denn die Juden hier […]‘“.

Nach der Novemberrevolution 1918 übernahmen Hugo Haase – nun als Vorsitzender der USPD – und Friedrich Ebert gemeinsam den Vorsitz im Rat der Volksbeauftragten. Haase sprach sich für die Wahl einer Nationalversammlung aus, mahnte als Voraussetzung allerdings die Durchführung weiterer ökonomischer und sozialer Reformen an, beispielsweise durch einen Einstieg in die Sozialisierung der Wirtschaft.

Haase starb am 7. November 1919 an den Folgen eines vier Wochen zuvor auf ihn verübten Attentats.


Paul Levi


Paul Levi wurde am 11. März 1883 als jüngstes von vier Geschwistern im schwäbischen Hechingen geboren. Paul Levis Vater Jakob war Besitzer einer Weberei, die Baumwollunterwäsche herstellte. Ihren jüdischen Glauben praktizierte die Familie aktiv: Jakob Levi hatte bereits 1864 eine Prüfung im Schächten abgelegt und bis zum Beginn seiner Tätigkeit in der Weberei als Religionslehrer gearbeitet. In den 1920er-Jahren war er sogar Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Hechingen. Pauls Mutter Kathie Levi, geborene Heller, wird ebenfalls als tief gläubig beschrieben. Nach dem Jurastudium ließ Levi sich in Frankfurt nieder, und wurde in der örtlichen SPD aktiv. Überregional trat er ab 1914 zunächst als Anwalt von Rosa Luxemburg in Erscheinung, mit der ihn auch eine – der Öffentlichkeit lange Zeit verborgen gebliebene – Liebesbeziehung verband.

Als Kriegsgegner zum Kriegsdienst eingezogen, diente er als Soldat. Mit Rosa Luxemburg gehörte er zu den Gründern der KPD und wurde nach ihrer Ermordung Parteivorsitzender. Levi lehnte die Gründung einer bürgerlichen Republik zunächst ab und orientierte sich auch an den Entwicklungen in Russland. Zu einem Bruch mit der KPD kam es allerdings sehr schnell, da Levi zum einen die politisch-ökonomische Situation schon bald als nicht mehr revolutionsbereit einschätzte und er zum anderen die Versuche der sowjetischen Seite, die deutsche Partei auf einen bürgerkriegsorientierten Kurs zu bringen, ablehnte. Nachdem er öffentlich scharfe Kritik an den gewaltsamen „März-Aktionen“ der KPD mit vielen Toten und Verwundeten übte, wurde er aus der Partei ausgeschlossen.

Die Weimarer Republik betrachtete er als politischen Fortschritt: „Ein Aufgeben der demokratischen Republik bedeutete für das Proletariat nicht die Wiederherstellung der früheren Staatszustände, sondern etwas Schlimmeres: es bedeutete Reaktion im blutigsten Sinne des Wortes und eine völlige Zerschlagung des Bodens, auf dem die Arbeiterklasse politisch sich in legaler Form betätigen kann.“ Zunächst mit einer „Kommunistischen Arbeitsgemeinschaft“ weiterhin im Reichstag aktiv, kehrte er 1922 mit Resten der USPD zur Vereinigten Sozialdemokratie zurück. Hier gehörte er in den folgenden Jahren zu den intellektuellen Wortführern des linken Flügels und trat im Reichstag u. a. in Fragen der politischen Justiz und des Strafrechts in Erscheinung.

Immer wieder wurde Levi mit (antisemitischen) Anfeindungen konfrontiert. So fand sich in einer Hetzbroschüre der „Arbeitszentrale für völkische Aufklärung“ vom Dezember 1924 mit dem Titel „Charakterköpfe des deutschen Reichstags“ auch Paul Levi als einer von 28 Abgeordneten mit vermeintlich „jüdischer Physiognomie“. Auch während des Hitler-Ludendorff-Putsches in München 1923 wurde ein fiktives Fahndungsplakat geklebt, auf dem es hieß: „Jeder Deutsche, […] der Ebert, Scheidemann, Oskar Kohn, Paul Levi, […] und ihre Helfer und Helfershelfer ausfindig machen kann, hat die Pflicht, sie tot oder lebendig in die Hand der völkischen Nationalregierung zu liefern.“

Mit der Zeitschrift „Sozialistische Politik und Wirtschaft“ (SPW) verfügte er über ein eigenes Publikations- und Debattenorgan. Levi blieb als Rechtsanwalt tätig, und betrieb u. a. die Aufklärung der Vertuschung des Mordes an Rosa Luxemburg. Er starb am 9. Februar 1930 beim Sturz aus dem Fenster seiner Wohnung in Berlin.


Fazit


Auch wenn Haase und Levi während und nach Ende des Weltkriegs zu unterschiedlichen politischen Einschätzungen kamen, teilten sie insbesondere den Anspruch, die politische Strategie für weitreichende gesellschaftliche Transformationen auf Basis einer nüchternen Analyse der gegenwärtigen politisch-ökonomischen Verhältnisse entwickeln zu wollen. Obwohl selbst nicht religiös, fühlten sie sich mit dem Judentum über ihre jeweiligen Familien verbunden. Sowohl über ihre Karrieren als Rechtsanwälte wie auch als Politiker hatten beide mit antisemitischen Anfeindungen zu kämpfen. Bei öffentlichen Stellungnahmen gegen den Antisemitismus stand allerdings nicht ihr persönlicher Hintergrund, sondern ihre politische Identität als Sozialisten im Mittelpunkt. Ihre Biografien zeigen zudem den intellektuellen Reichtum der zeitgenössischen Sozialdemokratie. Beide starben früh, ihr Einsatz fehlte der SPD, letztlich aber auch allen Kräften, die bei der Verteidigung der Republik den Kampf gegen reaktionäre Interessen ernst nahmen.

Thilo Scholle

 

Literatur:
 

  • Thilo Scholle: Hugo Haase. Anwalt und Abgeordneter im Zentrum der Sozialdemokratie, Berlin 2019.
  • Thilo Scholle: Paul Levi. Linkssozialist – Rechtsanwalt – Reichstagsmitglied, Berlin 2017.

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