Archiv der sozialen Demokratie

Wie die SPD Miterbe von Marx‘ Nachlass wurde

Am 28. November 2020 jährte sich der Geburtstag von Friedrich Engels zum 200. Mal. Aus diesem Anlass geht Margret Dietzen vom Karl-Marx-Haus in Trier auf die besonderen Umstände ein, unter denen Engels als Nachlassverwalter seines engen intellektuellen Wegbegleiters Karl Marx agierte, und schildert, warum auch die SPD in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielte.

Bild: gemeinfrei; Quelle: AdsD.

Der Tod von Karl Marx am 14. März 1883 ist eine Zäsur im Leben von Friedrich Engels. Auch weil Marx ihm an seinem Lebensende die alleinige Verantwortung für die Publikation der unvollendeten, fragmentarischen, chaotisch hinterlassenen Manuskripte zum zweiten und dritten Band des Kapitals übertrug – mündlich, ein Testament gibt es von ihm nicht. Damit avanciert Engels zum Verwalter des literarischen Nachlasses. Eleanor, die jüngste, in London lebende Marx-Tochter, beantragt einen Erbberechtigungsschein, fühlt sich als jahrelange Assistentin ihres Vaters auch als Testamentsvollstreckerin. Mit ihrer Schwester Laura – diese lebt seit Jahren mit ihrem Ehemann Paul Lafargue in der Nähe von Paris – gerät Eleanor daraufhin in Streitigkeiten. Auf Verlangen Lauras händigt sie ihr Teile der Bibliothek und den Nachlass ihres Vaters zur Ersten Internationale aus, beteiligt die Schwester an den Veröffentlichungsrechten aller Marx-Schriften und Manuskripte beziehungsweise an den Honoraren bei Verkauf. Dies geschieht auf Anraten von Engels. Mit seiner stets ausgleichenden, auch nachgiebigen Art will er den Schwesternzwist vermeiden. Er befördert damit aber die Aufsplitterung des Nachlasses von Marx – aus dem Eleanor Briefe, die Engels und andere kompromittiert hätten, bereits kurz nach dem Tod des Vaters aussortiert hat.

Alle restlichen Manuskripte und Bücher von Marx werden in Engels' Villa am Regent's Park in London gebracht. Nach einem akribisch aufgestellten Arbeitsplan gelingt es Engels, auch mit Hilfe von Eleanor, 1885 die Veröffentlichung des zweiten und erst 1894 des dritten Bandes des Kapitals. Keine leichte Arbeit. Die Marx-Texte sind sprachlich unfertig, gespickt mit Gedankenfetzen, die Handschrift meist unleserlich, wie Engels die Leserschaft wissen lässt. Hinzu kommen turbulente, private Umbrüche im Leben von Engels. 1890 stirbt Helene Demuth. Nach dem Tod von Marx stand sie dem Haushalt von Engels vor. Mit ihr verliert Engels erneut einen vertrauten Menschen. Mit Erleichterung nimmt Engels daher das Angebot von Karl Kautskys geschiedener Frau Louise, geb. Strasser, an, aus Wien zu kommen und bei ihm einzuziehen. Louise, eine junge Frau um die Dreißig, dirigiert in Engels' Villa bald die Bediensteten und berauscht den Eigentümer mit Champagner, Rotwein und Bier. Die Freunde und vor allem Eleanor erleben einen über 70-Jährigen, der sich fühlt wie ein junger Mann. Mit Leichtigkeit gewinnt Louise als seine „Sekretärin“ Einblicke in Marx Nachlass und damit auch Engels' künftiges Erbe. Dabei agiert sie ganz im Sinne der Sozialdemokratischen Partei, die den literarischen Nachlass ihrer wissenschaftlichen und kämpferischen Vordenker erben möchte. August Bebel ermutigt Louise bei seinen regelmäßigen Besuchen im Hause Engels, diesen für die deutschen Sozialdemokraten einzunehmen. Sein Engagement geht dabei soweit, dass er ein Liebesverhältnis mit „seiner Hexe“, wie er und Engels Louise in ihrem Briefwechsel nennen, beginnt. Louise heiratet zwar nach kurzer Zeit in London Dr. Ludwig Freyberger, der Engels' Leibarzt wird, und bekommt ein Kind, als Vater wird aber nicht der Ehemann vermutet.

Der Erfolg der Unternehmung, Marx' Erbe nach Berlin zu bringen, zeichnet sich dann auch bald ab. In seinem Testament vom 29. Juli 1893 bestimmt Engels die beiden SPD-Parteivorsitzenden Bebel und Paul Singer als Erben seiner Bibliothek, die selektiv die ehemaligen Marx-Bestände umfasst. Alle in Engels' Besitz befindlichen literarischen Manuskripte seines Freundes sowie alle von Marx geschriebenen oder an ihn gerichteten Familienbriefe sollen dagegen an Eleanor abgegeben werden. Engels' literarischer Nachlass ist für Bebel und Eduard Bernstein bestimmt. Als Testamentsvollstrecker setzt Engels den Freund und Anwalt Samuel Moore, Bernstein und Louise Kautsky ein. „Seiner Hexe“ vermacht er neben Laura und Eleanor einen beträchtlichen Teil seines Vermögens.

Sein Testament von 1893 modifiziert Engels dann in drei Briefen vom 14. November 1894 sowie in einem privatschriftlichen Zusatz vom 26. Juli 1895. Engels verfügt 1894, dass alle Handschriften von Marx, mit Ausnahme der Briefe an ihn, sowie alle an Marx gerichteten Briefe, mit Ausnahme seiner eigenen Briefe, an Eleanor zurückgegeben werden sollen. Den Marx-Engels-Briefwechsel sowie die Briefe und Manuskripte von Engels erhält damit die SPD, der weitere schriftliche Nachlass geht an Eleanor bzw. nach deren Tod 1898 an Laura und wird dann ohne nähere testamentari-sche Bestimmung nach dem Freitod der Lafargues in alle Welt zerstreut. Das Erbe seiner Bibliothek versteht Engels in der geänderten, testamentarischen Briefergänzung nun eindeutig auch als Weitergabe der bis 1883 bei Marx befindlichen Bücher. Geschätzt wird, dass der Bücherbestand mindestens 2100 Titel in 3200 Bänden umfasst. Fatalerweise werden aber weder beim Einpacken noch beim Auspacken der Bände, die nach dem Tod von Engels 1895 mit dem schriftlichen Nachlass in 27 Bücherkisten nach Berlin gehen, Inventarlisten angelegt. Die Bücher werden in den Be-stand der Parteibibliothek bzw. des -archivs eingearbeitet.

Mit der Beschlagnahmung des SPD-Vermögens und -Archivs im Mai 1933 durch die Nationalsozialisten setzt für den Marx/Engels-Nachlass eine Odyssee ein, die zur weiteren Aufsplitterung führt. Auf abenteuerlichem Weg gelangen Teile nach Kopenhagen und Paris sowie nach Amsterdam an das 1935 gegründete Internationale Institut für Sozialgeschichte – womit die dramatische Geschichte des Nachlasses nicht endet.

Ob Engels die Teilung des literarischen Erbes hätte verhindern können? Karl Kautsky bejaht dies. Er sinniert über ein Abkommen mit Laura und Eleanor bezüglich einer Editionsgemeinschaft, in deren Dienst er sich mit Bernstein im Sinne des Marxismus hätte stellen können. Bedacht hat Kautsky nicht, dass Engels zwar ein akribisch arbeitender Vordenker auch für die deutsche Sozialdemokratie war – aber auch ein Bonvivant und Frauenverehrer, der als vermeintlicher Frauenversteher zur Aufsplitterung des literarischen Nachlasses seines Freundes Karl Marx zumindest mit beitrug.

Margret Dietzen, Karl-Marx-Haus

 

Weiterführende Literatur

  • Zimmermann, Rüdiger: Das gedruckte Gedächtnis der Arbeiterbewegung bewahren: Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Veröffentlichungen der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bd. 11, Bonn 2008.
  • Bungert, Mario: „Zu retten, was sonst unwiederbringlich verloren geht“. Die Archive der deutschen Sozialdemokratie und ihre Geschichte. Beiträge aus dem Archiv der sozialen Demokratie 4, Bonn 2002.
  • Mayer, Paul: Die Geschichte des sozialdemokratischen Parteiarchivs und das Schicksal des Marx-Engels-Nachlasses, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. VI/VII, Bonn 1966/67.

… zu Engels:

  • Herres, Jürgen: Marx und Engels. Porträt einer intellektuellen Freundschaft, Stuttgart 2018.
  • Hunt, Tristram: Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand, Berlin 2013.

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