Ende Oktober 1948 schrieb Hans Böckler (1875-1951), zu dieser Zeit Vorsitzender des Gewerkschaftsrates der vereinten Zonen, an Konrad Adenauer (1876-1969), den Präsidenten des Parlamentarischen Rates, und nannte wünschenswerte Abänderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes. Böckler nahm dabei aber zur Kenntnis, „daß die Fraktionen des Parlamentarischen Rates sich dahin gehend geeinigt haben, in den Grundrechtsteil des Grundgesetzes keine näheren Bestimmungen über die Wirtschafts- und Sozialverfassung des deutschen Volkes aufzunehmen.“ Nach eingehenden Beratungen fordere der Gewerkschaftsrat aber trotzdem die Aufnahme eines Artikels zum Wert der persönlichen Arbeit und deren Schutzes in den Grundrechtskatalog:
„Die Arbeit ist die persönliche Leistung für die Gesellschaft. Sie darf nicht als Ware gewertet werden. Die arbeitenden Menschen stehen unter besonderem Schutz. Dieser Schutz hat den Vorrang vor dem Schutz materiellen Besitzes.“ (DGB-Archiv im AdsD, 5/DGAB000009, hier digital einsehbar)
Hinzu kamen Änderungswünsche bezüglich der Freizügigkeit, des Versammlungsrechts, der Gewerbefreiheit oder dem Eigentumsbegriff. Zentrale Bedeutung wurde auch dem Bereich Koalitionsfreiheit beigemessen, für den ein gewerkschaftlicher Gegenentwurf formuliert wurde:
„Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeit und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Maßnahmen und Abreden, die diese Freiheit einschränken oder zu verhindern suchen, sind rechtswidrig. Das Streikrecht der Gewerkschaften ist gewährleistet. Wer sich an einem gewerkschaftlichen nicht tarifwidrigen Streik beteiligt, handelt nicht rechtswidrig.“ (DGB-Archiv im AdsD, 5/DGAB000009)
Obwohl diese Formulierungen nicht in dieser Form Einzug in den Text des Grundgesetzes fanden, verlieh später der Artikel 9 des Grundgesetzes der Vereinigungsfreiheit, also auch dem Recht von Arbeitnehmer_innen, Gewerkschaften zu bilden, Verfassungsrang.
Eine Stellungnahme des Gewerkschaftsrates zur Verfassungsfrage bildete die Grundlage für eine Besprechung des Gewerkschaftsrates mit Fraktionen des Parlamentarischen Rates am 3. Dezember 1948 in Bonn. Hier findet sich auch eine Einschätzung, welche Rolle die Gewerkschaften im künftigen Bundesstaat spielen sollten:
„Die Gewerkschaften sind sich bewußt, daß ihnen als solche im demokratischen Staat nicht die Aufgaben einer politischen Partei zustehen. Sie erheben als Gewerkschaften keinen Anspruch, in den gesetzgebenden Körperschaften vertreten zu sein. Sie erheben aber diesen Anspruch für exekutive Organe zur Regelung der öffentlichen Angelegenheiten, soweit sie in das Interessengebiet der Gewerkschaften fallen und nicht rein behördlichen Charakter haben. Insbesondere kommt das in Betracht auf dem Gebiete der Sozialpolitik und Sozialversicherung wie der Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftsverwaltung. Die Gewerkschaften nehmen Mitglieder aller politischen Parteien auf und erklären sich diesen gegenüber als neutral. Ihre Wünsche und Forderungen an die Gesetzgebung und den Staat stellen sie nach ihren gewerkschaftlichen Bedürfnissen und Interessen auf, ohne Rücksicht andersgearteter Auffassungen bei den politischen Parteien. Die Stellung der Gewerkschaften zu den einzelnen politischen Parteien wird bestimmt durch die Einstellung jeder Partei zu den gewerkschaftlichen Forderungen. Ihre parteipolitische Neutralität verbietet den Gewerkschaften, sich in die inneren Verhältnisse politischer Parteien einzumischen. Die Gewerkschaften können aber auch nicht dulden, daß politische Parteien sich in ihre inneren Verhältnisse einmischen.“ (Mielke, Gewerkschaften, S. 876 f.)
Dies zeigt einmal mehr, dass weder der provisorische Charakter des Grundgesetzes noch die fehlende Übernahme gewerkschaftlicher Forderungen durch den Parlamentarischen Rat eine Interessenlosigkeit der Gewerkschaften am Prozess der Verfassungsgebung bewirkte. Eine stärkere Ablenkung erzeugte jedoch wohl der Umstand, dass die ersten Bundestagswahlen bereits am 14. August 1949 anstanden. Die Gewerkschaften waren zu dieser Zeit bereits sehr daran interessiert, dass Parteien mit hoher programmatischer Übereinstimmung zu gewerkschaftlichen Politikinhalten auch stark im neuen Bundestag vertreten waren.