Archiv der sozialen Demokratie

Antisemitismus auf Anfrage: Die „Ostjudendebatte“ des preußischen Landtages im November 1922

Parlamentarische Anfragen sind ein Werkzeug der Opposition, um die Regierung zu kontrollieren. Doch was, wenn die Anfrage zum Mittel wird, um menschenfeindliche Ideologien aus der Tabuzone zu holen? Dieses Problem stellte sich bereits vor knapp hundert Jahren, als die demokratischen Parteien der Weimarer Republik sich im Preußischen Landtag mit einer Anfrage der Deutschnationalen Volkspartei bezüglich „Ostjuden“, also jüdischen Einwanderern aus Osteuropa, auseinandersetzen mussten. Widerstand gegen den darin verpackten Antisemitismus kam vor allem von den Arbeiterparteien.

Bild: Berlin, Abgeordnetenhaus um 1900, Quelle: Wikimedia; Rechte: gemeinfrei

Die Ostjudendebatte

Der Preußische Landtag war nach dem Reichstag die wichtigste parlamentarische Bühne des Landes. Preußen war der größte Teilstaat der Republik, hier gemachte Gesetze galten für die Mehrheit der Bevölkerung. Dementsprechend wichtig waren auch die dortigen Anfragen und Debatten. Dies nutzte die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) am 29. November 1922 mit einer Anfrage ihres Abgeordneten Martin Kaehler, Professor für Nationalökonomie in Greifswald. Kaehler kritisierte die Zuwanderung von „Ostjuden“ nach Deutschland, weil deren Mehrheit „schwerlich als Arbeiter [ihr] Brot“ suche. Kaehler erklärte die Einwanderung für „in höchste[m] Grade unerwünscht“ und fragte die Regierung: „Welche Schritte gedenkt das Ministerium zu tun, um 1) unerwünschte Gäste abzuschieben, 2) eine schärfere Kontrolle auf diesem Gebiete durchzuführen?“

Die Anfrage richtete sich an die Regierungskoalition, die von der Sozialdemokratie, der rechtskonservativen Deutschen Volkspartei (DVP), der Katholischen Zentrumspartei und der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gebildet wurde. Eigentliches Ziel der DNVP war jedoch, ihren Antisemitismus wieder sprechfähig zu machen. Mit der Ermordung des aus jüdischer Familie stammenden Außenministers Walther Rathenau durch Rechtsterroristen war offener Judenhass zunächst tabu und auch rechte Parteien mussten sich in Folge von „Radauantisemitismus“ – also Gewalt und Pogromen – distanzieren. Die Anfrage zeigte jedoch, dass sie damit ihr menschenfeindliches Weltbild nicht aufgegeben hatten: Kaehler konstruierte Bilder von arbeitsscheuen und der deutschen Kultur fremden jüdischen Massen, die in deutschen Großstädten die Wohnungsnot verschärften. Auch berief er sich auf das Stereotyp vom jüdischen Bolschewismus. Bewusst nahm er jedoch das assimilierte deutsche Judentum von seiner Tirade aus.

Demokraten in Erklärungsnot – die Reaktionen der Regierungskoalition

Die Antwort der Regierung übernahm der sozialdemokratische Innenminister Carl Severing. Er verwahrte sich dagegen, „die Juden für das wirtschaftliche und politische Elend verantwortlich zu machen, unter dem wir heute leiden.“ Er verwies auf Lessings Drama „Nathan der Weise“ und appellierte an die Abgeordneten, „daß wir nicht zuerst als Christen und nicht zuerst als Juden und nicht zuerst als Muhammedaner, sondern zuerst als Menschen auf die Welt kommen.“ Dies wolle er hochhalten – und „dabei noch deutschen Interessen gerecht werden“. Diese nationalen Interessen erwiesen sich jedoch als größte Sorge Severings. Auch er sah ein „Fremdenproblem“ und schloss mit den Worten: „Jedenfalls sind die derzeitige Ernährungslage, die derzeitigen Erscheinungen auf dem deutschen Wohnungsmarkt und die augenblickliche Aussicht auf dem Wirtschafts- und Arbeitsmarkt nicht dazu angetan, daß wir noch Ausländer zu uns hereinnehmen können.“ Aus den Reihen der DNVP wurde dies mit dem Zwischenruf „sehr richtig“ gelobt. Severing sah „viele Berührungspunkte“, wenn „sachlich“ diskutiert würde. Die Deutschnationalen hatten damit ihr Ziel erreicht – ihre völkische Ideologie war zum „sachlichen“ Gesprächsthema aufgewertet.

Eine andere Perspektive brachte der Abgeordnete Oskar Cohn ein, der erst kurz zuvor mit der Wiedervereinigung von USPD und SPD zur Sozialdemokratie zurückgekehrt war. Er wehrte sich gegen die Spaltung in gute deutsche und „unerwünschte“ fremde Juden, indem er ostjüdische Bezüge nach Deutschland betonte. Bereits im 19. Jahrhundert hätten sich deutschsprachige Juden in den polnisch-sprachigen Provinzen Preußens kommunalpolitisch engagiert, ihre Sprachkenntnisse hätten Ostjuden später auch als Übersetzer für die deutschen Truppen im ersten Weltkrieg zur Verfügung gestellt. Cohn definierte die deutsche Nation nicht völkisch, sondern kulturell und betonte, gerade die Juden Osteuropas hätten eine romantische Vorstellung von Deutschland als „Lichtträger für den Osten“: „Aus Schillers werken [...] lernen die jungen Leute unter den Ostjuden die deutsche Sprache“ und noch heute sei „für sehr viele Ostjuden das Deutschland Goethes und Schillers das in ihrer Auffassung allein existierende.“

Die Formulierung ließ allerdings durchblicken, dass Cohn selbst trotz des positiven Bezugs auf eine deutsche Kulturnation das aufgeklärte Deutschland im Alltag eher vermisste. Bestätigt wurde seine Reserviertheit durch die Beiträge der Redner der katholischen Zentrumspartei und der Liberalen, denen noch weniger als Severing eine Distanzierung von der DNVP gelang.

Zentrum und Liberale

Zentrumsredner Friedrich Leonartz verwahrte sich gegen „Radauantisemitismus“ und „jegliche wider die christliche Liebe verstoßende Art der Volksverhetzung.“ Gleichzeitig erklärte er jedoch, „daß für uns in der Fremdenfrage einzig und allein das deutsche Interesse maßgebend sein kann.“ Nächstenliebe und Nationalinteresse waren für ihn keine Widersprüche, denn „die christliche Liebe, die wir nach unserer Auffassung allen Menschen schulden, schulden wir aber zunächst unserm deutschen Volke“. Das Protokoll notierte an dieser Stelle von rechts den Zwischenruf „sehr richtig!“. Leonartz führte weiter aus, „daß es unzweckmäßig ist, wenn Juden, Fremde überhaupt in dieser Weise hier in Berlin Wohnungen beanspruchen“.

Auch der liberale Redner Otto Fischbeck (DDP) stieg trotz der zu Beginn seines Redebeitrags betonten Mitgliedschaft im Verein zur Abwehr des Antisemitismus voll auf die Spaltungsstrategie der DNVP ein. Er betonte die „Gemeinschaft dieser deutschen Juden mit den übrigen deutschen Volksgenossen“ und forderte diese gar auf, „mit uns allen zusammenzustehen gegen diese Fremdlinge, die zu uns in Scharen über die Grenze einwandern“. Fischbeck wollte nicht, „daß die deutschen Juden beeinträchtigt werden wegen des Verhaltens der auf niedriger Kulturstufe stehenden Elemente“. Aber ebenso wenig wollte er, „daß letzteren gegenüber ein Auge zugedrückt wird, weil sie der jüdischen Religion angehören.“

Einwanderung als Klassenfrage

Werner Scholem, als Kommunist und Jude ein doppelter Außenseiter zwischen den Weimarer Demokraten, betonte dagegen, „daß es sich nicht nur um die Ostjuden handelt, sondern um die gesamten Osteuropäer, die nach Deutschland kommen“. Er forderte den Wegfall sämtlicher Einwanderungsverbote und eine freie Arbeitsmigration. Scholem weigerte sich damit, über ein „Judenproblem“ zu diskutieren. Mit dem Zuruf „Ostjuden“ wollte ihn die Rechte wieder auf ihr Terrain locken. Als er weiterhin von „ostjüdischen Proletariern“ sprach, wurde die Realitätsverweigerung der Antisemiten deutlich: „Gibt es nicht!“ behauptete ein Zuruf. Scholem beschrieb daraufhin ausführlich die Deportation osteuropäischer, darunter auch jüdischer Zwangsarbeiterinnen und Arbeiter nach Deutschland bereits im Ersten Weltkrieg. Gleichzeitig brachte er Belege über die Tätigkeit ostjüdischer Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur unter Tage im Ruhrgebiet, sondern auch bei der Ernte auf den Gütern Ostelbiens – just auf den Feldern eines Bruders von Reinhold Wulle, dem Reichstagsabgeordneten und Vordenker der DNVP. Statt also die Ostjuden auszusperren, forderte Scholem eine „arbeiterfreundliche und kapitalistenfeindliche Ausländerpolitik“.

Widerstand gegen die antisemitische Anfrage kam also im Preußischen Landtag des Jahres 1922 vor allem aus den Reihen der Arbeiterbewegung, vorgetragen am prominentesten von Oskar Cohn (SPD) und Werner Scholem (KPD), die beide aus jüdischer Familie stammten und Antisemitismus aus eigener Erfahrung kannten. Die Arbeiterbewegung erwies sich damit als Emanzipationsraum, der Juden Rückhalt im Kampf gegen Antisemitismus verlieh. Auch SPD-Innenminister Severing lehnte Antisemitismus entschieden ab, erkannte jedoch ein „Fremdenproblem“ an. Er akzeptierte damit Setzungen der DNVP: Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit wurden nicht als Konflikt zwischen Arm und Reich gefasst, sondern „migrantisiert“. Nicht die Umverteilung zwischen den Klassen oder gar die Aufhebung des Klassengegensatzes waren Thema, sondern die Abwehr „fremder“ Übergriffe auf angeblich knappe nationale Ressourcen. War diese Rahmung einmal akzeptiert, konnten antisemitische und rassistische Reaktionen gegen Migration aus Osteuropa zwar noch rhetorisch abgelehnt, aber kaum mehr effektiv zurückgewiesen werden.

Ralf Hoffrogge

 

Literatur:

Ludger Heid: Oskar Cohn. Ein Sozialist und Zionist im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Frankfurt 2002.

Ralf Hoffrogge: Ein Tag im Leben der Weimarer Republik – Die „Ostjudendebatte“ des Preußischen Landtages von 1922, in: Markus Börner/Anja Jungfer/Jakob Stürmann (Hg.), Judentum und Arbeiterbewegung – das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Oldenburg 2018, S. 297-317.

Ralf Hoffrogge: Werner Scholem – eine politische Biographie (1895–1940), Konstanz 2014.


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