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Vergessene Motoren der Produktion - Akkordarbeiterinnen

Die Geschichte des bundesdeutschen Wohlstandes ist geprägt vom Bild des männlichen Industriearbeiters, der – zum Beispiel in der Automobilindustrie am Fließband – nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 1970er-Jahre die Wirtschaft ankurbelte. Vergessen bleibt eine wichtige Gruppe der Akkordbeschäftigten: Frauen.

Was ist Akkordarbeit?

In der Bundesrepublik ist Akkordarbeit heute oft nur noch die Ausnahme. Bis in die jüngste Vergangenheit prägte sie jedoch die Arbeit in den Fabriken. Ob in der Metall-, Lebensmittel- oder Textilindustrie – Produkte wurden arbeitsteilig und in Fließbandarbeit hergestellt, häufig im Akkord.

Beim Akkordlohn handelt es sich um eine Form des Leistungsentgeltes. Im Gegenteil zum Zeitlohn werden Beschäftigte nicht nur für ihre Arbeitszeit bezahlt, sondern erhalten für die Zahl der in einer bestimmten Zeitspanne produzierten Werkstücke einen Zuschlag. Wer mehr schafft, geht am Ende des Monats also mit einer volleren Lohntüte nach Hause. Grundlage für die Berechnung des Akkordzuschlages ist eine ermittelte Vorgabezeit, die eine Beschäftigte pro Arbeitsschritt zur Verfügung hat. Unterschieden wird außerdem zwischen Gruppen- und Einzelakkord. Während im Einzelakkord jeder Beschäftigte selbst für seine Stückzahl verantwortlich ist, errechnet sich der Akkordzuschlag beim Gruppenakkord aus einer gemeinsam erbrachten Leistung.

Die Folgen der Akkordarbeit: Stress, Eintönigkeit und körperliche Beschwerden

Die Folge, so beschrieb es eine junge Akkordarbeiterin 1977 in der feministischen Zeitung Courage sind „wahnsinnige Hetze und drei vier Handgriffe, die sich ständig wiederholten.“ Stress und Eintönigkeit sind die Motive, die auch andere Erfahrungsberichte durchziehen. So schrieb Marianne Herzog, die mit „Von der Hand in den Mund“ (1976) ein Buch zu Frauen im Akkord veröffentlichte: „Die Zerstörung, die der Akkord im Kopf anrichtet, wo ist das je ausgedrückt worden? Warum fällt mir das so schwer?“ Diese Form der Arbeit belastete nicht nur die Psyche, sondern führte wegen ihrer Einseitigkeit auch zu extremer körperlicher Abnutzung. Eine Arbeiterin erzählte: „Also oft, da meinen sie sie können’s nicht mehr aushalten, dann ist das Genick so steif, dann denken se, es bricht ihnen durch."

Prekäre Beschäftigung

Die bundesdeutsche Industrieproduktion war in einigen Teilen weiblich geprägt. 1976 waren etwa 32% der abhängig beschäftigten Frauen Arbeiterinnen. In Branchen wie der Textil- und Bekleidungsindustrie dominierten Frauen gar mit einem Anteil von 65%. Vier Fünftel der Industriearbeiterinnen arbeiteten im Gruppen- oder Einzelakkord. Zumeist wurden sie als un- oder angelernte Kräfte eingestellt, ein Umstand, der sie leicht ersetzbar machte und sich auch in der Bezahlung niederschlug. Als „typisch weiblich“ galten Arbeiten wie das Zusammensetzen kleiner Bauteile, eine Aufgabe, die zwar Fingerfertigkeit und Konzentration, aber oft geringe Muskelkraft erforderten und damit als „leicht“ eingestuft wurden. Die Folge waren eine niedrigere Entgeltgruppe – die sogenannten „Leichtlohngruppen“ – und geringere bis fehlende Zuschläge. Zwischen Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeitern in der Industrie herrschte dadurch eine Lohnlücke von 20 Prozent.

„Kein Unternehmer will eine Frau für qualifizierte Arbeitsplätze ausbilden oder einstellen, solange ihm die Frau als Arbeitskraft durch Heirat und Familiengründung verloren gehen kann. Das Kostenrisiko ist ihm zu hoch. Da setzt er sie lieber in der Akkordarbeit ein, hier kann er Raubbau mit ihrer Arbeitskraft betreiben, und wenn sie körperlich am Ende ist, schiebt er sie ab in die Familie.“, klagte ein Beitrag aus der Frauenbewegung zum 1. Mai 1977 die Problemlage an. Für Arbeiterinnen ohne deutschen Pass war die Situation gleichwohl noch schwieriger. Sprachbarrieren verhinderten die Kommunikation mit Kolleginnen, der betrieblichen Interessenvertretung oder der zuständigen Gewerkschaft. Häufig war ihr Aufenthaltstitel an die Arbeitsstelle geknüpft, so dass es mit noch größeren Risiken verbunden war, sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu wehren.

Die Angst vor dem „Stopper“

Für die Arbeiterinnen ging mit Akkordarbeit eine Entfremdung von der Arbeit einher. Sie beschrieben ihre Tätigkeit als reinen „Gelderwerb“ statt eines sinnstiftenden Berufes. Die „Akkordhetze“ führte außerdem zu körperlichem Verschleiß und nach Feierabend zu extremen Erschöpfungserscheinungen. Verständlich ist deshalb die in vielen Erfahrungsberichten zu findende Angst vor dem „Stopper“, der die Zeit erfasste, und die Frustration über die REFA-Methode, die zur Ermittlung der Vorgabezeit angewendet wurde. Der REFA-Verband wurde bereits 1924 als Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung gegründet und seitdem mehrfach umbenannt, im Kern ist die REFA-Methode jedoch gleichgeblieben. In regelmäßigen Abständen wurden die Zeiten der Akkordarbeiterinnen per Stoppuhr erfasst, der Grad ihrer Verausgabung geschätzt und damit neue Vorgabezeiten festgelegt. Die Akkordarbeiterinnen kritisierten, dass oft ein Leistungsabfall zum Ende der Schicht nicht mitberechnet wurde. Im Gegenteil wurde gerne nach der ersten Pause mit der Zeitermittlung begonnen, weil die Frauen dann neue Kraft sammeln konnten. Häufig wurde nur die schnellste Arbeiterin gestoppt, so dass sich im Anschluss die Stückzahlen für alle erhöhten. Die Folge waren noch schnelleres Arbeiten, steigender Druck und weitere körperliche Abnutzung. Im schlimmsten Fall gingen durch die Leistungssteigerungen Arbeitsplätze verloren. Weil die Frauen in kürzerer Zeit gezwungen waren, mehr Teile zu produzieren, konnten überflüssige Kolleginnen abgebaut werden.

Doppelbelastung

Ausruhen war für viele Frauen nach der Schicht trotzdem keine Option. Zu Hause warteten oft Pflichten im Haushalt und die Familie. Die Studie „Eins ist zuwenig – beides ist zu viel“ (1984) von Regina Becker-Schmidt, Gudrun-Axeli Knapp und Beate Schmidt untersuchte ausführlich die Doppelbelastung von Akkordarbeiterinnen. Dabei stellten die Autorinnen unter anderem fest, dass die Frauen auch am Wochenende die Fähigkeit zur Entspannung verloren. Weil ihr Alltag ausschließlich von Arbeit bestimmt war, erlaubten sie sich nicht, abzuschalten. Die Erfahrungsberichte der befragten Frauen sind außerdem geprägt von Ängsten, das Arbeitspensum zu Hause nicht zu schaffen.

Als Lösung für dieses Problem wurde ab den 1960er Jahren unter dem Schlagwort „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ die Teilzeitarbeit als ideales Arbeitsmodell für Frauen vermarktet. Die Industrie reagierte mit der Einführung sogenannter Hausfrauenschichten, häufig in den Nachmittagsstunden und am frühen Abend, und ermöglichte so Akkord in Teilzeit. Trotz Kritik von Gewerkschaften und aus der Frauenbewegung, die Teilzeitarbeit als prekäre Beschäftigung mit geringen Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten ablehnten, stieg die Nachfrage nach diesen Arbeitsplätzen unter Frauen rasant.

Akkord und Solidarität

In allen Erfahrungsberichten aus den 1970er Jahren dominiert ein negatives Bild der Akkordarbeit. Kontrastiert wird es durch Solidaritätserzählungen, die sich durch die Beiträge ziehen. Arbeiterinnen erhöhten im Gruppenakkord ihr eigenes Tempo, um der Kollegin den Gang zur Toilette zu ermöglichen, halfen bei der Einarbeitung oder sprangen bei kurzzeitigem Arbeitskraftverlust ein. Ließ die Arbeitsumgebung es zu, versuchten die Frauen mit Gesprächen der Monotonie entgegenzuwirken. Oftmals waren diese Unterstützungsleistungen aus der Notwendigkeit der Arbeit geboren. Wer zu langsam arbeitete, sorgte für Verzögerungen und beeinflusste damit auch die Akkordleistung der Kolleginnen. „Ohne solidarische Gesten kann Hand-in-Hand-Arbeit nicht funktionieren.“ Gleichzeitig wurde in den Beiträgen die Bedingung nach „Wechselseitigkeit“ betont. Nur wer selbst bereit war, schneller zu arbeiten, konnte auf die Unterstützung der anderen Frauen zählen. Wer hingegen den Eindruck erweckte, die Solidarität der anderen auszunutzen, musste mit Missgunst und Wut rechnen. 

Trotz der beschriebenen Probleme wie Monotonie, Leistungsdruck und Erschöpfung bietet der Leistungslohn, zu dem auch die Akkordarbeit gehört, einen entscheidenden Vorteil: Betriebsräte können bei der Festsetzung der Akkordsätze mitbestimmen und verhindern damit die einseitige Erhöhung des Leistungsdrucks durch den Arbeitgeber. Für Akkordarbeiterinnen war dies ein Hebel, um sich gegen zu hohe Vorgabezeiten zu wehren. Courage berichtete 1978 vom Flensburger Unternehmen Storno Electronic GmbH, bei dem Frauen erfolgreich die Überprüfung ihrer Akkordsätze durchsetzten. Für fünf von ihnen war diese Auseinandersetzung gar der Startpunkt für weiteres Engagement. Sie wurden in den Betriebsrat gewählt.

Eine gesellschaftliche Debatte ist notwendig

Schlechtere Bezahlung gegenüber männlichen Kollegen, geringe Aufstiegsmöglichkeiten, fehlende Ausbildungsplätze und Doppelbelastung durch Sorgearbeit waren in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur für Frauen in der Industrie ein Problem. Für Akkordarbeiterinnen kamen außerdem die Monotonie der Fließbandarbeit und die körperlichen Folgen der immer gleichen Handbewegungen hinzu. Kontrastiert wird das negative Bild der Akkordarbeit vor allem durch kleine Hoffnungserzählungen der Solidarität. Dennoch ist die Arbeit vor allem geprägt von einer doppelten Unsichtbarkeit: Die besonders prekären Arbeitsbedingungen von Frauen im Akkord gingen in der allgemeinen Debatte um Humanisierung der Arbeit unter, gleichzeitig wird der historisch hohe Anteil von Frauen in der Industrie heute oft unterschätzt. Der Umgang mit Fabrikarbeiterinnen reiht sich ein in eine gesellschaftliche wie gewerkschaftliche Erinnerungspraxis, die Lebensrealitäten von Frauen oft vergisst.

Dieser Befund unterstreicht die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Debatte über die Bedingungen, zu denen Frauen Erwerbsarbeit nachgehen. Denn auch wenn Akkordarbeit in einer hochtechnisierten Industrie, in der Roboter und vernetzte Werkbänke große Teile der Wertschöpfung übernehmen und Modelle wie Just-in-Time-Produktion die Massenfertigung von Bauteilen zur Lagerung überflüssig machen, ein Auslaufmodell ist, dominiert bis heute Leistungsverdichtung die Industrieproduktion.

Sophia Kuhnle

Quellen und Literatur

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Betti, Eloisa/Papastefanaki, Leda/Tolomelli, Marica/Zimmermann, Susan (Hrsg.): Women, Work, and Activism. Chapters of an Inclusive History of Labor in the Long Twentieth Century, Budapest/New York 2022.

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Epping, Rudolf/Langkau, Joachim/Langkau-Herrmann, Monika/Meuter, Gisela/Stiegler, Barbara: Unter Wert verkauft. Frauenarbeit heute, Bonn 1979.

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Herzog, Marianne: Von der Hand in den Mund. Frauen im Akkord, Berlin 1978.

Hofbauer, Hans: Ausbildungs- und Qualifikationsstruktur der erwerbstätigen Frauen in der Bundesrepublik Deutschland in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 11 (1972), S 700–707.

Lappe, Lothar: Frauen im Ghetto: Der frauenspezifische Arbeitsmarkt und seine Folgen, in: PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft, 4 (1982), 60–76.

Müller, Christa: Kündigungen wegen Matjes, in: Courage 1 (1978), S. 10–11.

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Wöhler, Maike: „In Deutschland wartet das Paradies auf uns“. Die Olympia Werke und die griechische Arbeitsmigration in Nordwestdeutschland, Bielefeld 2023.


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