Akademie für Soziale Demokratie

Andreas Reckwitz (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin: Suhrkamp Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Maike Rocker
Maike Rocker ist Politikwissenschaftlerin und twittert zu Gerechtigkeitsfragen und dem Leben in der USA.


buch|essenz

Kernaussagen

  • Die Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz bietet eine umfassende Analyse der spätmodernen, also gegenwärtigen Gesellschaft in ihrem Streben nach Singularisierung. Der Autor untersucht, wie sich dieses Streben im Strukturwandel von Ökonomie, Arbeitswelt, Technologie, Lebensstilen und Politik wiederfindet, und zeigt auf, welche teils widersprüchlichen gesellschaftlichen Dynamiken freigesetzt werden.
     
  • Die spätmoderne Gesellschaft erhebt, anders als die Gesellschaften zuvor, das Besondere und Singuläre zum gesellschaftlichen Maßstab. Wie wir wohnen, essen, arbeiten, wohin und wie wir reisen, unser Körper, unser Konsum, unsere Freunde, selbst die Politik: Alles soll individuell, besonders, wertvoll sein; Selbstverwirklichung ist das vorherrschende Ziel. Wem sie gelingen kann und wem eher nicht, und welche gesellschaftlichen Unwuchten dies zeitigt, ist Teil dieser großen Gesellschaftsanalyse.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Das Werk mit dem Anspruch einer Theorie der Moderne zeigt auf, wo in der gegenwärtigen Gesellschaft die Chancen und Gefahren für gelingendes Leben liegen, ohne selbst normativ zu sein. Der Autor will „Sensibilität für die Konfigurationen des Sozialen (..) entwickeln, dafür, wie sie zu Strukturen der Herrschaft und der Hegemonie gerinnen“. Seine Analyse liefert also mögliche Hebel, an denen aus Sicht der Sozialen Demokratie politische und gesellschaftliche Akteur_innen ansetzen können, wenn sie eine gerechtere Gesellschaft gestalten wollen.


buch|autor

Andreas Reckwitz, geboren 1970, ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor zahlreicher soziologischer Schriften. 2019 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Sein preisgekröntes Werk Die Gesellschaft der Singularitäten stand u. a. auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch.


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buch|inhalt

Einleitung: Die Explosion des Besonderen

Das Besondere, Einzigartige, Singuläre ist zum gesellschaftlichen Maßstab der Erwartungen in nahezu allen lebensweltlichen Bereichen geworden; für Individuen genauso wie für Objekte, Ereignisse, Orte und Kollektive. Vornehmlich gilt das in der neuen, hochqualifizierten Mittelklasse, die zur kulturell dominanten Trägergruppe geworden ist: Das eigene Leben wird sorgfältig kuratiert, um dann vor anderen performed zu werden. Menschen bewegen sich auf umfassenden sozialen Attraktivitätsmärkten, auf denen sie im Wettbewerb um Sichtbarkeit stehen. Der Definitionskampf darum, was nun als singulär gilt und was nicht, ist konstitutiver Bestandteil dieser Ökonomie des Besonderen.

In der Gesellschaft der klassischen Moderne, die ab etwa dem 18. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Westen vorherrschte, war der Wesenskern hingegen eine soziale Logik des Allgemeinen. Standardisierung, Rationalisierung, Formalisierung herrschten vor – vom Bildungskanon bis Fastfoodketten, von Technikanwendungen bis zu rechtsstaatlichen Normen.

Die Ursache für den Wandel sieht Reckwitz in Ökonomie und Technologie: Dinge, Dienste, Ereignisse, Medienformate sind dann erfolgreich, wenn sie als einzigartig anerkannt werden, und digitale Technologie leistet personalisierte Erfahrungen. Beispiel: Durch Data-Tracking der digitalen Profile jeder einzelnen gliedern sich angezeigte Suchergebnisse, Werbung, Inhalte und mehr.

Ein zentraler Begriff dieser Gesellschaft ist der der Kultur. Kultur ist immer dort, wo ein gesellschaftlicher Wert zugeschrieben wird. Das Soziale wird kulturalisiert, dadurch valorisiert und so singularisiert. Damit verbunden ist die extreme Relevanz der Affekte. Nur was Affekte auslöst, ist attraktiv und authentisch und gilt damit als wertvoll.

Der Prozess der Singularisierung begann allerdings etwa gleichzeitig mit der sozialen Logik des Allgemeinen: Die Romantiker_innen hoben als Erste die Einzigartigkeiten von Menschen, Natur, Orten, Augenblicken und damit die Vorstellung einer emphatischen Individualität des Subjekts hervor, die es zu entfalten und verwirklichen gelte. Sie legten damit den Grundstein für den postmaterialistischen Wertewandel in den 1970ern, der Ideen der Selbstverwirklichung nach vorne stellt. „Die Bedeutung der Epoche der Romantik für die Kultur der Besonderheit in der Moderne kann gar nicht überschätzt werden“, betont der Autor mehrfach im Buch.

Die Moderne zwischen der sozialen Logik des Allgemeinen und des Besonderen

Die Moderne unterliegt zuerst einem Prozess der formalen Rationalisierung durch Effizienz. Dies kann als eine Antwort auf ein Knappheits- und Ordnungsproblem gelesen werden. Technische Rationalisierung (Stichworte: Maschinen, Logistik, Waren) ist wichtig vor allem bei der Güterproduktion und -distribution. Kognitive Rationalisierung kommt vor allem in den Wissenschaften zum Tragen; Subjekte erlernen so die gleichen Kompetenzen. Normative Rationalisierung bestimmt das Rechtssystem und will eine transparente und gerechte Ordnung schaffen. Diese Logik legt die Basis für gesellschaftliche Funktionsrollen unabhängig von Familien- oder Gruppenzugehörigkeit.

Die in der Spätmoderne aufkommende Kulturalisierung des Sozialen, die von der substrukturell weiterlaufenden Rationalisierung profitiert, lässt sich hingegen als eine Antwort auf die gesellschaftliche Sinn- und Motivationsfrage deuten: Wozu soll Leben gelebt werden, wenn Mangel und Unordnung gebannt sind?

Die postindustrielle Ökonomie der Singularitäten

Das Primat der Ökonomie des industriell Allgemeinen wird seit den 1970ern vom Primat der Ökonomie des kulturell Besonderen abgelöst. Konsummuster pluralisieren sich. Aufmerksamkeit und Wertbeimessung sind prägende Elemente auf den Singularitätsmärkten des postindustriellen Kulturkapitalismus. Beispielhaft konkurrieren darum Religionen, Urlaubsziele oder Filme.

Überall geht es um die Aufführung von Singularitäten: Mediale Formate wie Musiktitel, Romane, Spiele, TV-Shows, Serien, Instagram-Accounts bieten potenziell einzigartige, originelle Welten. Ereignisse und Events wie Sportveranstaltungen, Filmfestspiele, Reisen, Abschlussfeiern herausgehobene Einzigartigkeitsgüter: Sie sind einmalig und rein dem Genuss verschrieben. Es gibt auch langfristige Singularisierungen: Güter, die zu modernen Klassikern, zu Marken, anerkannten Namen avancieren. Ein Beispiel für eine spezielle Ausprägung der Singularisierung der Dingwelt ist der ethische Konsum: Die Dingbiografie wird plötzlich kaufentscheidend.

Menschen sind also permanent von Dingen, Räumen und Diensten umgeben, die Anspruch auf Singularität erheben, und lernen so, dass dies der Normalfall des Sozialen sein muss: Etwas gilt (nur dann) in der Welt, wenn es interessant und wertvoll ist. Also erwarten Menschen diese Einzigartigkeiten auch von sich selbst.

Die Singularisierung der Arbeitswelt

Auch Arbeitsformen sind der Transformation zu mehr Singularisierung unterworfen. Kriterien wie Kreativität, Profil, Performanz werden prägend. Die industrielle Logik der Arbeitswelt mit standardisierten Kompetenzen erodiert.

Menschen, besonders mit höherer, oft akademischer, Ausbildung arbeiten verstärkt an singulären Gütern, und gleichzeitig an der eigenen Persönlichkeit und an Netzwerken, um möglichst selbst einzigartig-singulär zu sein. Diese kreative Arbeit wird permanent geleistet, so dass die Trennlinie zwischen Arbeit und privater Zeit verschwimmt. Gleichzeitig existieren die industrielle Produktion von Gütern sowie der Sektor der routinierten, unterstützenden Dienstleistungen weiter. Es kommt zu einer Polarisierung der Arbeitswelt. Die gesellschaftliche Wahrnehmung ist: sozial wertvolle und intrinsisch motivierte befriedigende Arbeit hier, standardisierte Arbeit mit geringem Sozialprestige und individueller Befriedigung dort.

Digitalisierung als Singularisierung: Der Aufstieg der Kulturmaschine

Das digitale Netz bietet einen Generator für Singularisierung des Sozialen, denn es verfertigt Kulturformate im weitesten Sinne. Somit wird moderne Technologie zur immer verfügbaren Kulturmaschine, die dadurch eine Art technologische Neben-Umwelt formt. Extreme Überproduktion von Formaten bei gleichzeitiger Knappheit der Aufmerksamkeit sind kennzeichnend; auch weil bisherige Rezipient_innen jetzt sehr einfach zu Produzent_innen werden können.

Portale wie Google oder Facebook verwandeln durch ihre maschinell-algorithmische Kuratierung nach getrackten Nutzer_inneninteressen die im Prinzip universale kulturelle Welt in unzählige singularisierte Welten. Gleichzeitig wird Menschen mit Partikularinteressen (z.B. Ayurveda-Fans, Verschwörungstheoretiker_innen) ermöglicht, sich zu Neogemeinschaften zusammenzuschließen.

Ein Dilemma der digitalen Singularisierungsbewegungen ist, dass eine forcierte Ausrichtung am Besonderen zu einer Erosion der allgemeinen Wirklichkeitsrezeption führen kann, die eine gemeinsame Debattenbasis zwischen Menschen verkompliziert und schlimmstenfalls in ein Freund-Feind-Denken umschlägt.

Die singularistische Lebensführung: Lebensstile, Klassen, Subjektformen

In den 1950-70er Jahren galt, unter anderem in Westdeutschland, als Lebensstil der Normalität das Modell einer allumfassenden Mittelschicht mit vergleichsweise geringer Einkommensungleichheit selbst bei unterschiedlichem Bildungsabschluss. Reckwitz beschreibt den darauf einsetzenden Individualisierungsprozess als Anfang einer neuen Klassengesellschaft: Die ehemalige Mitte erodiert. Es bildet sich eine Klasse mit hohem kulturellen und mittlerem bis hohem ökonomischen Kapital sowie eine Klasse mit niedrigem kulturellen und ökonomischen Kapital heraus. Dazwischen existiert die alte Mittelklasse weiter, deren Lebensstil jetzt nur noch als Mittelmaß gilt, und eine winzige Oberklasse. Die spätmoderne Gesellschaft ist damit eine Drei-Drittel-Gesellschaft.

Die Einkommensschere zwischen Akademiker_innen und Nichtakademiker_innen hat sich seit den 1980er-Jahren deutlich geöffnet. Während in der industriellen Moderne Mühsal der Arbeit noch gegen Status getauscht wurde und dadurch Stolz auf die eigene Arbeit entstand, weil sie einen guten Lebensstandard sicherte, ist dies bei der neuen Dienstleistungs-Unterklasse anders: Materiell ist sie schlechter gestellt, gleichzeitig gesellschaftlich abgewertet, denn die mehrheitsgesellschaftliche Entwertung der Güter und Praktiken, die die neue Unterklasse verwendet, übersetzt sich in eine Entwertung ihrer Subjekte.

Während das Leben der Unterklasse an der Aufrechterhaltung der Normalität und der Befriedigung von Grundbedürfnissen ausgerichtet ist, sucht die neue Mittelklasse mit ihrem singularistischen Lebensstil nach Selbstverwirklichung, dem Authentischen und dem kulturell „guten Leben“. Dies gilt gesellschaftlich als wertvolle Lebensform, auch wenn sie im Gegensatz zu dem der klassischen Moderne extrem enttäuschungsanfällig ist.

Bausteine eines singularistischen Lebensstils sind vor allem in den Bereichen Essen, Wohnen, Reisen, Körperpflege sowie Kindererziehung und Beschulung zu finden.

Beispiel Erziehung: Statt des sozial angepassten Kindes, wie es das Ideal der alten Mittelstandsgesellschaft war, soll das Kind nun autonom und selbstmotiviert sein, mit ausgeprägtem Selbstwertgefühl und vielseitigen Interessen, die seine Eigensinnigkeit fördern: ein Singularisierungsprogramm fürs Kind.

Ganz anders in der neuen Unterklasse: Hier ist das disziplinierte, regelkonforme Kind das Erziehungsideal, um weiteren familiären Stress zu vermeiden, der sowohl durch „Abrutschen“ entstehen würde, aber auch durch das Mittelklasse-Ideal des Sich-selbst-Ausprobierens.

Differenzieller Liberalismus und Kulturessenzialismus: Der Wandel des Politischen

In der Spätmoderne wird die Politik des Allgemeinen mehr und mehr von einer Politik des Besonderen abgelöst, die in zwei Versionen auftritt:

zum einen die Politik des apertistisch-differenziellen Liberalismus, die sich wirtschaftlich, sozial und kulturell öffnet und gleichzeitig kulturelle Unterschiede auch aus Wettbewerbsgründen fördert. Diese Politik umspannt das politische Spektrum von Mitte-links bis Mitte-rechts;

zum anderen die globale politische Tendenz zum Kulturessentialismus und Kulturkommunitarismus, die sich auf Partikulargemeinschaften und kollektive Identitäten beruft.

Wie ist es dazu gekommen?

In der Blütezeit der organisierten Moderne war das Ziel der Politik die Angleichung der Lebensbedingungen aller Bevölkerungsschichten sowie die Etablierung von sozialstaatlichen Standards, um individuelle Risiken zu minimieren: ein sozialdemokratisch-korporatistischer Konsens. Dieser erodierte ab den späten 1970er Jahren, als Öffnung und Deregulierung des Sozialen zum gesellschaftlichen Imperativ wurden. Die Zeit des innovationsorientierten Wettbewerbsstaats begann. Gleichzeitig wurde gesellschaftspolitisch die Vielfalt der Persönlichkeiten, der Herkunftskulturen und der Lebensstile wertgeschätzt, was sich auf der Policy-Ebene durch Adressierung von Themen wie Nichtdiskriminierung, Diversität, Lebensqualität und Pflege von kulturellem Erbe abbildete.

Seit den 1980er-Jahren kam als Gegentendenz ein vielschichtiges Feld von Kulturessenzialismen hinzu. Diese Bewegungen lassen sich als kritische Reaktion auf die liberale Hyperkultur interpretieren. Gemeinsam ist ihnen: Auch sie betreiben Singularisierung. Da sie sich als Kollektive organisieren, entlasten sie das Individuum von den Wettbewerben um Sichtbarkeit und Eigenwert. Zentral ist die feste Grenze zwischen Eigengruppe und Anderen, mit der Tendenz, die Anderen abzuwerten. Neben ethnischen Gemeinschaften, deren Hauptthemen Gleichberechtigung und Respekt der Mehrheitsgesellschaft vor der kulturellen Differenz sind, sind Kulturnationalismen, religiöse Fundamentalismen und Rechtspopulismus zu nennen. Letzterer verfolgt das Gegenteil einer Politik der Öffnung, ist antiplural, in Teilen auch antielitär. Sein globales Ideal sind die nach innen geschlossene „Kulturkreise“.

Schluss: Die Krise des Allgemeinen?

Die spätmoderne Gesellschaft der Singularitäten justiert die Relation zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen neu: Die Idee eines allgemeinen Fortschritts ist nicht mehr strukturbildend. Weitere Krisen ergeben sich:

Krise der Anerkennung: die sich auftuende sozial-materielle Schere zwischen den Hochqualifizierten der expandierenden Wissens- und Kulturökonomie und den Geringqualifizierten, die gleichzeitig auch kulturell polarisiert.

Krise der Selbstverwirklichung: Wenn sie misslingt, also das subjektive Erleben und die Bewertung durch andere negativ ist, setzen sich diese permanente Enttäuschung und Minderwertigkeitsgefühle im Extrem in psychische Symptome um.

Krise des Politischen: Verloren gegangene gesamtgesellschaftliche Steuerungsmöglichkeiten, kulturelle Partikularismen sowie die Parzellierung der politischen Öffentlichkeit können als Ausdruck des Verschwindens des Allgemeinen aus der Politik interpretiert werden. Der spätmoderne Staat versteht sich eher als Einrichtung zur Ermöglichung privaten Konsums und nicht zur Verfolgung gesamtgesellschaftlicher Ziele.

Wie kommt die Gesellschaft wieder zu einem gemeinsamen Allgemeinen? Reckwitz nennt hier unter anderem die Rekonstruktion einer allgemeinen Öffentlichkeit, in denen Subjekte aus unterschiedlichen Klassen und Milieus der Gesellschaft aufeinandertreffen. Er erkennt bereits Anzeichen eines neuen politischen Paradigmas, das staatliche Strukturen wieder an Bedeutung gewinnen lässt, das er als regulativen Liberalismus einführt. Global sagt Reckwitz aber in Zukunft erst noch eine Entfesselung der Gesellschaft der Singularitäten voraus.


buch|votum

Die hier von Andreas Reckwitz aufgefächerte Gesellschaft der Singularitäten lässt die Leser_innen aus der von ihm beschriebenen hegemonialen neuen Mittelklasse sicherlich ertappt zurück: Sie werden indirekt damit konfrontiert, wie sehr sie und ihre dem guten Leben verschriebenen Praktiken zur gesellschaftlichen Polarisierung und den gegenwärtigen Krisen beitragen. Welche politischen Konsequenzen können und sollten aus Sicht der Sozialen Demokratie daraus gezogen werden?

Ziel der Sozialen Demokratie ist seit jeher, eine freie und gerechte Welt zu schaffen. Wie gerecht ist nun die aktuelle? Reckwitz beschreibt eine Gesellschaft, in der Egozentrik, gelingende Performance und das Streben nach Distinktionsgewinnen quasi notwendige Eigenschaften der bei der Selbstverwirklichung Erfolgreichen sind. Als gleichzeitig entstehende Probleme beschreibt er einen dramatischen Anstieg von sozialer Ungleichheit, psychischer Überforderung und globaler Kulturkämpfe um Deutungshoheit über das, was wertvoll und wertlos sei. Denjenigen Menschen, die ihr Leben nicht im Dauerwettbewerb performen können oder wollen, wird der gesellschaftliche Respekt aberkannt – unabhängig von ihrer Arbeit, ihrer Leistung, ganz zu schweigen von ihrer Würde als Mensch. Gerechtigkeitsnormen der industriellen Leistungsgesellschaft gelten nicht mehr. Aufstiegsversprechen werden nicht erfüllt, weil vor allem das inkorporierte kulturelle Kapital der Herkunftsmilieus entscheidet. Dazu kommt: Leistung zählt nicht nur nicht, sondern Menschen in einfachen Dienstleistungsjobs werden für ihre geleistete und gerade auch von der neuen Mittelklasse notwendig gebrauchte Arbeit sogar abgewertet – und damit gleichzeitig auch für ihre Art zu leben. Das lässt gesellschaftlichen Zusammenhalt massiv erodieren.

Die Bildungsexpansion trägt überdies paradoxerweise dazu bei, dass diejenigen mit mittlerer Bildung zur Gruppe der Bildungsverlierer_innen zählen – als müsse nunmehr jede Person die höchstmögliche formale Bildung anstreben und sei nicht „gut genug“, wenn sie „nur“ einen Ausbildungsberuf ergreift. Diese Bewertungs-, Kultur- und Verteilungskämpfe führen die Gesellschaft immer weiter weg von einem gemeinsamen Allgemeinen.

All das muss die Soziale Demokratie beschäftigen, wenn das Urversprechen weiter gelten soll, für eine solidarische, progressive Gesellschaft mit gleichen Teilhabemöglichkeiten für alle einzustehen. Solidarität ist letztlich nichts anderes als Respekt, Anerkennung und – wo nötig – Hilfe. Es braucht (wieder) ein gemeinsames gesamtgesellschaftliches Interesse an der Wertschätzung des Beitrags jedes Individuums für die Gesellschaft, materiell und sozial.

Reckwitz’ Analyse der Gegenwartsgesellschaft liefert damit einen Überblick über die mehr oder auch weniger Erfolg versprechenden Hebel, über die gesellschaftliche Änderungen gesteuert werden könnten.

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Verlag: Suhrkamp Verlag
Erschienen: 2017
Seiten: 480
EAN: 978-3-518-58742-3