Akademie für Soziale Demokratie

Lisa Herzog (2019): Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. München: Hanser Verlag

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Kurzgefasst und eingeordnet von Ann-Mareike Bauschmann
Ann-Mareike Bauschmann  arbeitet in Berlin in der Internationalen Zusammenarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung.


buch|essenz

Kernaussagen

Die digitale Transformation wird unser Verständnis von Arbeit grundlegend verändern. Sie dient nämlich nicht nur dem Erwerbseinkommen, sondern bindet die Menschen auch in soziale Beziehungen ein. In Gesellschaften mit Arbeitsteilung sind alle, die am Arbeitsprozess teilnehmen, voneinander abhängig.

Der Prozess der digitalen Transformation muss deswegen aktiv gestaltet werden, sodass der Effizienzgewinn nicht einseitig zugunsten großer Digitalkonzerne ausfällt.

Dafür muss nicht nur der Primat der Politik zurück aufs Spielfeld, es müssen auch Betriebe umdenken: demokratische Prinzipien anstelle steiler Hierarchien.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Dass wir Arbeit heute als Lohnarbeit, als Broterwerb oder als Berufung verstehen, hat politische und kulturelle Ursprünge. Auch das ökonomische Prinzip des homo oeconomicus beruht auf einem spezifischen Menschenbild, das der Empirie widerspricht. Das Aufbrechen dieser historisch gewachsenen Annahmen ist notwendig, um die dahinterliegenden Machtverhältnisse zu analysieren.

Das Buch hilft, die großen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und der Organisation von Arbeit wieder in den Blick zu nehmen. Es liefert eine klare Realutopie, wie Arbeit unter den Bedingungen der digitalen Transformation gestaltet werden könnte.


buch|autorin

Lisa Herzog ist politische Philosophin. Sie studierte in Oxford und München, unter anderem Volkswirtschaftslehre, Philosophie und Politikwissenschaften. 2019 wurde sie an die Universität Groningen berufen. Dort hat sie einen Lehrstuhl für Philosophie (Politics and Economics) inne. Herzog erhielt 2019 unter anderem den Tractatus-Preis für philosophische Essaykritik und ist Mitunterzeichnerin des Manifests Arbeit – demokratisieren, dekommodifizieren, nachhaltig gestalten, das im Mai 2020 von 3.000 Wissenschaftler_innen unterschrieben und weltweit veröffentlicht wurde.


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buch|inhalt

Arbeit ist geteilte Arbeit

Die klassischen ökonomischen Modelle beschreiben Arbeit als Mittel, um Einkommen zu erzielen. Ihnen liegt daher ein radikaler Individualismus zugrunde: Arbeit wird als reines Ego-Projekt verstanden. Diese Annahme greift zu kurz. Sie ist inzwischen empirisch widerlegt (vgl. S. 12).

Die Arbeit der oder des Einzelnen ist nämlich in ein komplexes arbeitsteiliges System eingebettet.

Während der Philosoph Karl Marx das kapitalistische, arbeitsteilige System als entfremdet beschrieben hat, lässt sich Arbeitsteilung aus der systemischen Perspektive als eine Art Solidarprinzip verstehen. Arbeitsteilung bedeutet somit, dass der oder die Einzelne sozial auf andere Menschen angewiesen ist. Wenn wir uns als Teilnehmer_innen des Wirtschaftssystems auf einen speziellen Teilbereich fokussieren, bleiben wir in den meisten anderen auf die Expertise, das Wissen oder die Fähigkeiten anderer angewiesen. Gleichzeitig tragen wir durch unsere Interessen oder Fähigkeiten zu deren Teilnahme bei.

Konkret: Keine Ärztin ohne Krankenpfleger, kein Krankenpfleger ohne Haustechnikerin, keine Haustechnikerin ohne IT-Dienstleister, kein IT-Dienstleister ohne Ingenieur. Die Abhängigkeiten sind endlos.

Arbeit als Produktionsstätte gesellschaftlichen Zusammenhalts

Zudem werden Menschen durch ihre Arbeit Tag für Tag in die Gesellschaft integriert. Das geschieht auch dadurch, dass man sich mit Kolleg_innen austauscht, die nicht zum selbst gewählten sozialen Umfeld gehören. Daher hat Arbeit einen zutiefst sozialen und durchaus politischen Charakter. Sie erzeugt gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wenn man den Prozess der digitalen Transformation allein den freien Märkten überlässt, fehlen diese entscheidenden Variablen in der Kalkulation.

Arbeit ist mehr als die Summe ihrer Teile

Fest steht: Arbeit ist weder reines Mittel zum Zweck der Einkommensgenerierung, noch ist sie reine Selbstverwirklichung. Die Vernachlässigung der sozialen Dimension von Arbeit führt zu ihrer Sinnentleerung, weil sie dem Einzelnen nicht mehr das Gefühl gibt, zur Gesellschaft beizutragen.

 

Gute Arbeit retten: Mensch und Maschine

Fest steht: Arbeit ist weder reines Mittel zum Zweck der Einkommensgenerierung, noch ist sie reine Selbstverwirklichung. Die Vernachlässigung der sozialen Dimension von Arbeit führt zu ihrer Sinnentleerung, weil sie dem Einzelnen nicht mehr das Gefühl gibt, zur Gesellschaft beizutragen.

Die Arbeitswelt gestalten: der ordnungspolitische Rahmen (I)

Um hierauf eine Antwort zu finden, müssen zwei Ebenen des Transformationsprozesses betrachtet werden: zum einen die sich verändernde Arbeitswelt, zum anderen ihr ordnungspolitischer Rahmen.

Zu den politischen Rahmenbedingungen: Warum es ratsam ist, sich der politischen Rahmenbedingungen anzunehmen, zeigt sich in der Antwort auf die Frage, wer am stärksten von der Digitalisierung profitiert.

 

Wer profitiert von der bestehenden Marktordnung?

In erster Linie sind es derzeit Großkonzerne wie Facebook, Google und Co. Sie stellen sich keiner normalen Marktkonkurrenz mehr, weil sich der Wert ihrer Arbeit, zum Beispiel durch das einmalige Schreiben einer Programmsoftware, vervielfacht, ohne dass dabei nennenswerte Mehrkosten verursacht werden. Ökonom_innen sprechen hier von Skaleneffekten.

Die digitale Transformation befördert Marktverzerrungen und Zugangsbeschränkungen, denen nur auf ordnungspolitischer Ebene begegnet werden kann. Sie muss gerade deswegen auch als Verteilungsfrage verstanden werden. Verteilungsfragen sind keine rein ökonomischen Herausforderungen, sondern bedürfen des Primats der Politik.

 

Verantwortung und Haftung nicht entkoppeln

In einer ungleichen Gesellschaft gilt das Prinzip Verantwortung und Haftung nicht für alle gleichermaßen. Wohlhabendere können sich durch Versicherungen oder teure Anwält_innen der persönlichen Haftung entziehen und durch Lobbyismus den politischen und rechtlichen Rahmen zu ihren Gunsten verschieben.

Das Problem der vielen Hände

Die Digitalisierung verschärft dieses Problem noch: Die komplexer werdenden Produktionsketten einer arbeitsteiligen Gesellschaft führen zum Problem der vielen Hände. Es fällt leichter, sich der Verpflichtung, „moralisch rechtfertigbare Entscheidungen“ (S. 110) zu treffen, zu entziehen. Schließlich ist der Verweis auf die anderen immer möglich.

Rechtsformen und Rechtsnormen müssen den Potenzialen der Digitalisierung angepasst werden, sodass Verantwortung und Haftung zugeschrieben werden können.

Wer haftet, wenn es keiner war?

Zudem birgt die Digitalisierung die Gefahr, dass Fehler von Systemen gemacht werden, die die Benutzer_innen nicht durchschauen. Wer haftet in solchen Fällen? Die Benutzerin? Der Hersteller? Gerade in jenen Bereichen, in denen für den Einzelnen viel auf dem Spiel steht (Justiz, Medizin etc.), müssen die zugrunde liegenden Algorithmen öffentlich gemacht werden.

Öffentliche Institutionen müssen sich auf neue Erwerbsbiografien einstellen

Verändern sich im Zuge der digitalen Transformation Berufsbilder oder werden gar vollständig verzichtbar, so sind insbesondere die öffentlichen Sozialsysteme und der Bildungssektor betroffen. Im Bildungssektor wird es künftig nicht nur darum gehen, Menschen auf einen Beruf vorzubereiten, sondern sie auch für einen völlig anderen weiterzubilden.

Überbrückungsgelder oder Quotenregelungen als politische Maßnahme?

Daraus ergeben sich Fragen: Wie sollen die Interimsphasen von Menschen zwischen zwei Berufen ausgestaltet werden? Durch Überbrückungsgelder oder Beratung? Oder mit Quotenregelungen zur Einstellung von Menschen aus Weiterbildungsmaßnahmen?

Welche Jobs wegfallen, bleibt ungewiss

Hinzu kommt, dass wir nicht genau wissen, welche Jobs durch die digitale Transformation verloren gehen werden. Es kann jeden treffen. Deswegen bietet auch die Diskussion über ein bedingungsloses Grundeinkommen gute Ansätze. Vielversprechender sei jedoch, über ein Recht auf Arbeit nachzudenken.

Die unsichtbare Hand des Marktes kann keine ordnungspolitische Maßnahme sein

Das von Neoliberalen vorgebrachte Argument, der Staat müsse sich in seinen marktpolitischen Maßnahmen neutral verhalten, greift nicht.

„Der Markt und auch die Tarifpartner operieren innerhalb eines durch staatliche Politik bereitgestellten Rahmens“ (S. 187), der Staat setzt Schranken. Diese Schranken müssen ethischen Ansprüchen standhalten: Dass der Job des Auftragsmörders verboten ist, ergibt sich aus keiner Marktlogik. Trotzdem darf er in Deutschland nicht praktiziert werden und viele dürften darüber recht froh sein. Das Argument, der Staat müsse sich dem Markt gegenüber neutral verhalten, ist deswegen nicht nur falsch, sondern die Neutralität ist gar nicht wünschenswert.

Die Arbeitswelt gestalten: die Demokratisierung von Arbeit (II)

Die digitale Transformation sollte auch mit der Demokratisierung von Arbeit einhergehen. Das würde einen Widerspruch auflösen. „Politisch sind wir alle Demokraten, in der Arbeitswelt akzeptieren wir die vermeintliche Notwendigkeit einer hierarchischen Ordnung“ (S. 144).

Während Unternehmen hierarchische Strukturen früher mit dem Argument der Effizienz begründet haben, sinken die Kosten für Deliberation und Teilhabe durch digitale Lösungen rapide. Weder Zeit noch Geld können als Argument für eine hierarchische Unternehmensstruktur geltend gemacht werden.

Hierarchien können demotivieren

Und es gibt weitere gute Gründe, solche Strukturen zurückzubauen. Hierarchien führen zum Verlust der Motivation, weil sie auf externe Kontrolle setzen und damit die intrinsische Motivation negieren. Das widerspricht dem im Menschen verankerten Willen, sich an der Gesellschaft zu beteiligen und seine Umwelt zu gestalten.

Politik und Wirtschaft als zwei Seiten derselben Medaille

Was auf politischer Ebene praktiziert wird, könnte Einzug in die Wirtschaftswelt halten: Eine repräsentative Demokratie, die auf dem Urnengang der Angestellten beruht, hätte sicherlich eine andere strategische Ausrichtung von Unternehmen zur Folge als die Kontrolle, die derzeit durch Aktionär_innen ausgeübt wird. Wie wäre es mit einem Zweikammernsystem bestehend aus Kapital- und Arbeitsseite?

Die Digitalisierung könnte der Hebel zur Demokratisierung von Arbeit sein.

Demokratische Teilhabe in Arbeitswelt und Politik

Und wer demokratische Teilhabe im Alltag, das heißt in seinem Berufsleben, einübt, der verändert auch sein Verhältnis zur demokratischen Verfasstheit der politischen Sphäre. Wenn wir Wirtschaft demokratisieren und solidarisieren, verändern wir auch die politische Atmosphäre im Land. Populismus könnte es schwerer haben.

Die Gleichheit der Individuen als Marktbedingung

Dass ein Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Solidarität besteht, zeigt sich auch in der Arbeitswelt. Die Gleichheit der Individuen kann als Voraussetzung für die moralischen Bedingungen des Tauschs verstanden werden, so beschrieb es schon der Soziologe Émile Durkheim. Ein Tausch ist in seinem Wert nie nur abhängig von den zu tauschenden Gütern, sondern von den externen Bedingungen der Austauschbeziehung. Tauschbeziehungen sind sozial voraussetzungsvoll. Märkte als institutionelle Voraussetzungen müssen also aktiv gestaltet werden.

Die Rettung der guten Arbeit

Ob die digitale Transformation gelingt, hängt davon ab, ob sich jene Modelle durchsetzen können, die der sozialen Natur des Menschen am ehesten entsprechen. Das bisher vorherrschende Modell des homo oeconomicus tut es nicht.

Dabei ist die digitale Transformation keine Naturgewalt, kein unabänderlicher evolutionärer Prozess und führt nicht zwangsläufig in eine Dystopie. Wenn die Weichen richtig gestellt werden, bietet sie die Chance zur Aufwertung jener Arbeit, die dem Homo sapiens angemessen ist.


buch|votum

Die digitale Transformation unter sozialen Vorzeichen gestalten – so könnte Lisa Herzogs Buch Die Rettung der Arbeit auch heißen. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass sie darüber hinausgeht. Die digitale Transformation kann als Auslöser verstanden werden, sich ganz grundlegenden Fragen zur bestehenden Wirtschaftsordnung zu stellen. Dabei würde klar: Diese Verhältnisse sind veränderbar! Politik darf und sollte aktiv eingreifen.

Wir sind so abhängig voneinander wie nie

Es geht nicht nur darum, einen normativen Rahmen zu setzen, sondern auch die Abhängigkeiten untereinander sichtbar zu machen. Arbeit war nie weniger individualistisch, als sie es heute ist. Die kapitalistische Erzählung behauptet das Gegenteil und die ökonomischen Modelle, die als theoretisches Fundament dienen, sind träge.

Dabei hilft das Buch, sich über die Verteilung von Einkommen und Macht unter den Bedingungen der digitalen Transformation Gedanken zu machen und die Verteilungsfrage neu zu stellen.

Verteilungsfrage neu beleuchten

Für progressive Akteure können die Fragen der Zukunft nur die großen Fragen sein. Es kann nicht mehr nur darum gehen, in mühsamer Kleinarbeit die Bedingungen für Arbeitnehmer_innen zu verbessern – es bedarf einer Vorstellung für die nahe Zukunft: einer Realutopie. Lisa Herzog malt ein vielschichtiges Bild, ohne an theoretischer Fundierung zu sparen. Es gelingt ihr ein Perspektivwechsel, den viele Wissenschaftler_innen ihrer Generation wagen: Yuval Harari, Maja Göpel oder Rutger Bregman sind nur einige, die in den vergangenen Jahren Aufmerksamkeit erzeugt haben.

Neue Ansätze für die politische Praxis

Lisa Herzog bietet dabei nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch praktische Handlungsvorschläge, die zum Weiterdenken anregen. Wer ihre früheren Publikationen und Essays gelesen hat, kennt sie als Kritikerin der reinen Marktlogik, der unsichtbaren Hand des Ökonomen Adam Smith. In diesem Buch aber belässt es die Autorin nicht bei der kritischen Betrachtung, sondern liefert auch praktische politische Ansätze. Eine ausführlichere Diskussion über alternative Modelle, wie Genossenschaften oder Kooperativen, wäre hier wünschenswert gewesen.

„Welche Aufgaben in unserem Netz geteilter Arbeit die Maschinen sinnvollerweise übernehmen sollen und was so grundlegend menschlich ist, dass sie dies nicht können und dürfen – darum werden sich entscheidende Kämpfe der Zukunft drehen“ (S. 70).

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Verlag: Carl Hanser Verlag
Erschienen: 18.02.2019
Seiten: 224
ISBN: 978-3-446-26206-5