Abteilung Analyse, Planung und Beratung

Gemeinsam Stabil: Braucht es eine dauerhafte EU-Fiskalkapazität?

Weitgehend unbemerkt hat der Wiederaufbaufonds Next Generation EU (NGEU) neue Türen für eine solidarische europäische Fiskalpolitik geöffnet. Für ein geeintes Europa und einen stabilen Euro braucht es allerdings noch mehr: eine dauerhafte europäische Fiskalkapazität.



„We did it. Europe is strong. Europe is united.“ Fast euphorisch wirkte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, als er am 20.7.2020 vor die Presse trat. Vor den seit vier Tagen wartenden Journalist_innen konnte Michel eine Einigung über das europäische Covid-Wiederaufbaupaket bekanntgeben. Neben dem mehrjährigen Haushaltsplan für 2021 bis 2027 wurde damit auch der befristete Aufbaufonds Next Generation EU in Höhe von über 800 Milliarden Euro verabschiedet. So wie das Geld aus dem regulären EU-Haushalt sollen auch die Mittel aus dem NGEU-Fonds zu großen Teilen in nachhaltige und zukunftsfähige Investitionen fließen. Die Mittel werden teilweise in Form von Transfers und teilweise in Form von Krediten an die EU-Mitgliedsländer ausgezahlt. Momentan lässt sich noch nicht beurteilen, wie zielgenau und effektiv das Aufbauinstrument wirkt. Erst ein Jahr später, in 2021, wurden die ersten nationalen Förderpläne von der EU-Kommission genehmigt.

In anderer Hinsicht hat der NGEU-Fonds jedoch schon längst neue Maßstäbe gesetzt. Denn im Gegensatz zum regulären EU-Haushalt finanziert sich NGEU nicht aus nationalen Beiträgen der EU-Mitgliedstaaten. Stattdessen werden erstmals gesamteuropäische Schulden an den internationalen Kapitalmärkten aufgenommen. Damit steht der EU nun eigenes Geld zur Verfügung. Noch während der europäischen Schuldenkrise, Anfang der 2010er Jahre, hatte Deutschland die Finanzierung von Rettungspaketen durch sogenannte Eurobonds strikt abgelehnt. Mittlerweile sind gemeinsame Schulden mit NGEU für die gesamte EU aber Realität geworden. Doch ist das genug, um für eine stabile Zukunft zu sorgen?


Stabilitätsprobleme in der Europäischen Währungsunion

Die Europäische Währungsunion hat seit ihrer Gründung in den 1990er Jahren fundamentale Probleme. Als sich die EU-Länder 1992 im Vertrag von Maastricht zur Etablierung einer gemeinsamen Währung entschlossen, legten sie die Geldpolitik in die Hände der Europäischen Zentralbank (EZB), einer neuen gemeinsamen und unabhängigen Zentralbank. Allerdings blieb die Fiskalpolitik, also die Steuer- und Ausgabenpolitik, weiterhin Sache der einzelnen Mitgliedstaaten. Mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt wurden lediglich Limits für die nationale Staatsverschuldung festgelegt. Dementsprechend steht der technokratischen Zentralbank keine politische Institution gegenüber, die mit einer gesamteuropäischen Fiskalpolitik regionale Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung ausgleichen und zielgerichtete Investitionen und Abgaben durchsetzen könnte.

Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, dass der Staat die Wirtschaft stimuliert, um dauerhafte Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft abzufedern. Um eine solche – antizyklische – Politik zu betreiben, brauchen Staaten finanziellen Spielraum. Dieser Spielraum steht jedoch nur in einigen Ländern Europas zur Verfügung – auch infolge der restriktiven Verschuldungsregelungen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts. So mussten mehrere Länder aufgrund der Fiskalregeln in den Jahren nach der globalen Finanzkrise enorme Haushaltskürzungen vornehmen. Diese Art von Sparpolitik hat den wirtschaftlichen Einbruch befeuert und das Problem enger finanzpolitischer Spielräume nur verstärkt – ganz zu schweigen von den negativen wirtschafts- und sozialpolitischen Auswirkungen wie einer steigenden Arbeitslosigkeit, sozialen Verwerfungen und der Begünstigung des Aufstiegs populistischer Parteien.


Ein dauerhaftes Instrument zur Stabilisierung und für mehr öffentliche Investitionen

Im Gegensatz dazu, die Mitgliedstaaten mit der Krisenbewältigung alleine zu lassen, ist der gemeinsame Wiederaufbaufonds NGEU ein Paradigmenwechsel und gerade daher ein so großer Schritt in Richtung einer gemeinsamen und dauerhaften, stabilisierenden Fiskalkapazität. Statt jede Wiederaufbaumaßnahme in langwierigen zwischenstaatlichen Verhandlungen zu beschließen, steht ein gemeinsames Budget zur Verfügung, welches den Coronaschock schneller und effizienter ausgleichen kann und bei den Unterstützungsleistungen auch die unterschiedliche regionale Schwere des Schocks berücksichtigt. Aktuell steht der Großteil dieses Budgets den EU-Mitgliedstaaten nach der Vorlage eines nationalen Investitionsplans und gegen besondere Auflagen zur Verfügung. Lediglich ein kleiner Teil des NGEU-Geldes wird direkt von der EU ausgegeben.

NGEU ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer gemeinsamen und solidarischen Anti-Krisenpolitik. Jedoch ist das Instrument eben auch nur auf die coronabedingte Krise und ihre Auswirkungen beschränkt. Die grundlegende Instabilität der Eurozone sowie mögliche zukünftige wirtschaftliche Schocks, ob durch Krieg, Klimawandel oder Pandemien, erfordern weitreichendere Mittel. Der NGEU könnte zum Vorbild für eine dauerhafte europäische Fiskalkapazität werden, mit welcher sich asymmetrische Schocks bekämpfen lassen. Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) ist eine bereits bestehende Institution, die über finanzielle Mittel zur Notfallstabilisierung der Eurozone verfügt. Allerdings vergibt der ESM nur in einer akuten Notlage an Konditionen gebundene Kredite und ist für die meisten Staaten aus politischen Gründen keine Option. Eine europäisch kontrollierte, dauerhafte Stabilitätskapazität könnte in zukünftigen Krisensituationen früher eingreifen und damit größere Krisen koordiniert und gesamteuropäisch verhindern. Dies würde die Resilienz des europäischen Wirtschaftsraums und damit auch das Vertrauen in die Währung stärken.

Ein solcher europäischer Topf für Stabilitätsausgaben muss nicht zwingend über Schulden finanziert werden. Weitere Vorschläge zur Finanzierung sind nationale Beiträge der EU-Mitgliedstaaten sowie national oder europäisch erhobene Steuern (eine Finanztransaktionssteuer beispielsweise), eine Ausweitung europäischer CO2-Bepreisung oder ein CO2-Grenzausgleich. Befürworter_innen einer dauerhaften EU-Fiskalkapazität sind sich einig, dass diese in Krisenfällen – im Gegensatz zum ESM – echte Transferleistungen statt Kredite vergeben müsste. Um dies zu gewährleisten, müssen die Mittel dauerhaft von einer zentralen Autorität verwaltet werden.

Eine solche gesamteuropäische Koordinierung von Finanzmitteln zur Stabilisierung der Nationalwirtschaften wäre ein entschiedener Schritt in Richtung Vollendung der Währungsunion. Außerdem könnte eine europäische Fiskalkapazität auch für wichtige Zukunftsinvestitionen in europäische öffentliche Güter, zum Beispiel im Bereich der Energiesicherheit oder Infrastruktur genutzt werden, wie es erst kürzlich Fabio Panetta, Mitglied im Direktorium der EZB, forderte.


Politische Hindernisse überwinden – eine dauerhafte Fiskalkapazität muss kommen

Eine dauerhafte europäische Fiskalkapazität ist ein klares politisches Signal für eine stärkere Integration und eine handlungsfähige EU. Alleine deswegen ist das Projekt umstritten. Darüber hinaus warnen einige Kommentator_innen sowie der Bundesrechnungshof davor, dass sich die Mitgliedstaaten zu sehr auf europäische Hilfe verlassen könnten und weniger umsichtig haushalten würden. Erinnert man sich an das Auftreten der Troika in Griechenland und die durch sie aufgezwungenen Sparmaßnahmen, scheint es jedoch unwahrscheinlich, dass Regierungen der Nationalstaaten sich allzu mutwillig in eine Situation bringen, auf europäische Hilfe angewiesen zu sein.

Ein gemeinsames Stabilisierungsinstrument muss noch weitere politische Hindernisse überwinden. So muss geklärt werden, wo ein solches Stabilisierungsinstrument angesiedelt werden sollte. Sollte seine Kontrolle ähnlich zum ESM politisch unabhängig gestaltet werden? Wenn ja, was wäre die demokratische Rechtfertigung dafür? Oder sollte die makroökonomische Stabilisierung von den EU-Institutionen kontrolliert werden? In welcher Form? Wie löst man die in der EU bestehenden Repräsentationsprobleme, die noch dadurch verschärft werden, dass einige EU-Staaten keine Euroländer sind? Die Antworten auf diese Fragen bestimmen die nächsten Schritte. Es müssten mindestens große Mehrheiten auf europäischer Ebene organisiert oder sogar EU-Vertragsänderungen angestoßen werden. Zumindest die letztere Option ist, trotz kürzlicher Andeutungen von Olaf Scholz, erst mal nicht in Sichtweite. Dennoch muss man sich mit diesen Fragen in den kommenden Monaten und Jahren auseinandersetzen.

Die Debatte um eine europäische Fiskalkapazität wird nicht in kurzer Zeit gelöst werden. Doch sie zeigt fundamentale Probleme des europäischen Wirtschaftsraums auf: Die Europäische Währungsunion in ihrer aktuellen Form – und auch die EU – kann ohne dauerhafte Fiskalkapazität weder auf Wirtschaftsschocks noch auf die Herausforderungen durch Klimawandel, Digitalisierung, Verteidigung oder auch Globalisierung angemessen und effektiv reagieren. Auch wenn wir uns mit Charles Michel über den Wiederaufbaufonds freuen können, geschafft ist es noch lange nicht.

 


Über die Autoren

Carl Mühlbach

Carl Mühlbach (Jahrgang 1996) hat einen Master in Public Economics an der Freien Universität Berlin absolviert. Zuvor studierte er Volkswirtschaftslehre im Bachelor in Heidelberg und Cambridge, war Stipendiat der FES und Mitglied im Landesvorstand der SPD Baden-Württemberg.

 

Jannis Schneider

Jannis Schneider (Jahrgang 1998) hat einen Bachelorabschluss in European Studies, studiert nun im Master Political Economy of Europe an der London School of Economics und ist Stipendiat der FES. Bis 2021 war er Vorstandsmitglied der Jungen Europäischen Föderalisten Niederlande.


Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive

Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe "Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive", die im Anschluss an den Tag der Progressiven Wirtschaftspolitik 2022 entstanden ist. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.


Ansprechpartnerin in der FES Iva Figenwald und Markus.Schreyer

 

 



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