Neue Arbeitsformen in der Lausitz

Kleine Kommunen wie Herzberg sehen in Digitalisierung und Homeoffice-Kultur eine Chance, den Strukturwandel voranzutreiben. Erfahrungen aus Brandenburg. 

Arbeit  |   4. September 2023  |  Feature von Paula Schweers    |   Lesezeit: 5 Minuten

Schon lange bevor er 2022 seine Bewerbung für das Projekt „Summer of Pioneers“ nach Herzberg schickte, hatte sich Sebastian Sooth mit den Umbrüchen in der Arbeitswelt beschäftigt. Nach Feierabend diskutierte er mit Gleichgesinnten darüber, wie Globalisierung und Digitalisierung unser Verständnis von Arbeit verändern, und unter welchen Bedingungen Coworking-Spaces für eine breite Masse funktionieren könnten. Der 45-Jährige lebt in Berlin und entwickelt in der Mobilitätsbranche Ideen für Medien- und Kulturprojekte. Die Corona-Pandemie habe für ihn „wie ein Katalysator“ gewirkt, um sich nach Konzepten umzuschauen, durch die digitales Arbeiten auf dem Land möglich gemacht wird, erklärt Sooth.

Etwa zur gleichen Zeit sah auch Karsten Eule-Prütz, parteiloser Bürgermeister von Herzberg (Elster), einer Kreisstadt im südlichen Brandenburg, in der coronabedingten beschleunigten Digitalisierung und der neuen Homeoffice-Kultur eine Chance für seine Kommune. Der 53-Jährige stellte fest, dass sich im Zuge der Krise immer mehr Menschen dazu entschieden, mit ihren Familien in ihre alte Heimat, die Lausitz, zurückzukehren und die beengten Großstädte zu verlassen. Zugleich steht die Region durch das anvisierte Ende der Braunkohleverstromung bis spätestens 2038 in den kommenden Jahrzehnten vor großen strukturellen Veränderungen.

Transformation gestalten

In der Lausitz, die sich von Südbrandenburg bis Ostsachsen erstreckt, sind laut aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit rund 8000 Menschen im Bergbau beschäftigt. Viele Unternehmen sind zudem auch als Zulieferer oder Dienstleister für die Braunkohleindustrie tätig. Neben einem wichtigen Wirtschaftszweig steht somit auch ein identitätsstiftender Fixpunkt der Region auf dem Prüfstand. Um diese Transformation zu gestalten, sollen umfangreiche Strukturhilfen in der Lausitz zur Ansiedlung von wissenschaftlichen Instituten sowie zum Ausbau von Bahnverbindungen, Straßennetz und digitaler Infrastruktur verwendet werden. Hinzu kommen Pläne in den Bereichen der nachhaltigen Energiewirtschaft, Gesundheit und Tourismus.

Attraktiv sein für Kreative

Vor diesem Hintergrund entschied sich Eule-Prütz gemeinsam mit der Organisation Neulandia, ein Projekt namens „Summer of Pioneers“ in Herzberg aufzubauen, um die Digitalisierung seiner Kommune voranzutreiben und junge Menschen für das Leben in der Region zu begeistern. Nach dem Vorbild der Brandenburger Stadt Wittenberge, in der 2019/2020 ein erster „Summer of Pioneers“ stattfand, suchten sie per Ausschreibung nach 20 Kreativen und Digitalarbeiter_innen, die das Landleben in Herzberg von Anfang Juni bis Ende November 2022 testen wollten. Geboten wurden vergünstigte möblierte Wohnungen mit Internet-Flatrate im historischen Stadtkern sowie der kostenlose Zugang zu einem Coworking Space im Bahnhofsgebäude. Im Gegenzug sollten die Zuziehenden sich für die Menschen vor Ort und für die Kommune engagieren. Kulturelle Veranstaltungen, Workshops mit Wissenstransfer oder Nachnutzungsideen für den Bahnhof, die sogenannte Zukunftsvilla und die Plattenbauten in den Randbezirken waren erwünscht, und sollten durch die Stadtverwaltung unterstützt werden.

Zentrale Rolle der Stadtverwaltung

Wie Forschende in dem Projekt „Sozialer Strukturwandel und responsive Politikberatung in der Lausitz“ vom IASS Potsdam herausarbeiten, sind engagierte Bürgermeister_innen kleiner und mittelgroßer Städte – wie Karsten Eule-Prütz – in der Lausitz zentrale Akteur_innen für die Weiterentwicklung der Region. Projekte wie der „Summer of Pioneers“ fügen sich zudem in eine gesellschaftliche Debatte ein, in der die Chancen für Kleinstädte und den ländlichen Raum durch neue, mobile Arbeitsformen schon seit Längerem diskutiert werden. Insbesondere im Osten Deutschlands verlieren die Regionen fernab der größeren Städte schließlich massiv an Einwohnern und leiden an einer Überalterung der Bevölkerung.

Impulse aus der Forschung, wie der Sammelband „Kleinstadtforschung – Interdisziplinäre Perspektiven“ (2022), zeigen, dass die Gegenstrategien einiger ländlicher Kleinstädte darin bestehen, die vermehrte Nutzung von Homeoffice zu ermöglichen und die Entstehung von Coworking-Spaces voranzutreiben. Hiermit gehe die Hoffnung einher, mehr Menschen aus den Großstädten anzuziehen, ihre Pendelwege zu reduzieren und virtuelle Mobilität möglich zu machen. Zudem versuchen sie neue Nutzungsformen für leerstehende Gebäude in den Städten und Dörfern zu finden, damit die Ortskerne zu beleben, und so für neue Einwohner_innen attraktiv werden zu lassen.

Geringe Personalressourcen in der Verwaltung

Auch in Herzberg war die gemeinsame Nutzung eines Coworking-Spaces von Anwohnenden und den zugezogenen Digitalarbeiter_innen ein fester Bestandteil des Konzepts. Hier sollte die gemeinsame Arbeit an Projekten ermöglicht und der Austausch zwischen beiden Gruppen gefördert werden. Der Coworking-Space habe bereits vor dem Programm in der Stadt existiert, erklärt Eule-Prütz. Allerdings lebe in Herzberg bisher nicht „die Szene, die solche Angebote auch nutzen würde“, so der Bürgermeister. Und auch die Zugezogenen wie Projektteilnehmer Sebastian Sooth empfanden das Angebot teils als „tollen Ansatz, der aber noch nicht ideal umgesetzt wurde“. Die Digitalisierung in Herzberg befände sich noch „in der Beta-Phase“. So seien Internetgeschwindigkeit und Verbindungsqualität in den zur Verfügung gestellten Wohnungen in der Innenstadt oftmals besser gewesen als in dem Coworking-Space im Bahnhofsgebäude. Dies habe dazu geführt, dass sich die Menschen eher in ihre Wohnungen zurückgezogen hätten, als gemeinsam im Coworking-Space zu arbeiten. Auch die Autorinnen des Sammelbandes, Julia Binder und Ariane Sept, bezeichnen geringe Personalressourcen der Verwaltung sowie eine nicht ausreichend flächendeckende digitale Infrastruktur (Breitband) als zentrale Hürden für Kleinstädte, die ihre Digitalisierung voranbringen wollen.

Bestehende Strukturen nutzen

Besonders erfolgreich hingegen seien gemeinsame Projekte von Anwohnenden und den Zugezogenen gewesen, die auf bereits bestehende Strukturen in Herzberg aufgebaut hätten, so Eule-Prütz. So gäbe es in Herzberg eine Musikszene, an die das Projekt „Platte Macchiato“ einer Pionierin anknüpfen konnte. So fänden in einem Plattenbau am Stadtrand nun regelmäßig Konzerte, Lesungen, aber auch politische Diskussionsabende statt, zu denen auch Bundestagsabgeordnete und Lokalpolitiker_innen eingeladen werden würden. „Platte Macchiato“ wird mittlerweile im Rahmen des Programms „Miteinander Reden“ durch die Bundeszentrale für politische Bildung gefördert sowie durch die Wohnungsbaugesellschaft Elsteraue und die Stadtverwaltung Herzberg unterstützt.

Kritik am Namen des Programms

Als problematisch hätten sich hingegen Projekte herausgestellt, durch die sich die Herzberger_innen nicht genug eingebunden gefühlt hätten. Insbesondere habe der Name des Programms „Summer of Pioneers“ vor dem Hintergrund der Bedeutung des Begriffs „Pionier“ in der früheren DDR – die „Pioniere“ waren die größte Kinder- und Jugendorganisation – für Unmut gesorgt. Zudem sei die Bezeichnung „Pioniere“ für die Zuzügler_innen teils als überheblich empfunden worden, und die Anwohnenden hätten sich nicht genug in ihren eigenen Leistungen wertgeschätzt gefühlt. Schließlich mussten die Menschen in der Lausitz schon nach dem Zusammenbruch der DDR 1989/90 einen immensen Strukturbruch verkraften. Damals wurden mehr als 90 Prozent der Arbeitsplätze in der Kohle gestrichen, zahlreiche Kraftwerke und Tagebaue geschlossen. Projektteilnehmer Sebastian Sooth sieht diesen erzwungenen Strukturwandel als einen im Hintergrund schwelenden Konflikt, der das Zusammenfinden von „zugezogenen Berlinern“ und „Alteingessenen“ während des Projektzeitraums erschwert habe. Auch Karsten Eule-Prütz empfindet den Kampagnennamen „Summer of Pioneers“ aus diesen Gründen im Rückblick als problematisch.

Gemeinschaftsgefühl stärken

Auch die Autorinnen Julia Binder und Ariane Sept betonen im Sammelband „Kleinstadtforschung – Interdisziplinäre Perspektiven“, dass der Zuschnitt des Programms „Summer of Pioneers“ auf großstädtische Milieus in ländlichen Kleinstädten sowohl Irritation und Abwehrhaltungen auslösen, als auch Neugier und Aufbruchsstimmung erzeugen kann. Sie kommen ebenfalls zu dem Ergebnis, dass nur ein starkes Gemeinschaftsgefühl zwischen Anwohnenden und Zugezogenen zu einem nachhaltigen Erfolg solcher Programme führen könne.

Neben den Stadtverwaltungen könnten auch Rückkehrende in die Region hierbei Impulse geben oder eine Vermittlungsfunktion zwischen beiden Gruppen einnehmen. Projektteilnehmer Sebastian Sooth schlägt deshalb für zukünftige Initiativen dieser Art vor, die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls ganz nach vorne zu stellen. Hierdurch könne auch die Eigenverantwortung der Teilnehmenden unterstützt werden, sowie ihre Identifikation mit ihrem neuen Wohnort gefördert werden.

Kommunen müssen klar kommunizieren

Von den zwanzig Menschen, die für die Initiative gekommen waren, sind acht Personen geblieben, die weiterhin an ihren Projekten vor Ort arbeiten und sie weiterentwickeln wollen. Die langfristigen Effekte des Programms würde man erst mit der Zeit abschätzen können, sagt Bürgermeister Karsten Eule-Prütz. Er sieht es als besonders wichtig an, die Vernetzung unter den mittlerweile sieben Kommunen in Deutschland und der Schweiz zu stärken, die Gastgeber für einen „Summer of Pioneers“ sind. Nur so sei es möglich, voneinander zu lernen und das große Potenzial des Programms voll auszunutzen. „So viel Kommunikation wie möglich, sowohl intern als auch extern“ würde er jeder Gemeinde raten, die selbst Lust hat, neue Menschen für das Leben im Ort zu gewinnen. Auch Sebastian Sooth merkt man im Gespräch noch immer die Aufbruchstimmung an, die ihn vor zwei Jahren dazu gebracht hat, sich für die Initiative zu bewerben. Er hat Herzberg zwar nach Ende des Programms verlassen und lebt nun wieder in Berlin, sieht jedoch weiterhin in dem Projekt und ähnlichen Initiativen „eine ganz große Chance, den Wandel unserer Arbeits- und Lebenswelt mit ganz viel Eigeninitiative gemeinsam zu gestalten“.

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