„Man muss erst einmal für die Akzeptanz von Ideen arbeiten“

Martin Cohn will die baden-württembergische Autostadt Leonberg klima- und sozialverträglich umgestalten. Er erklärt, warum die Kommune dabei auf massive Bürgerbeteiligung setzt.

Mitbestimmung  |  12. Februar 2024  |   Interview von Simone Schnase  |   Lesezeit: 5 Minuten

Herr Cohn, Sie sind 2017 Oberbürgermeister von Leonberg geworden, waren zuvor aber Bürgermeister des 50 Kilometer entfernten Rudersberg. Wie kam es zu diesem Ortswechsel?

Martin Cohn: In Rudersberg habe ich den „Shared Space“-Gedanken umgesetzt und einen klima- und sozialverträglichen Umbau des dortigen Verkehrs vorgenommen. Gemeinsam mit anderen Kommunen habe ich dann den Verband „Interkommunale Zusammenarbeit für stadtverträgliche Straßenmobilität“ gegründet und dort ist auch Leonberg Mitglied geworden. Man kannte mich dort also und nachdem der damalige Oberbürgermeister für eine weitere Amtszeit nicht mehr zur Wahl stand, fragte man mich aufgrund meiner Referenz, ob ich kandidieren und mich in Leonberg ebenfalls um das Thema Verkehr kümmern wolle. Ich habe das zum Wahlkampfthema gemacht und bin gewählt worden.

Dann ist das Thema Straßenverkehr in Leonberg offenbar ein sehr Drängendes?

Definitiv, denn wenn die A 8 und A 81 Stauprobleme haben, was oft der Fall ist, fahren alle die Abkürzung durch Leonberg. Leonberg trägt den Stempel „Autostadt“, denn sie ist in den 70er-Jahren verkehrsgerecht gebaut worden – und das bedeutete damals: autogerecht. Im Zentrum Leonbergs wird die zweispurige Straße, durch die man in die Stadt fährt, vierspurig. Von der Raumgestaltung her ist die Stadt für Autos ausgelegt. Dabei haben wir durch Verkehrsversuche nachgewiesen, dass die Vergrößerung des Verkehrsraumes auf vier Spuren keine Rolle spielt für das Verkehrsaufkommen oder die Stauproblematik. Es gäbe genau die gleiche Situation, wenn wir auf zwei Spuren zurückgingen – mit dem Unterschied, dass man dann eine ganz andere Raumgestaltung betreiben kann.

 

Martin Cohn ist seit 2017 Oberbürgermeister von Leonberg. Der Diplom-Verwaltungswirt war zuvor zehn Jahre lang Bürgermeister der Gemeinde Rudersberg, Mitglied des Kreistages des Rems-Murr-Kreises und dort Fraktionsvorsitzender der SPD. Cohn hält Vorträge und Seminare zum Thema Mobilität und Lebensqualität in den Kommunen. Im Jahr 2022 erschien im Molino-Verlag sein Buch „Vetternwirtschaft“.

Wie soll diese Raumgestaltung aussehen?

Wir brauchen Raum für Radfahrer und Fußgänger, aber auch für Bäume. Wir haben aufgrund der Asphaltierung eine starke Hitzebildung in den Städten und Bäume als Wasserspeicher tragen dazu bei, dass Wasser verdunstet. Dadurch und durch Schatten, den die Bäume spenden, wird das Klima in der Stadt zum Positiven verändert. Vor allem Seniorinnen und Senioren fordern auch, dass mehr Bänke aufgestellt werden, damit man sich öfter mal hinsetzen und ausruhen kann. Das geht natürlich Hand in Hand mit schattenspendenden Bäumen.

Leonberg hat ein Radverkehrskonzept aus dem Jahr 2013. Was wurde davon umgesetzt?

Es dient als Grundlage zur Weiterentwicklung und wir sind dabei, es weiterzuentwickeln. In unserer Planung für die „Stadt für morgen“ ist es eingeflossen und wir haben auch schon die ersten Fördermittelbewilligungen vom Land Baden-Württemberg erhalten.

In Bezug auf das Radverkehrskonzept ist auf der Homepage der Stadt zu lesen, dass es unter „erneuter Bürgerbeteiligung“ erstellt wurde. Bedeutet das, dass es in Leonberg schon eine längere Tradition der Bürgerbeteiligung gibt?

Die Art von Bürgerbeteiligung, wie wir sie jetzt machen, gab es in Leonberg bisher nicht. Denn wir haben einen Planungstisch und viele Perspektivwerkstätten zu Punkten wie Handel und Gewerbe, Wohnen, Klima und so weiter. Wir haben dafür verschiedenen Akteure gefragt, der Seniorenrat ist involviert, die Jugend über unseren Jugendausschuss genauso – von Jung bis Alt haben wir alle Menschen im Blick. Auch Menschen mit Handicap werden natürlich beteiligt. Wir erreichen die Menschen über Ausschreibungen, über Zeitungen und soziale Medien. Es gab auch den Vorschlag, einen Bürgerrat einzurichten. Die Idee halten wir grundsätzlich für gut, aber in diesem Fall wurde der Vorschlag mehrheitlich vom Gemeinderat abgelehnt, weil wir in der Bürgerbeteiligung bereits sehr weit waren und wir diejenigen, die sich bislang schon sehr aktiv an den Perspektivwerkstätten beteiligt hatten, nicht vor den Kopf stoßen wollten, indem wir auf einmal alles wieder auf null drehen und plötzlich einen Bürgerrat aufstellen, der ja aus zufällig ausgewählten Personen besteht.

Wie funktionieren die Perspektivwerkstätten konkret?

Bürgerinnen und Bürger erarbeiten gemeinsam mit Planern, Architekten und anderen Fachleuten aus einem „Wunschkonzert“ eine Vision, indem diese beispielsweise gezeichnet wird oder so visualisiert, dass man sich etwas Konkretes darunter vorstellen kann. Die Machbarkeit wird gemeinsam diskutiert und manchmal werden auf diesem Wege Wünsche und Ideen auch wieder verworfen.

Sie bieten den Bürger_innen sehr viel Raum – birgt das nicht auch die Gefahr, dass die Menschen Veränderung wollen, die Ihrer Idee von Stadtumbau gar nicht entsprechen?

Man muss natürlich erst einmal für die Akzeptanz von Ideen arbeiten. Das haben wir zum Beispiel gemacht, indem wir mit einem siebenmonatigen Verkehrsversuch nachweisen konnten, dass Autofahrer durch den Umbau keinen Nachteil haben. Anfangs war der Versuch sehr umstritten, weil er auch ein bisschen Stückwerk war, aber auch, weil der Mensch ein Gewohnheitstier ist und jeder Veränderung skeptisch gegenübersteht. Als der Versuch wieder abgebaut wurde, fanden das dann aber auch viele nicht gut, weil sie sich – der Mensch ist ein Gewohnheitstier! – daran gewöhnt hatten. Am wichtigsten war aber, dass wir mit dem Versuch die Sorgen, Vorbehalte und Zweifel der Bürgerinnen und Bürger ausräumen konnten. Die Menschen glauben oft nicht an Dinge, die sie sich nicht vorstellen können, aber sobald sie etwas Konkretes sehen und erleben, nimmt das Ganze plötzlich Gestalt an.

Gibt es denn bereits Ergebnisse der Bürgerbeteiligung, die konkret in die Umsetzung gehen?

Ja, zum Beispiel die Neugestaltung des Neuköllner Platzes, der kein Platz ist, sondern einfach nur eine große Kreuzung, die komplett asphaltiert ist und ganz schrecklich aussieht: Da war der Wunsch von Handel und Gewerbe, ihn autofrei zu machen. Das ist noch eine Vision und wird sicherlich in den nächsten Jahren nicht realisierbar sein, aber man kann ihn bereits jetzt so gestalten, dass er perspektiv autofrei werden kann – also dann, wenn zum Beispiel die EU sagt: Wir wollen keine Autos mehr in den Innenstädten. Dafür kann man jetzt schon dezentrale Parkmöglichkeiten schaffen und den Platz so umgestalten, dass er autofrei funktioniert und dann nicht noch einmal neugestaltet werden muss. Das tun wir und planen gerade die einzelnen Bauabschnitte.

Welche Rolle spielt der ÖPNV in Leonberg?

Er ist ausbaufähig. Das Problem hier ist, dass viele Entscheidungsträger sagen, wir haben einen desolaten ÖPNV, der den Bedarf gar nicht auffangen kann. Aber da reden wir vom Problem mit der Henne und dem Ei. Denn zurzeit ist es so, dass wir mit dem ÖPNV nicht wirtschaftlich unterwegs sein können, weil dem Auto noch eine zu große Plattform geboten wird. Aber durch die Umgestaltung der Stadt, in der man dann viele Wege zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegen kann, werden die Menschen auch sehen, dass sie Wege mit dem ÖPNV machen können. Dann steigt die Nachfrage und der ÖPNV wird wirtschaftlich. 

Also kommt erst der Stadtumbau und dann das Thema Nahverkehr?

Genau. Der ÖPNV wird unbedingt gebraucht, aber letztlich müssen wir ja erst einmal mit irgendetwas anfangen und das kann nicht der ÖPNV sein, denn dann wird gesagt: Der wird ja gar nicht genutzt. Und dann werden Linien wieder eingespart. Das ist nicht vernünftig. Ich bin dafür, erst einmal die Nachfrage zu schaffen beziehungsweise zu steigern. Der ÖPNV wird also durch den Stadtumbau gefördert.

Was können Sie Kommunen empfehlen, die darüber nachdenken, ihre Bürger_innen künftig ebenfalls stärker an Planungen zu beteiligen?

Man muss sich mit Veränderungen anfreunden können, mit Widerspruch und Widerständen umgehen können und auch mal ein bisschen kritischer unterwegs sein. Ich weiß, dass das schwierig ist, denn damit setzt man sich natürlich auch Diskussionen aus, die man manchmal nicht haben möchte. Ich finde aber, man sollte die Menschen ansprechen und Dinge bei ihnen zur Diskussion stellen. Damit erfahre ich, wie eine Stadt tickt und damit nehme ich die Menschen mit. Das Wollen und der Mut dafür müssen vorhanden sein, und damit kommt die Bürgerbeteiligung dann automatisch.

Ist es für Sie als jemand, der von außen nach Leonberg gekommen ist, einfacher, Veränderungen zu planen und umzusetzen?

Von außen zu kommen, macht es sicher ein bisschen einfacher, weil man mit den Strukturen nicht verbunden ist. Man braucht keine Ängste haben, man ist niemandem etwas schuldig. Man versucht Dinge und stellt dann fest, dass man auf Widerstände stößt. Ein „Interner“ weiß das bereits und verhält sich entsprechend ruhiger, so dass weniger schnell etwas passiert. Ich habe festgestellt: Wenn man ein Ziel hat und für die Gesellschaft so etwas wie die klimagerechte Stadt bewegen möchte, werden Veränderungsprozesse in der nötigen Geschwindigkeit eigentlich gar nicht wahrgenommen. Immer wird alles noch einmal hinterfragt, weil schlicht der Mut für Veränderungen fehlt. Der Außenstehende hat es da leichter, weil er natürlich auch das Votum des Wählers im Rücken hat.

Die logische Schlussfolgerung daraus wäre doch dann, dass Sie nach Ablauf Ihrer Amtszeit erneut in einer anderen Kommune kandidieren, die dann genauso wie Leonberg von den Vorteilen des „Externen“ profitieren kann, oder?

Neulich hat jemand zu mir gesagt: „Eigentlich müsste man Sie ja klonen“. Das war ein sehr schönes Kompliment, aber: Wenn in zwei Jahren die Wiederwahl ansteht, bin ich 59 und so eine Wahlperiode dauert ja acht Jahre. Und je größer eine Kommune ist, desto schwieriger ist dieser Prozess und desto länger dauert er. Rudersberg wurde straßenbaulich in acht Jahren umgestaltet. Das ist jetzt anders, denn aufgrund der Größe von Leonberg spielen auch eine ungleich große Zahl von Eigeninteressen eine Rolle – das dauert länger. Ich sehe aber, dass viele Kommunen ein Potential haben, und ich sehe es auch an der Resonanz, wenn ich einen Vortrag halte, dass alle begeistert sind und sagen: Ja, das ist der richtige Weg.

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