Referat Lateinamerika und Karibik

Organisierte Kriminalität versus Staat in Lateinamerika: Wie verändert die Pandemie die Spielregeln?

Die Pandemie stellt international und auch in Lateinamerika eine beispiellose Ausnahmesituation dar und verursacht viele strukturelle Veränderungen. Aber: Setzt sich die historisch gewachsene Tendenz fort, werden die stärksten kriminellen Banden und Kartelle überleben und ihr Geschäft sogar noch ausweiten.

Bild: Eine Opertation der Militärpolizei in der Comunidade Maré in Rio de Janeiro mit einem Fund von Drogen und Waffen. von © fotospublicas.com

Angesichts der Präsenz und des Einflusses des organisierten Verbrechens in Lateinamerika fragten wir bei dem brasilianischen Experten in Sicherheits- und Drogenpolitik, Thiago Rodrigues nach, wie er die Dynamik der organisierten Kriminalität vor dem Hintergrund der Pandemie im Fall Brasiliens beurteilt. Dies sind seine Antworten:

Wie wirkt sich die Pandemie auf die organisierte Kriminalität in Lateinamerika und Brasilien aus und welche ihrer illegalen Absatzmärkte sind am stärksten betroffen?

Die organisierte Kriminalität zeichnet sich durch eine hohe Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit aus. Wenn es zu strukturellen Veränderungen kommt, zerstören oder übernehmen die am besten vorbereiteten Banden die schwächeren und nutzen deren Verbindungen in Gesellschaft, Politik und Finanzen aus, um in öffentliche Institutionen und die legale Wirtschaft vorzudringen. Die Pandemie stellt international eine Ausnahmesituation dar, die für strukturelle Veränderungen sorgt. Setzen sich die bisherigen Tendenzen fort, werden die stärksten Banden und Kartelle überleben und ihr Geschäft sogar noch ausbauen. In ihren gewohnten Geschäftsfeldern, die etwa von verbotenen Pflanzen oder Gütern abhängen, mussten sie sich aufgrund von Logistikproblemen anpassen. Dies gilt insbesondere mit Blick auf den zurückgegangenen Verkehr in der Luft, zu Wasser und an Land, den sie für die Beförderung ihrer verbotenen Waren nutzen. Allerdings verfügen sie für den Transport der allermeisten illegalen Güter über eigene Mittel. Dazu zählen unter anderem Tunnel, U-Boote, Kleinflugzeuge, Verstecke in Fahrzeugen und Kuriere. Deshalb ist nicht davon auszugehen, dass der Schwarzmarkt von den pandemiebedingten Einschränkungen dauerhaft in Mitleidenschaft gezogen wird. Stattdessen werden sowohl für den Groß- als auch für den Einzelhandel zunehmend Internet und Deep Web genutzt. Auch die Lieferung von Drogen und anderen verbotenen Waren direkt an die Haustür nimmt zu.

Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund der Pandemie die Rolle krimineller Gruppierungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen in Brasilien? Von welchen gesellschaftlichen Folgen gehen Sie mittelfristig im Hinblick auf die Sicherheit aus, und was bedeutet das für die Rolle des Staates?

In Brasilien lassen sich drei verschiedene, aber parallel existierende Spielarten des organisierten Verbrechens beobachten. So operieren zum einen kriminelle Banden (wie Comando Vermelho oder Tercer Comando Puro) in Städten wie Rio de Janeiro traditionell im Drogenhandel und kontrollieren Favelas und Armutsviertel. Daneben sind die neuesten Milizen zu nennen, die von aktiven oder ehemaligen Angehörigen der Sicherheitskräfte gebildet wurden und mafiöse Strukturen aufweisen.

Gegründet wurden sie ursprünglich zur Selbstverteidigung gegen den Drogenhandel (»autodefensa«), verwandelten sich aber schon bald in Erpresserbanden, die die Bevölkerung unterdrücken und am Verkauf illegaler Dienstleistungen mitverdienen. In der Pandemie setzen die Drogenkommandos, die historisch stark in ihrem unmittelbaren Umfeld verwurzelt sind, nun die Empfehlungen der WHO durch: Abstand halten, Masken tragen und Feierverbote. Währenddessen führt die Regierung von Jair Bolsonaro, dessen Familie und Umfeld Kontakte zu den Milizen in Rio de Janeiro unterhält, einen Diskurs fort, der sämtliche wissenschaftliche Erkenntnisse verleugnet (»negacionismo«)und drängt darauf, Geschäfte, Kirchen und Einkaufszentren wieder zu öffnen. Die Milizen folgen dieser Aufforderung und wenden in ihren Einflussgebieten Gewalt an, damit dort die Geschäfte weiterhin geöffnet bleiben. Als drittes Beispiel ist São Paulo zu nennen, wo die Gruppe Primer Comando da Capital (PCC) als einzige die Armenviertel unter ihrer Kontrolle hat und dabei viel organisierter und effizienter als die Banden und Milizen aus Rio de Janeiro vorgeht. Das PCC setzt unter Gewaltandrohung die Verbote und Abstandsvorschriften durch.

In den betroffenen Gebieten ist der Staat schon seit Jahrzehnten nicht mehr präsent. Daran wird auch die Pandemie nichts ändern. Wie die lokale Bevölkerung reagiert, lässt sich kaum vorhersagen. Denn die ärmsten Bevölkerungsschichten und insbesondere die Anhänger_innen von neuen pfingstkirchlichen Bewegungen unterstützen die moralisch aufgeladene Politik Bolsonaros weiterhin stark.

3. Ist es denkbar, dass die Gewalt, die vom organisierten Verbrechen ausgeht, nun etwas zurückgeht? Und falls ja: Entsteht dadurch Spielraum für politische Maßnahmen, die stärker auf die Bekämpfung der Gewalt als auf die Bekämpfung der illegalen Absatzmärkte abzielen?

Das Ausmaß der Gewalt, die von den organisierten Banden ausgeht, hängt von einem komplexen Gefüge unterschiedlicher Faktoren ab. Doch die Illegalität spielt dabei eine zentrale Rolle. Bei begehrten, aber verbotenen Produkten und Dienstleistungen konkurrieren die Banden um die Kontrolle des Marktes. Je weniger sie organisiert und mit staatlichen Institutionen verbunden sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu gewalttätigen Konflikten um die Kontrolle über städtische und ländliche Gebiete kommt. Die Gewalt dauert so lange an, wie es kein Monopol, oder zumindest ein ausgeglichenes Kräfteverhältnis, zwischen den Gruppen gibt, wobei ich die staatlichen Sicherheitskräfte ausdrücklich einschließe.

In Brasilien haben sich die Verhältnisse, wie sie seit gut 15 Jahren bestehen, durch die Pandemie nicht verändert. In São Paulo verteidigt das PCC weiterhin seine Vormachtstellung und in Rio de Janeiro greift die Polizei in den Favelas noch immer hart durch. Gleichzeitig hält sich in den Favelas ein fragiles Gleichgewicht der Kräfte zwischen den verschiedenen Gruppierungen aus dem Drogenhandel, die sich regelmäßig den Angriffen der Militärpolizei widersetzen. Im aktuellen politischen und sozialen Kontext Brasiliens, mit einer militarisierten Regierung, die auch dem Verdacht der Mitwirkung am organisierten Verbrechen unterliegt, ist keine Abkehr von der repressiven Politik oder gar der Militarisierung der öffentlichen Sicherheit zu erwarten.

4. Wie sollte der Sicherheits- und Justizapparat in Lateinamerika und Brasilien vor dem Hintergrund der Pandemie auf die organisierte Kriminalität reagieren?

In Lateinamerika sind diese Institutionen gar nicht darauf eingestellt, das organisierte Verbrechen zu besiegen, sondern es höchstens so zu bekämpfen, dass es auf ein tolerierbares Niveau reduziert wird. Dabei geht es vor allem um die sichtbare Gewalt, die die Mittel- und Oberschichten betrifft. Die repressive Drogenpolitik, die zunehmende Militarisierung der öffentlichen Sicherheit, die stockende Debatte über eine Reform der Drogenpolitik, der Vormarsch antidemokratischer Kräfte in Schlüsselländern wie Brasilien, Mexiko, Kolumbien und Venezuela und die Fortführung eines rassistischen, dem Klassendenken unterworfenen Justizapparats geben Anlass zu der Vermutung, dass sich die Pandemie nicht wesentlich auf Sicherheitspolitik und Justiz auswirken wird. Die immer kleiner werdenden Räume für einen Dialog und die politische und ideologische Polarisierung deuten vielmehr darauf hin, dass das organisierte Verbrechen auch weiterhin ungestört seinen Geschäften nachgehen kann.

Das liegt auch daran, dass ein wesentlicher Teil der lateinamerikanischen Linken davor zurückschreckt, etwa das Strafrecht zu reformieren, die Massenverhaftungen zu beenden oder Drogen zu legalisieren. Die Regierungen der sogenannten »pink tide« oder »rosaroten Welle« (Lula da Silva, Rousseff, die Kirchners, Morales und Chávez) verfolgten eine repressive Sicherheitspolitik und unterschieden sich darin kaum von konservativen rechten Regierungen. Dazu kommt, dass die extreme Rechte sich die gegenwärtige Agenda der öffentlichen Sicherheit angeeignet hat. Die Linke wirkt angesichts dessen orientierungslos und scheint ihrerseits nicht in der Lage zu sein, der Öffentlichkeit einen klaren Aktionsplan vorzulegen.

Thiago Rodrigues, promoviert in Internationalen Beziehungen, ist Dozent am Institut für strategische Studien (INEST) der Universidade Federal Fluminense in Rio de Janeiro. Er koordiniert u. a. die Forschungsgruppe »Segurança e Defesa nas Américas« (Sicherheit und Verteidigung in den Amerikas) und ist Mitherausgeber der Bücher Drogas, política y sociedad en América Latina y el Caribe (CIDE, 2015), Drug Policies and the Politics of Drugs in the Americas (Springer, 2016) und Ecopolítica (Hedra, 2019).

*Der Text ist eine Übersetzung aus dem Spanischen, publiziert vom FES-Auslandsbüro für Regionale Sicherheit in Bogotá, Juni 2020.

In der deutschen Fassung verwenden wir eine geschlechtersensible Sprache.


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