Der vorliegende Text von Dr. Uwe Meier basiert auf einem Vortrag, der auf der 17. Agrarpolitischen Tagung im Januar 2020 in Güstrow gehalten wurde.
Nahrungsmittel an jedem Ort, zu jeder Zeit, in hoher Qualität und zudem noch billig – in unserer Wohlstandgesellschaft ist das für viele Menschen selbstverständlich. Das ist es aber nicht!
Das ist es deshalb nicht, weil die Existenz des Menschen von Bedingungen abhängig ist. Sie ist abhängig von der lebenden Mitwelt! Von den Tieren, den Pflanzen und den Mikroorganismen. Der Mensch steht im Beziehungsgeflecht des Lebens. Eines Lebens, das er selbst nicht geben kann.
Das Lebendige ist abhängig von Lebensbedingungen, die wir jedoch durchaus beeinflussen können. Und das tun wir auch, und zwar so massiv und zum Teil destruktiv, dass die Widersprüche überdeutlich werden. Besonders trifft das in der Landwirtschaft zu. Bleibt die Tatsache unberücksichtigt, dass ihre existenzielle Grundlage das Lebendige ist, wird die Zukunftsfähigkeit des Menschen in Frage gestellt.
Unsere Zukunftsfähigkeit hängt von drei Faktoren ab: Von unserem Umgang mit knappen Ressourcen, der Verteilung der Güter und vom Umgang mit unseren Lebensgrundlagen wie Klima, Biodiversität und Bodenfruchtbarkeit. Hierin besteht weitgehender Konsens. Wir müssen im nachhaltigen Umgang mit dem Lebendigen einen neuen Weg im Denken und im praktischen Handeln beschreiten. Doch ist es überhaupt möglich unter den derzeitigen neoliberalen Marktbedingungen diese drei Zukunftsfaktoren nachhaltig auf unserem Globus zu etablieren? Dieser Frage soll in diesem Vortrag auf der Grundlage einer Agrarethik nachgegangen werden.
Vom Umgang mit Lebewesen
Der Theologe und Biologe Günter Altner geht über den Begriff der „Nachhaltigkeit“ hinaus. Er schreibt, dass es in der Agrarwirtschaft um die Ehrfurcht vor der Schöpfung geht. Diese Ehrfurcht vor der Schöpfung wird in der „kulturellen Erneuerung nicht nur im Geiste, sondern gerade auch im praktischen Umgang mit der Natur“ dargestellt. Altner weist daher einer Agrarethik einen ganzheitlichen Anspruch zu, denn das Konzept der Agrarethik geht weit über die Prinzipien der Nachhaltigkeit hinaus. (Altner, Günter, 2012, 35-42: Landwirtschaft zwischen Eigennutz und Ehrfurcht. In: Uwe Meier (Hrsg). Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, 2012, S. 347)
Einen ganzheitlichen Anspruch hat auch die Philosophin und Biologin Nicole Karafyllis. Sie lehnt eine reduzierte Betrachtung der Tiere und auch der Pflanzen nur auf deren Leistungsfähigkeit und damit wirtschaftliche Verwertbarkeit hin ab. Sie sieht bei der Nutzung durch den Menschen eine Grundbedingung nicht erfüllt, indem sie den Respekt vor dem Lebewesen nicht ausreichend gewürdigt sieht. Dabei geht sie auch der Frage nach, welche Beziehung der Mensch in seinem eigenen Inneren zu Lebewesen hat und wie der Mensch sich selbst versteht im Kontext zu Natur und Technik. (Karafyllis, Nicole, 2012: Nachwachsende Rohstoffe als Modellfall der Agrarethik 43-66. In: Uwe Meier (Hrsg). Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, 2012, S. 347)
Der Mensch muss anderes Leben (Pflanzen, Tiere, Mikroorganismen) töten, um sich selbst zu erhalten. Auf diese Unvermeidbarkeit und wie mit dieser „Schuld“ umgegangen werden sollte, geht der Philosoph Harald Lemke ein. Er ist sich einig mit Altner und Karafyllis, die Respekt vor dem Lebewesen (Schöpfung bei Altner) einfordern, wobei den Technik- und Naturwissenschaften nicht allein die Vision der Nachhaltigkeit überlassen werden sollte (Karafyllis). (Lemke, Harald, 2012: Die philosophischen Anfangsgründe der Agrarethik, 19-34. In: Uwe Meier (Hrsg). Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, 2012, S. 347)
Hinweis zum Umgang mit Tieren: Wir wissen doch und fühlen es auch, dass es falsch ist und jeglicher Würde entbehrt als Geschäftsprinzip Millionen Küken zu schreddern, Qualzuchten zu befördern, Tiere auf engstem Raum zu halten und Ferkel ohne Betäubung zu kastrieren - also Tiere zu quälen. Es gibt viele weitere Beispiele bei der auch die Würde des Menschen als Täter und Konsument verletzt wird, wenn er Produkte kauft, die unter tierquälerischen Verhältnissen hergestellt wurden. Unbeachtet bleibt oft zudem der Boden, der lebendig und fruchtbar ist. Er wird für Bauwerke zerstört. Das heißt, dieses lebendige Stück Natur, das der Ernährung und dem Klimaschutz dient, ist für immer vernichtet. Wie lässt sich dieser Umgang mit der Kreatur, also das Quälen und Töten, rechtfertigen? Normalerweise werden betriebswirtschaftliche Argumente angeführt. Diese sogenannten Argumente sind jedoch Rechtfertigungen und Begründungen für den Umgang mit Lebewesen. Diese befreien uns nicht von der Schuld des Tötens, und schon gar nicht vor der Schuld des Quälens von Tieren. Der Markt berücksichtigt bekanntlich moralische Defizite nicht in der Produktion. Quälen ist nicht marktkompatibel!
Ökonomische Begründungen enthalten keine Kategorien, die der Überlebensfähigkeit des Menschen dienen. Wo bleibt die Würde – auch die des Menschen? Was offenbart der Mensch für eine Geisteshaltung, Würde- und Empathielosigkeit? Aus dieser Geisteshaltung heraus entstehen auch all die anderen Widersprüchlichkeiten in der Agrarwirtschaft bis hin zum Klimawandel und Biodiversitätsverlust.
Die ökonomische Realität
Die realwirtschaftliche Seite besteht aus einer schon fast religiösen Überhöhung menschengemachter ökonomischer Realitäten, die naturgegeben sind. Das sind sie selbstverständlich nicht; sie sind menschengemacht! Darum konnte der Ökonom Binswanger (Universität St. Gallen) sagen: „Unsere Generation hat die Chance, durch die politische Aktion die soziale Wirklichkeit mit den ökologischen Voraussetzungen auf dem Raumschiff Erde in Einklang zu bringen.“ Dieser Schlüsselsatz ist vor über 40 Jahren im NAWU- Report formuliert worden (H. C. Binswanger, W. Geissberger & T. Ginsburg (Hrsg.) 1978: Wege aus der Wohlstandsfalle – Strategien gegen Arbeitslosigkeit und Umweltkrise.
Die Wirtschaftsethiker und Ökonomen Peter Ulrich und Thorsten Busch von der Universität St. Gallen/Schweiz sehen unter den gegenwärtigen Bedingungen keine naturverträgliche Wirtschaftsentwicklung kommen, solange diese nicht in einen übergeordneten gesellschaftlichen Kontext eingebettet wird. Und dies zu leisten ist eine kulturelle und politische Gestaltungsaufgabe. Sie weisen auf die Widersprüche hin und hinterfragen kritisch das „Zauberwort der Nachhaltigen Entwicklung“ unter den derzeitigen marktradikalen Bedingungen mit seiner sachzwanghaften Wachstumslogik. (Ulrich, Peter und Busch Thorsten, 2012: Nachhaltige Entwicklung kritisch hinterfragt. Drei Orte der Verantwortung einer integrativ verstandenen Agrarethik, 85-98. In: Uwe Meier (Hrsg). Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, 2012, S. 347)
Ethische Werte und entsprechende Leitbilder zur nachhaltigen ökologischen und sozialen Entwicklung der Menschen sind eher unpassend für den Alltag der derzeitigen wirtschaftlichen Realität. Der globale Konkurrenzkampf im derzeitig herrschenden neoliberalen Ökonomismus ist angeblich ohne Alternative. Es gibt in der Agrarwirtschaft keinen Raum für das gemeinsame Nachdenken auf der Grundlage ethischer Fragestellungen, Begründungen und moralischer Werte.
Dabei bedürfte es einer systematischen Reflexion. Einer Reflexion der weltanschaulichen, moralischen, ökologischen, sozialen und ökonomischen Grundlagen der Agrarpolitik, der Agrarforschung, der Praxis und der alternativen Optionen. Die Wahrhaftigkeit und die Legitimation des Handelns gilt es belastbar zu überprüfen – auch auf wissenschaftlicher Grundlage. Dafür bedarf es entsprechender agrarethischer Institutionen, die zu schaffen sind. Agrarethik ist bis heute kein Forschungsthema.
Der Marktwert
Was für einen Wert hat ein Wasserfloh oder ein Feldhamster, das Blaukehlchen oder die Schönheit einer Landschaft? Und was für einen Wert hat die Leistung eines Landwirtes?
Bei der Suche nach der Antwort stellt sich zunächst die Frage, ob es überhaupt einer Leistung bedarf, um den „Wert“ eines Lebewesens, einschließlich des Menschen, zu bestimmen. Begründet das SEIN des Lebewesens nicht schon hinreichend den zu erbietenden wertgebenden Respekt? Und wie kann dieser Respekt zum Ausdruck gebracht werden?
Der Arzt sorgt in einem geringeren Maße für unser Überleben als der Bauer, der uns täglich ernährt. Warum liegt der Leistung des Bauern keine Gebührenordnung zugrunde – also menschenwürdige Preise? Warum hat er nicht mindestens dasselbe Sozialprestige wie ein Arzt?
Dazu gehört auch die Frage: Was ist uns die Leistung der Menschen wert, die für unser Leben sorgen? Was ist uns der Bauer wert, der uns am Leben erhält und für eine Kulturlandschaft sorgt. Wenn schon die Menge des Geldes ein Maßstab für Leistungsfähigkeit und Sozialprestige in unserer Gesellschaft ist, dann muss die Frage erlaubt sein: Ist die Leistung des Börsenexperten, der viel Geld bekommt, mehr wert als die des Bauern, der in der Regel wenig Geld für seine Leistung am Markt bekommt, weil die Produktpreise zu niedrig sind?
Wollen wir, dass die außergewöhnlichen Leistungen der Bauern von anonymen Märkten bewertet werden? Eignen sich Lebewesen überhaupt zur Bewertung durch globale neoliberale Märkte? Der Markt hat doch keine Kategorien und Bewertungsmaßstäbe für die Einzigartigkeit von "Leben", für Respekt vor dem Leben und der bäuerlichen Leistung, für Würde, Solidarität und Empathie.
Ist diese Absurdität der Leistungsbewertung in der Landwirtschaft nicht auch der Ideologie des permanenten Wachstums geschuldet? Eine Ideologie, die nahezu unangreifbar zu sein scheint. Obwohl schon das schlichte menschliche Wissen und allemal die bäuerliche Erfahrung ergibt, das unbegrenztes Wachstum auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen nicht möglich ist.
Gleichwohl soll hier keineswegs pauschal das Wirtschaftswachstum kritisiert werden. Vielmehr geht es um ein nach lebenspraktischen, gesellschaftlichen und ökologischen Kriterien sinnvolles und legitimes Wachstum. Es kommt darauf an, die soziale und ökologische Konflikthaftigkeit von Wirtschaftswachstum als solche ursächlich in den Blick zu nehmen. Bisher versucht die Agrarpolitik immer wieder zu reagieren, statt zu agieren. Sie repariert ständig, wenn sich negative Wachstumsauswirkungen einstellen. Der wirtschaftlich Handelnde, der Landwirt, beklagt sich zurecht über ständig sich ändernde normative Regelungen. Diese permanenten Änderungen sind politischen Entscheidungen geschuldet, die insbesondere auf mangelnder agrarethischer Grundlage getroffen wurden.
Auf der derzeitigen marktliberalen Grundlage wird eine zukunftsorientierte nachhaltige Produktion nicht möglich sein. Die Agrarpolitik und die Agrarwirtschaft haben es bisher nicht geschafft, kontroverse Themen einem gesellschaftlichen Konsens zuzuführen und offen mit den Anspruchsgruppen zu kommunizieren. Es scheint an der Wahrhaftigkeit in der Auseinandersetzung,einer Agrarethik zu fehlen. Denn die angewandte Philosophie, die Ethik, verlangt konsequent nach einer nicht hintergehbaren Begründung.
Ethik befasst sich mit der Moral. Sie fragt nach der belastbaren Begründung, warum etwas moralisch oder unmoralisch ist. Damit lädt sie zur Reflexion und zum Diskurs ein. In allen Konfliktbereichen zeigt es sich, dass es zur Konfliktlösung zunächst einer begründungsstarken und wahrhaftigen Rechtfertigung der real existierenden Landbewirtschaftung bedarf. Der Ruf nach einem lösungsorientierten agrarethischen Diskurs ist daher überfällig. In der Agrarwirtschaft können agrarethisch orientierte Fragestellungen helfen, die Belastbarkeit von Begründungen zu überprüfen. Stimmen zum Beispiel die Handlungen von Akteuren mit einem Leitbild überein, sind die Handlungen lebensdienlich, gehen sie konform oder stehen sie im Widerspruch mit unserem kulturellen Ordnungswissen?
Kooperation und kulturelles Ordnungswissen
Im Grunde weiß der Mensch bereits, dass der dunkle egoistische Trieb nach Geld, Macht und Status nicht zum Besten ist für die Gesellschaft, die Natur und die lebendige Mitwelt. Anstatt aber zu versuchen uns Menschen zu ändern, die sich nur schwerlich ändern lassen, sollten wir vorrangig die Regeln ändern, nach denen wir Menschen miteinander und im Austausch mit unserer Mitwelt leben.
So wäre es wünschenswert, wenn sich langsam die Werte hin zu Großzügigkeit, Respekt, Wohlwollen, Anerkennung und gegenseitiger Wertschätzung ändern würden im Sinne eines übergeordneten größeren Ganzen, einer Art Welt-Ethos. Gegenüber der wünschenswerten Konkurrenz und dem Wettbewerb ist dabei die Kooperation ein entscheidender Faktor im Wertekanon des enkeltauglichen Handelns.
Kooperation ist ein Schlüssel zum enkeltauglichen Handeln. Wird mein Partner des Lebens, der Landwirt, durch die Konkurrenz im Lebensmittel-Einzelhandel und Wachstumszwang oder durch normative Regelungen handlungsunfähig gemacht? Dann gilt es für alle lebensdienliche Wege zu finden – auch außerhalb neoliberaler Wirtschaftsdogmen.
Durch die Ausführungen des Kulturwissenschaftlers, Ethnologen und Unternehmensberater Christian Carstensen lässt sich die Frage stellen, ob sich der Landwirt unter dem Markt- und Wachstumszwang kommenden Generationen gegenüber überhaupt „kultiviert Benehmen“ kann. Er sieht kein „kultiviertes Benehmen“ im Rahmen eines kulturellen Ordnungswissens hinsichtlich der agrarkulturellen Überlebensfähigkeit. Welche Kultur überlebensfähig ist, sei eine Frage des Wertekanons einer kulturellen Gemeinschaft, meint Carstensen. (Christian Carstensen, 2012: Agrarethik in einem kulturellen Kontext, 67-84. In: Uwe Meier (Hrsg). Agrarethik – Landwirtschaft mit Zukunft. Agrimedia, 2012, S. 347)
Wenn die Aufgabe von Ethikern darin liegt, moralische Konflikte aufzuzeigen und sie einer belastbaren Lösung zuzuführen, dann bedarf es schon längst einer wissenschaftlich orientierten Agrarethik und damit eines Lehrstuhls dafür. Denn die Agrarethik kann an den Kern der vielen Konflikte in der Landwirtschaft führen und den Diskurs hin zu einer enkeltauglichen Wirtschaft begleiten.