Akademie für Soziale Demokratie

Johannes Plagemann, Henrik Maihack (2023): Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens. München: C.H. Beck

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Kurzgefasst und eingeordnet von Hanna Fath
Hanna Fath hat Politikwissenschaften, Soziologie und Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn studiert. Sie ist Stipendiatin des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses in München und arbeitet derzeit als freie Journalistin.


buch|essenz

Kernaussagen

Bei allen Unterschieden eint die Länder des Globalen Südens die Perspektive, dass der Ursprung der gegenwärtigen ökonomischen, politischen und ökologischen Großkrisen im Westen liegt. Klar ist, dass keine dieser drängenden globalen Herausforderungen durch den Westen allein gelöst werden kann. Die internationale Politik ist von Multipolarität bestimmt. Für den Westen bedeutet dies eine Abnahme in der Gestaltungsmacht in den bisher westlich geprägten internationalen Institutionen des Multilateralismus. Im Globalen Süden wird die Verlagerung von Absprachen in alternative Gremien hingegen als positives Zukunftsszenario wahrgenommen. Sie verspricht ein Mehr an Autonomie und Entscheidungsspielräumen. Erforderlich ist eine Reform internationaler Organisationen. Dabei kommt dem Globalen Süden eine strategische Bedeutung zu. Denn er wird sich nur dann für den Erhalt einer regelbasierten Ordnung einsetzen, wenn sich die Regeln dieser Ordnung ändern und er mehr Einfluss gewinnt.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die „Ignoranz des Westens“, wie es im Titel heißt, wird differenziert kritisiert. Hierzu zählt auch die „Zeitenwenderhetorik“ nach der russischen Invasion in der Ukraine, die in Ländern des Globalen Süden auf Widerstände traf. Gleichzeitig bemühen sich die Autoren um einen konstruktiven Impetus, indem sie konkrete Ansätze für eine soziale und demokratische Antwort auf eine internationale Ordnung im Umbruch liefern. Sie plädieren für mehr zivilgesellschaftliche Partnerschaften und für die Einbindung von Gewerkschaften bei Investitionen in grüne Technologien im Globalen Süden. Zudem werben sie für einen gestärkten, demokratisierten Multilateralismus ohne Doppelstandards sowie für eine handlungsfähige Weltgemeinschaft.


buch|autoren

Johannes Plagemann ist Politikwissenschaftler am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. 2015 und 2016 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Auswärtigen Amt tätig. Er ist in den Medien häufig als Experte für den Globalen Süden zu hören, zu sehen und zu lesen.

 

 

 

Henrik Maihack ist Politikwissenschaftler und leitet seit 2021 das Referat Afrika der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Berlin. Zuvor vertrat er die FES zehn Jahre lang im Globalen Süden. In Gastbeiträgen und Interviews analysiert er regelmäßig die deutsche Afrikapolitik und politische Transformationsprozesse in Ländern des Globalen Südens.


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buch|inhalt

Triumph der Wenigen

Aus Sicht des Westens beginnt die Moderne mit der Epoche der Aufklärung. Durch Rationalität und Wissenschaft ließen die Menschen Unmündigkeit und Mangel hinter sich. Die industrielle Revolution vereinfachte den internationalen Austausch und führte zu Wohlstand und Entwicklung. Die Wahrnehmung des Globalen Südens unterscheidet sich fundamental von diesem Narrativ. Das 16. bis 18. Jahrhundert wird als Zeit der Expansion des Imperialismus erinnert. Der wirtschaftliche Aufstieg Europas wurde durch den Raubbau an Rohstoffen sowie durch Versklavung und Ausbeutung möglich. Die Kritik am Geschichtsverständnis des Westens lautet entsprechend, dass Eroberungen, Bürgerkriege und Genozide durch den Westen fortwährend verharmlost wurden, um dort die Aufklärungsgeschichte und die Erzählung von liberalen Demokratien etablieren zu können, während das Versprechen von Wohlstand, Modernisierung und Demokratie im Globalen Süden nie eingelöst wurde. Vielerorts sind dort vielmehr Radikalisierungen und Terrorgruppen die Folge. Auch wenn die verschiedenen Gesellschaften des Globalen Südens ihren je eigenen Blick auf die Geschichte haben, lassen sich also Bruchlinien im historischen Verständnis ausmachen, die alle Länder des Globalen Südens vom Westen trennen: Sie eint die Wahrnehmung, dass die Ursache der aktuellen ökonomischen, politischen und ökologischen Krisen im Westen liegt. Die Momente des größten Triumphes im kollektiven Gedächtnis des Westens im 20. Jahrhundert – 1945 und 1989 – stehen im Globalen Süden für eine Fortsetzung von Ausbeutung und gebrochenen Versprechen. Es sind Triumphe des Westens und nicht Etappen eines globalen historischen Fortschritts.

Freie Partnerwahl

In der aktuellen Weltlage sind viele Anzeichen für die Entstehung einer multipolaren internationalen Ordnung zu erkennen. Es gibt mehrere Zentren, die um Einfluss werben, sowie eine entsprechend große Anzahl regionaler Abkommen. Uneingeschränkte Lagerzugehörigkeiten werden künftig die Ausnahme und Überschneidungen die Regel sein. Staaten, die bislang wenig außenpolitischen Einfluss außerhalb ihrer eigenen Region hatten, gewinnen an globaler Bedeutung. Insbesondere die außenpolitischen Optionen von Staaten wie Brasilien, Indien oder Südafrika nehmen zu.

Die Perspektive einer multipolaren Welt ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Im Westen fürchtet man einen Verlust an Einfluss und assoziiert Multipolarität mit Unordnung und Unvorhersehbarkeit. Vielen fällt es schwer, die post-westliche Weltordnung anzuerkennen. Wer jedoch nach einer neuen Bipolarität wie der zwischen den USA und China sucht, ohne Multipolarität anzuerkennen, übersieht die Brüche im vermeintlich geeinten Westen und die zunehmende Bedeutung von Süd-Süd-Beziehungen. Im Globalen Süden hingegen verspricht man sich von einer multipolaren Welt einen Gewinn an Autonomie: Man hofft, sich nicht länger zwischen dem Westen und internationaler Isolation entscheiden zu müssen.

Es ist davon auszugehen, dass sich die internationale Politik künftig immer neu an wechselnden Polen ausrichten wird. Zu erwarten ist darüber hinaus, dass der Aufstieg von Staaten wie China, Indien und anderen die ohnehin schon bestehende Asymmetrie zwischen großen und kleinen Staaten in der internationalen Politik vertieft. Im Bereich der globalen Wirtschaft ist diese Multipolarität bereits real. China ist das Land mit dem größten BIP, Indien der größte Verbrauchermarkt und Entwicklungsländer handeln mehr miteinander als mit den Industriestaaten.

Zu beachten ist in dieser Diskussion allerdings die Unschärfe des Begriffs „Multipolarität“. Meinte dieser früher die Großmachtpolitik zwischen mehr als zwei mit ähnlicher Macht ausgestatteten Polen, beschreibt der Begriff heute, dass Regierungen großer und kleiner Staaten und deren Gesellschaften miteinander verwoben sind. Getrennt voneinander existierende Pole gibt es nicht mehr; ebenso wenig sind die beteiligten Staaten gleich mächtig. Auch wirtschaftlich sind die Pole nicht gleich. So machen die Länder der Afrikanischen Union nur drei Prozent der globalen Wirtschaftskraft aus. Trotzdem hilft der Begriff zu verstehen, welchen Dysfunktionalitäten die internationale Politik gegenübersteht. Er grenzt die aktuelle Lage historisch sowohl von der unipolaren Welt mit den USA als alleinigem Hegemon als auch von der bipolaren Welt des Kalten Kriegs ab.

Zu den Schattenseiten der Multipolarität gehört, dass der wachsende Einfluss des Globalen Südens die Ungleichheit in der internationalen Politik nicht beseitigt hat. Die neuen Großmächte aus dem Globalen Süden werden allen voran für sich sprechen und bindende Übereinkünfte meiden, um den eigenen Handlungsspielraum maximal groß zu halten. Aufstrebende Staaten wie China und Indien verschärfen auf diese Weise die Exklusivität multipolarer Politik.

Während die deutsche außenpolitische Debatte noch immer von einem Gegensatz zwischen Interessen und Werten bestimmt ist, nehmen die Länder des Globalen Südens eine andere Perspektive ein: „Nicht die vielversprechenden Ansätze für eine feministische und moderne Außen- und Entwicklungspolitik bestimmen die Diskussionen des westlichen Engagements im Globalen Süden, sondern eher die Erinnerung an eine als wertegebundene Außenpolitik getarnte Interessenpolitik des Westens von der Kolonialzeit bis heute.“ Aufgrund dieser Schieflage hinkt der Westen hinterher, wenn es darum geht, den Ländern des Globalen Südens bessere Angebote zu machen und pragmatische Kooperationen zu offerieren. Formate wie das China-Afrika-Kooperationsforum für wirtschaftliche Zusammenarbeit gibt es vom Westen aus noch nicht.

Falsche Lösungen

Aus der Perspektive des Globalen Südens exportiert der Westen seine Krisen in ärmere Länder. Militärische Interventionen des Westens haben fast immer nicht einkalkulierte Folgekosten für die Gesellschaften des Globalen Südens. Auch die Geldpolitik des Westens hat unmittelbare Folgen im Globalen Süden, die selten berücksichtigt werden. Nirgends aber wird die globale Ungleichheit so deutlich wie in der Klimakrise: Verursacht haben sie die Industrieländer des Westens. Die Folgen hingegen treffen insbesondere den Globalen Süden. Sieben der zehn am meisten vom Klimawandel betroffenen Länder liegen in Afrika. Die enormen Kosten kann der Globale Süden nicht alleine tragen und fordert deshalb Entschädigungszahlungen sowie Reformen der Entwicklungsfinanzierung. Aber auch mit Blick auf die zukünftige Bekämpfung der Klimakrise zeigt sich ein Ungleichgewicht: Ein fossiler Entwicklungsweg für den Globalen Süden steht nicht mehr zur Verfügung, und für einen anderen Weg gibt es kaum Ressourcen und auch kein Modell. Der Paternalismus und die Doppelmoral des Westens, dem Globalen Süden CO2-Einsparungen vorzuschreiben, treffen auf Widerstand. Denn für die meisten Länder des Globalen Südens würde eine Senkung der CO2-Emissionen kurz- bis mittelfristig eine Fortsetzung von extremer Armut bedeuten. Notwendig wird deshalb die bisher größte wirtschaftliche Transformation der Geschichte: eine globale Umverteilung, die die Länder des Globalen Südens entschädigt und ihnen einen klimaschonenden Entwicklungspfad ermöglicht. Dafür brauchen die Länder des Globalen Südens die grünen Technologien des Westens und Chinas sowie die Ressourcen für deren Aufbau.

Auch beim Blick auf andere Gegenwartskrisen zeigen sich problematische Lösungsansätze des Westens. Das eindrücklichste Beispiel hierfür ist die Corona-Pandemie: „Die gleichzeitige Betroffenheit von Covid-19 und der ungleichzeitige Zugang zu Impfstoffen in vielen Teilen der Welt ist eine der offensichtlichsten Gerechtigkeitskrisen des frühen 21. Jahrhunderts.“

Regeln statt Bestimmer

Vor dem Hintergrund einer seit mehr als 50 Jahren für den Globalen Süden nur mangelhaft funktionierenden internationalen Entwicklungsagenda ist die Suche nach neuen und pragmatischen Koalitionen verständlich. Die internationale Politik ist somit zunehmend fragmentiert: Kleinere, thematisch oder regional orientierte Klubs von ähnlich gesinnten Staaten ersetzen zunehmend inklusivere internationale Organisationen, weil diese aufgrund der neuen Verteilung von Macht und Einfluss blockiert sind. Neben dieser Fragmentierung existiert aber auch der weit verbreitete Wunsch nach wirkmächtigen Organisationen, die die Interessen der kleinen und großen Staaten in Einklang bringen. Die meisten Staaten der Welt sind keine Großmächte und werden auch nie welche sein. Sie haben ein genuines Interesse daran, die internationale Politik zu demokratisieren. Dabei wünschen sich weltweit nicht nur Staaten, sondern auch gesellschaftliche Mehrheiten inklusivere und demokratischere internationale Organisationen, die Krisen effektiv vorbeugen oder sie beilegen. Problematisch hierbei ist, dass diese Demokratisierung der internationalen Politik erst einmal bedeuten würde, Autokratien in internationalen Gremien eine Stimme zu geben. Dies wiederum stärkt autokratische Regime nach innen.

Wir sind nicht alle und das ist auch gut so

Die Länder des Globalen Südens haben aus ihren historischen Erfahrungen eigene Schlüsse gezogen. Während man im Westen versucht, werteorientierte Bündnisse zu schmieden, pflegen die Staaten des Globalen Südens pragmatische Zusammenarbeit. Auch Europa wird mittel- bis langfristig verstärkt in die für die Multipolarität typischen themenorientierten Allianzen investieren müssen. Kompliziert ist dies insofern, als die Grenzen zwischen Demokratien und Autokratien, Regierungen und Gesellschaften, Partnern und Rivalen fließend sind, sowohl im Globalen Süden als auch im Westen. Und trotzdem: Deutschland und Europa brauchen zunehmend Partner jenseits des Westens.

Wie die Autoren betonen, ist dies kein Abgesang auf den Westen. Die Industrieländer des Westens sind wirtschaftlich und sicherheitspolitisch weiterhin stark und attraktiv. Die Europäische Union ist der wichtigste Handelspartner afrikanischer Länder und auch China braucht Exportmärkte im Westen. Der Militärhaushalt der USA ist weiterhin der weltweit größte und auch Werte wie Demokratie und Menschenrechte werden von gesellschaftlichen Mehrheiten im Globalen Süden geteilt. Trotzdem: Der relative Verlust an internationaler Gestaltungsmacht des Westens ist unumkehrbar.

Vor diesem Hintergrund formulieren die Autoren konkrete Handlungsanweisungen für eine gelingende Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik mit den Ländern des Globalen Südens: Erstens gilt es, den bisherigen Export von Krisen zu vermeiden. Zweitens bedarf es einer Reduktion des Paternalismus sowie mehr Kohärenz und mehr Resilienz durch neue Partnerschaften. Der Vorteil, durch den Europa sich von chinesischen oder russischen Angeboten an den Globalen Süden unterscheidet, ist die multidimensionale Zusammenarbeit. Drittens müssen multilaterale Organisationen gestärkt werden, anstatt sie zu umgehen. Dazu braucht es allerdings eine Demokratisierung der internationalen Politik und eine Stärkung des inklusiven Multilateralismus.


buch|votum

Der schon im Untertitel des Buchs beschriebenen Diversität des „Globalen Südens“ werden Maihack und Plagemann durch die vielen ausführlichen Länderbeispiele gerecht. Indem sie die geteilten Interessen und Ansichten der verschiedenen Staaten aufzeigen, gelingt es den Autoren, ihre vermeintliche Pauschalisierung des „Globalen Südens“ zu rechtfertigen, und weil sie immer wieder die historische Genese internationaler Ordnungen und die Kolonialgeschichte, aber auch aktuelle Ereignisse mit einbeziehen und den Begriff der globalen Multipolarität auch auf Bildung und Kultur beziehen, ergibt sich ein differenziertes und vielschichtiges Bild internationaler Beziehungen. Ohne dogmatisch zu wirken, unterstützt „Wir sind nicht alle“ somit Versuche, die eurozentristische Brille abzulegen und politische Kräfteverhältnisse neu zu verstehen.

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Verlag: C.H.Beck
Erschienen: 21.09.2023
Seiten: 249
ISBN: 978-3-406-80725-1

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