In einem solchen vernünftigen Prozess des Aushandelns und Abwägens unter fairen Bedingungen würden sich zwei Grundsätze ergeben:
„Erster Grundsatz
Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.
Zweiter Grundsatz
Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:
- sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und
- sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.“ (336)
Diese Gerechtigkeitsgrundsätze beziehen sich auf die Zuweisung von Rechten und Pflichten in einer Gesellschaft und auf die Verteilung gesellschaftlicher Güter. Der Anspruch ist dabei hoch. Unser Handeln und unsere Lebensweise sollen diesen Grundsätzen jederzeit entsprechen; egal, an welcher Position wir uns in der Gesellschaft befinden (489).
Der erste Grundsatz bezieht sich auf gleiche individuelle Rechte. Damit sind zum Beispiel politische Freiheitsrechte wie Wahlfreiheit oder Versammlungsfreiheit, aber auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf persönliches Eigentum gemeint. Es geht um gleiche Rechte und Freiheiten, frei von Diskriminierungen.
Der zweite Grundsatz bezieht sich auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen und auf den Zugang zu Positionen, die mit unterschiedlich viel Macht und Verantwortung einhergehen. Hier würde im Urzustand immer eine solche Verteilungsregel gewählt, die den am wenigsten Begünstigten zugutekommt, weil man sich unter dem Eindruck des Nichtwissens auch mit der Vorstellung auseinandersetzen muss, selbst zu den am wenigsten Begünstigten zu gehören.
Die beiden Grundsätze stehen zueinander in lexikalischer Ordnung. Das bedeutet, dass der erste Grundsatz dem zweiten Grundsatz vorgeht. Größerer Nutzen in wirtschaftlicher Hinsicht darf nicht zur Verletzung der im ersten Grundsatz benannten gleichen Grundfreiheiten führen. Rawls formuliert deutlich: „Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohles der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann.“ (19) Die Würde des Menschen ist, in Anlehnung an Kant, über allen Preis erhaben.
Während es bei dem ersten Grundsatz um ein Gleichheitsprinzip geht, ist bei dem zweiten Grundsatz durchaus eine ungleiche Verteilung möglich. Unterschiede in der Verteilung von Einkommen und Vermögen sind dann möglich, wenn die am wenigsten Begünstigten davon profitieren. „Es ist aber nichts Ungerechtes an den größeren Vorteilen weniger, falls es dadurch auch den nicht so Begünstigten besser geht“, so Rawls (32).
Eine Verteilung gesellschaftlichen Reichtums nach Verdienst ist demgegenüber nicht durchführbar. Denn wie hoch der Verdienst ist, das hängt von Umständen ab, die nicht mit dem Einzelnen und seiner Leistung zusammenhängen. So können sich Angebot und Nachfrage nach einer Tätigkeit erheblich auf Löhne auswirken, ohne dass sich die Leistung des Einzelnen verändert.
Der im zweiten Grundsatz benannte Spargrundsatz bezieht sich auf eine Gerechtigkeit über Generationen hinweg. Denn es geht nicht nur darum, im Hier und Jetzt nur solche Ungleichheiten zuzulassen, von denen die am wenigsten Begünstigten profitieren, sondern auch um nachfolgende Generationen. Auch künftige Entwicklungen müssen im zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz eingepreist sein. Der rücksichtlose Verbrauch von Ressourcen, der dazu führt, dass spätere Generationen in ihrer Ressourcennutzung schlechter gestellt werden, ist deshalb abzulehnen.
Die Gerechtigkeit als Fairness grenzt sich von zwei wichtigen Gerechtigkeitsideen ab. Erstens bezieht sie sich nicht auf eine göttliche oder von Gott gewollte Ordnung. Die Vorstellung, dass die Gesellschaft, so wie sie ist, von Gott geschaffen sei und deshalb auch zu akzeptieren sei – trotz aller Ungerechtigkeiten – wird faktisch abgelehnt. Denn nun beraten freie und aufgeklärte Menschen über Gerechtigkeitsprinzipien. Zweitens wird hier die Vorstellung abgelehnt, dass sich Ideen für die gesellschaftliche Ordnung immer daran orientieren müssen, dass der größte Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes verfolgt wird. Im Gegenteil: Es gibt Rechte des Einzelnen, die auch bei größten Vorteilen für die gesamte Gesellschaft nicht verletzt werden dürfen.