Mitbestimmung | 21. März 2024 | Bericht von Hanna Fath | Lesezeit: 3 Minuten
„Wie ein Sechser im Lotto“
Für den ernährungspolitischen Bürgerrat wurden die 160 Teilnehmer_innen in einem mehrstufigen Verfahren per Zufallsauswahl ermittelt. Ein Algorithmus sorgte dafür, dass sie bezüglich Alter, Geschlecht, Herkunft (Bundesland und Gemeindegröße) und Bildungshintergrund so zusammengesetzt wurden, dass möglichst genau die jeweiligen Anteile an der Bevölkerung in Deutschland abgebildet wurden. Außerdem wurde sichergestellt, dass der Bürgerrat auch der Verteilung der sich vegetarisch oder vegan ernährenden Personen an der Bevölkerung entsprach. Claudine Nierth, Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie: „Die meisten Bürgerräte empfanden das Los wie einen Sechser im Lotto und würden sich jederzeit wieder in einen Bürgerrat einladen lassen. Außerdem haben sie festgestellt, wie schwierig es ist, sich politisch auf die besten Lösungen zu einigen. Einige wollen sich künftig politisch weiter engagieren, in ihren Gemeinden oder in der Parteipolitik.“
Im Falle des Bürgerrats „Ernährung im Wandel“ stand am Ende dieses Lernprozesses eine Liste aus neun Empfehlungen, die die Teilnehmer_innen im Februar 2024 dem Bundestag und der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas übergaben. Zu den Vorschlägen gehört ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder in Schulen und Kitas, ein neuer Steuerkurs für Lebensmittel, der die Definition von Grundnahrungsmitteln reformiert, eine Altersgrenze für Energydrinks und eine Verbrauchsabgabe zugunsten des Tierwohls. „Die Bürgerräte haben mit ihren Empfehlungen bewiesen, dass es ihnen nicht um ihren persönlichen Vorteil ging, sondern um das Gemeinwohl“, erklärt Nierth.
Bürgerräte wollen dazu beitragen, die wahrgenommene Kluft zwischen der politischen Sphäre und den durchschnittlichen Bürger_innen zu verkleinern, fasst die FES-Studie „Bürgerräte. Neue Wege zur Demokratisierung der Demokratie“ zusammen. Das Verfahren der Bürgerräte folge einer Logik, die sich von den in der repräsentativen Demokratie dominanten einfluss- und wettbewerbsorientierten Mustern unterscheidet. Bürgerräte seien zugleich aber kein Ersatz für demokratisch gewählte Politiker_innen und ihre Parteien sowie die Institutionen der repräsentativen Demokratie. Sie könnten die parlamentarischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse durch direkte Mitsprachemöglichkeiten bei konkreten Sachfragen ergänzen, damit bürgernäher machen und die öffentliche Willensbildung fördern.
In seiner Studie „Demokratie in der Krise. Ein Weckruf zur Erneuerung im Angesicht der Pandemie“ forderte der Philosoph Julian Nida-Rümelin 2021 langfristige Visionen und mehr Beteiligung der Bürger_innen: „Eine Demokratie kann es sich nicht erlauben, größere Minderheiten in Fundamentalopposition, Resignation oder Wut abdriften zu lassen. Wenn solche Entwicklungen mit einem massiven Rationalitätsverlust einhergehen, ist die Demokratie gefährdet.“
Claudine Nierth sieht in der Beteiligungsform Bürgerräte viel Potential auf dem Weg zur sozial-ökologischen Transformation: „Je größer die politischen Herausforderungen und Reformen sind, desto mehr sollten künftig die Bürger miteinbezogen werden. Das gilt für alle politischen Ebenen. Je mehr die Bürger merken, dass sie Teil der Lösung und nicht nur Teil des Problems werden können, desto mehr wächst auch die Akzeptanz und Bereitschaft große Veränderungen mitzutragen.“ Diese Bereitschaft für große Veränderungen braucht es nicht nur, wenn es um das Essen geht.