Internationale Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 2/2002

 

 
 
 

 


Das islamische Argument. Warum sich so viele Araber umringt von Feinden sehen 

Jochen Müller*

Als Reaktion auf Kolonialismus und Unterwerfung bildet sich bereits im 19. Jahrhundert im Nahen und Mittleren Osten ein islamischer Diskurs heraus. Bis heute ist die fortgesetzte Bedrohung und Demütigung "der Muslime" durch "den Westen" wesentliches Motiv einer kollektiven islamischen Identität in vielen Staaten der Region. Dieses Gefühl der Bedrohung von außen machen sich sowohl die verschiedenen Spielarten des politischen Islam als auch die autoritären Regime der Region zu Nutze: Sie lenken erfolgreich von einer emanzipatorischen Kritik an den sozialen Widersprüchen ihrer Gesellschaften ab.

 

Noch in den ersten Wochen nach den Anschlägen vom 11.9. wurden alle Fragen nach den Ursachen des Wahns als Versuche seiner Rechtfertigung abgefertigt. Dies änderte sich in Deutschland im Rahmen der Diskussion um Otto Schilys 'Sicherheitspakete' sowie über den "Krieg gegen den Terror". Mehr und mehr drängte die Frage nach den Ursachen von Islamismus1 und Terror in den Vordergrund des öffentlichen Interesses: Ist der Islamismus tatsächlich so gefährlich, dass mit ihm ein Krieg und eine derart verschärfte Politik der Inneren Sicherheit begründet werden kann?

Die in der Folge zu verzeichnenden Positionierungen lassen sich auf zwei Pole zuspitzen: die 'Islamthese' und die 'Globalisierungsthese'. Die Islamthese geht von einer für die Region des Nahen und Mittleren Ostensspezifischen Bewegung aus, dem Islamismus. Dieser beruhe mit dem Islam auf einer Religion, an der die Aufklärung offenbar vorbei gegangen sei. "Der Islam" heißt es etwa im Merkur, "ist eine unaufgeklärt gebliebene, frühmittelalterliche Religion, die periodisch aggressiv ausbricht .... der Terror kommt durchaus aus dem Islam, und die Gewalt hat es nun einmal so an sich, daß sie nur mit Gewalt zu beenden ist." (Merkur, 11/2001, S.955) Diese Position will vom globalen sozio-ökonomischen Kontext, in dem Islam, Islamismus und Terror stehen, nichts wissen. Notfalls eben mit Krieg wollen ihre Vertreter dem radikalen Islam beikommen

Die Globalisierungsthese auf der anderen Seite rationalisiert den Terror als mehr oder weniger direktes Resultat einer ungleichen Weltordnung, welche die Menschheit in Gewinner und Verlierer teilt. Gegen den "Terror der Globalisierung" wehren sich nach dieser Lesart die Verlierer mit einem Mittel der Schwachen. Auf Grund ihrer brutalen und arroganten Weltmachtpolitik hätten sich die USA die Anschläge im Grunde selber zuzuschreiben. Diese Interpretation, die in Dritte-Welt-Ländern ebenso verbreitet ist wie in Teilen der deutschen Öffentlichkeit, ignoriert den Islamismus und seine spezifische Ideologie weitgehend. Sie verharmlost die Gefahr, die von ihm ausgeht und übersieht, dass es nun mal der Islamismus ist und eben nicht irgendeine andere Bewegung der Ärmsten aus dem Süden, die hinter dem Terror steht.

Die Huntington-Falle

Gemeinsam war beiden Lagern, dass sie nicht gerade ein gesteigertes Interesse für ihr Thema an den Tag legten, nämlich den Zusammenhang von Islam, Islamismus und Terror. Vielmehr diente beiden der 11.9. vor allem als Bestätigung bisheriger Weltanschauungen. Aber auch wenn sie nicht zueinander finden mögen - beide Bewertungen der Anschläge sind nicht gänzlich falsch. Zum einen stehen Terror und Islamismus ohne Zweifel in engstem Zusammenhang mit der 'Globalisierung', verstanden  als kontinuierliche Formierung des kapitalistischen Weltmarkts. Schließlich stellen sie eine Reaktion auf die Erfahrungen von (Post-)Kolonialismus und fortgesetzter Armut und Abhängigkeit in der Region des Nahen und Mittleren Ostens dar. Diese Erkenntnis macht nun nicht den Kolonialismus für alles Leid der Welt verantwortlich und den Islamismus nicht zu einer fortschrittlichen Bewegung. Aber ohne diese Geschichte gäbe es den Terror wahrscheinlich nicht. Zum anderen ist die Gefahr, die von der reaktionären Ideologie des Islamismus und insbesondere seines Antisemitismus ausgeht, nicht zu leugnen und drängt durchaus die Frage auf, wie ihm zu begegnen ist.

Vor allem die 'Islamthese' geht aber von einigen zwar populären aber falschen Grundannahmen aus. An erster Stelle steht dabei die fixe Idee vom Islam als Wesenskern der Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens. Von ihr leiten sich auch die Begriffe von der "islamischen" Welt oder den "islamischen" Gesellschaften ab. Sie suggerieren, dass sich sämtliche Lebens- und Ordnungsformen von Muslimen vor allem anderen und ursächlich auf ihre Religion zurückführen ließen. Wie eine Käseglocke stülpt diese Vorstellung einem riesigen geographischen Raum von der Westsahara bis nach Indonesien, wo die meisten der weltweit etwa 1,3 Mrd. Muslime leben, eine kollektive Identität über. Politische, wirtschaftliche oder kulturelle Fragen - jedes zunächst unklare Phänomen bis hin zum Terror wird zunächst religiös erklärt. Das Paradebeispiel für solche Verirrungen ist die Ableitung der Rolle der Frau in den modernen Gesellschaften der Region aus einer Handvoll Koransuren. Es macht indes keinen Sinn, Fragen des 21. Jahrhunderts an den frühen Islam des 7. Jahrhundert zu stellen. Es gibt auch im Islam keine Wahrheit, wie sie im Buche steht. Vielmehr ließ sich aus seinen religiösen Quellen schon immer alles begründen, was das Herz begehrt: Kommunismus oder Kapitalismus, Demokratie wie Diktatur, Feminismus und Männerherrschaft, Märtyrertum wie Sanftmütigkeit. Und es finden sich stets Gelehrte, die im Auftrage ihrer politischen Herren religiös begründen, was andere als "unislamisch" zu brandmarken versuchen. Im Golfkrieg etwa ließ sich Saddam Hussein die islamische Gebotenheit seines Kampfes per Fatwa genauso ausstellen, wie die arabischen Führer auf Seiten der Anti-Hussein-Allianz. Es sind vor allem die Islamisten, die behaupten, die absolute und einzige Wahrheit des ein für alle mal gültigen Koran für sich gepachtet zu haben. Warum ihnen nacheifern und eine einzige und für alle Zeit gültige Wahrheit in den religiösen Quellen vermuten?

Die Annahme von der Religion als Urgrund allen Geschehens in der “islamischen” Welt liegt auch dem Gerede über die unterschiedlichen Zivilisationen oder Kulturen zugrunde, wie es nach dem 11.9. fröhliche Urständ feiern konnte. Dieses basierte auf der Vorstellung von der ganz anderen, weil nämlich "islamischen" Kultur - ein Konzept, dem Samuel Huntington Mitte der 90er Jahre zu neuen Ehren verhalf. Als er behauptete, dass die zukünftigen Weltkonflikte eben auf der Grundlage kollektiver kultureller Zugehörigkeiten ausgetragen würden, hatte er vor allem den Konflikt zwischen “dem” Westen und “dem” Islam vor Augen. Dabei handelt es sich jedoch um eine klassische selffulfilling prophecy, die sich auch als Huntington-Falle bezeichnen lässt: Es muss nur lange genug die Existenz genuin unterschiedlicher Kulturen behauptet werden, dann kämpfen sie auch irgendwann gegeneinander. Indem die Islamthese die Kategorien vom Kulturenkampf noch bestätigt, trägt sie zum Terror eher bei, als dass sie ihn erklären könnte. Außerdem ist sie Wasser auf die Mühle der Islamisten, denn sie wähnen sich in genau jenem "Kampf der Kulturen", den Huntington herbeischrieb.

Die Gegenüberstellung der westlichen und der islamischen Kultur hat Huntington aber nicht erfunden. Bei ihm - wie auch in der Islamthese nach dem 11.September - stehen Stereotypen im Mittelpunkt, die schon seit Jahrhunderten die Konzepte von "Orient und Okzident" prägen. Europa und der arabische Raum konstituier(t)en sich in einem langen historischen Prozess - in einem Wechselspiel von gegenseitigen und Selbstzuschreibungen. Und hier liegen auch die Wurzeln eines "islamischen Arguments", das heute nicht zuletzt im Terror und Islamismus zum Ausdruck kommt.

Projektion und Unterwerfung

Die islamische 'Käseglocke' funktioniert bereits im frühen Mittelalter: Das frühe Christentum sieht sich mit den Eroberungen im Namen des Islam konfrontiert. Durch die Antithese zum Christentum schärfen sich in der europäischen Wahrnehmung dessen Konturen. Vor allem in der Zeit der Kreuzzüge galt die Kultur des Islam als gewalttätig; starr vor Furcht erlebte Europa die zweite Belagerung Wiens durch die Osmanen (1683). Bis heute wirksam ist aber vor allem das Bild, das sich das aufgeklärte Europa seit dem 18. Jahrhundert von der anderen Seite des Mittelmeeres machte: Malerei, Literatur und Wissenschaft demonstrieren die exotistische Lust am Anderen als dem verdrängten Eigenen. Je träger, lasziver, irrationaler, wollüstiger, despotischer, barbarischer und zurückgebliebener der "Orient" aus 1001 Nacht präsentiert wurde, desto fortschrittlicher, vernünftiger, gerechter, zivilisierter und machtvoller erlebte sich das Europa der Aufklärung. In diesen Bildern erfindet Europa nicht nur den Orient, sondern auch sich selbst und begründet daraus seinen Anspruch auf Macht und Überlegenheit. Das mündet in das Zeitalter des Kolonialismus, das Napoleon 1798 mit seiner zunächst episodenhaft bleibenden Eroberung Ägypten einläutete. Seither ist der Nahe und Mittlere Osten nicht nur in den kapitalistischen Weltmarkt integriert, sondern steht auch unter dem direkten Einfluss aller westlichen Ideologien, Kulturgüter, Denk- und Lebensformen.

Der arabische Raum wurde zum Feld der imperialistischen Machtansprüche der europäischen Staaten. Deren Überlegenheit war eklatant, ihre Fortschrittlichkeit augenscheinlich. Der Fortschritt galt indes als genuin europäisch, seine Weitergabe als Gnade und als "white mans burden". Die Kolonisierten galten als Menschen zweiter Klasse.  Die “islamische” Welt wurde als zurückgeblieben eingestuft, Land und Leute vermessen, errechnet und erfasst, die Wirtschaft auf die Bedürfnisse der jeweiligen Kolonialmacht zugerichtet. Tagtäglich demonstrierten die Kolonialherren ihre Überlegenheit und Geringschätzung.

Von Beginn an steht somit die Begegnung zweier Welten - die sich in ihr erst konstituieren - im Zeichen einseitiger Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Und vor allem kamen die Werte der Zivilisation und Aufklärung in Verbindung mit Unterdrückung, Mord und Totschlag über die Kolonisierten. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts sind Nordafrika, der Mittlere Osten, Mittelasien und Ostasien unter mehr oder weniger direkter Herrschaft der europäischen Kolonialstaaten. Als Epoche der Unterwerfung und Demütigung ist diese Zeit fest im kollektiven Gedächtnis der Menschen im arabischen Raum verankert - eine naheliegende Konsequenz, deren Existenz und Bedeutung aber in Europa und den USA weitgehend ignoriert wird. Und dies, obwohl etwa der Krieg des faschistischen Italien in Libyen eine Million Menschen das Leben kostete; und obwohl zum Beispiel bis zum Ende des algerischen Befreiungskrieges ein Zehntel der Gesamtbevölkerung umgekommen waren - und das war vor nicht einmal vierzig Jahren.

Koloniale Integration...

Konfrontiert mit der Macht der Moderne, standen den Kolonisierten - idealtypisch betrachtet - zwei Wege offen: Integration oder Abgrenzung. In diesen beiden Formen verläuft die Auseinandersetzung zwischen “dem” Islam und “dem” Westen bis heute. Ein Beispiel: Als Frankreich im Zuge der Kolonisierung Algeriens die gesetzliche Gleichberechtigung der Frauen durchsetzen will, nahmen viele AlgerierInnen diese Gelegenheit wahr, sich von traditionellen Zwängen zu befreien. Sie integrierten sich, soweit es ihnen gestattet wurde, in die koloniale Gesellschaft. Andere - vor allem die ländliche Bevölkerung - erkannten das französische Anliegen als bloßes Herrschaftsinstrument eines Kolonialregimes, welches über Frau und Familie den Kampf um die Macht führte. Das zog eine konservative Gegenreaktion nach sich, die nun erst recht auf der traditionellen Rolle der Frau als Symbol von Eigenständigkeit und kultureller Identität beharrte.

Ähnlich verlief die Entwicklung im Iran nach der vom Modernisierungsregime des Schahs verfügten Zwangsentschleierung bis zur Revolution 1979. Und wenn Laura Bush zu Kriegsbeginn eine Initiative startet, die den "Krieg gegen den Terror" zu einem "Kampf gegen Gewalt gegen Frauen" stilisiert, so steckt darin die historisch erprobte Legitimation von Machtpolitik im Namen westlicher Ideale, die auf der Seite der "Beglückten" in tiefstem Misstrauen bis hin zur Abwendung von diesen Werten und ihren Überbringern münden kann. Denn wer wüsste nicht, dass die Situation der Frauen in Afghanistan, deren "Entschleierung" jetzt im Westen gefeiert wird, bis zum 11.9. kaum von Interesse war.

Es war diese Janusköpfigkeit der Kolonisation, die zur Entstehung des "islamischen Arguments" als kollektiver Identität des Mittleren Ostens und zur Entstehung des Islamismus führen sollte. Schnell wurde nämlich deutlich, dass alle Bemühungen der Kolonisierten seit Beginn des 19. Jahrhunderts, die Moderne in die eigene Lebenswelt zu integrieren, von der anhaltenden Erfahrung der Unterlegenheit begleitet waren. Ende des 19. Jahrhunderts gaben die Islamischen Neuerungsbewegungen ihre Antwort darauf: Integration und Abgrenzung. Sie passten den Islam den Erfordernissen der kolonialen Moderne an und erklärten ihn zu einer Religion der Vernunft. Der Islam stehe Technik und Fortschritt nicht im Wege - im Gegenteil, er fördere sie. Parallel zur Aneignung des hegemonialen europäischen Vokabulars der Weltbeherrschung und -beschreibung versuchen sie aber, eine eigene Identität gegen die Dominanzkultur zu behaupten. Dazu bot sich die Religion an: Schließlich konnte mit dem Islam eine Epoche der eigenen Stärke, ja sogar einer Hochkultur verbunden werden, die derjenigen der späteren christlichen Unterdrücker meilenweit voraus gewesen war.

 

... und islamische Abgrenzung

Daraus entstand ein Leitmotiv, das später auch für den Islamismus zentral werden sollte: "Wenn wir jahrhundertelang eine auf unserer Religion basierende Hochkultur besaßen, jetzt aber in allen Belangen zurückgeblieben sind, kann das nur daran liegen, dass wir vom rechten islamischen Weg abgekommen sind. Zu diesem müssen wir zurückkehren." Als Antwort auf den europäischen Diskurs entstand so im Kontext der Moderne ein islamischer Diskurs: das islamische Argument. In ihm wurde die europäische Projektion von der islamischen Identität von den Kolonisierten selbst aufgegriffen. Sie sollte nun jedoch von einem Symbol der Schwäche zur Quelle neuer Stärke werden. Die idealisierte Urform des Islam wurde zum Kern der arabischen Authentizität und als Gegenentwurf zur europäischen Identität aufgebaut.

Das Motiv der Abgrenzung von der kolonialen Gesellschaft überwog aber erst bei den islamistischen Bewegungen, die in den 30er Jahren überall im Mittleren Osten entstanden. Auch sie waren Modernisierungsbewegungen, allerdings setzten sie keine Hoffnungen mehr auf Integration in die kolonialen Sektoren. Das ging nicht zuletzt auf die politische und ökonomische Entwicklung Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Zu Beginn des Jahrhunderts waren die Regionen des Nahen und Mittleren Ostens fest in der europäischen Ordnung verankert. Sie spürten die wirtschaftliche Krise in den Vorkriegsjahren, waren direkt in den Ersten Weltkrieg verwickelt und wurden in ihren Hoffnungen auf Unabhängigkeit, die sich starkan die USA und Wilsons 14 Punkte geknüpft hatten, enttäuscht. Das propagierte Recht auf nationale Selbstbestimmung blieb ihnen vorenthalten. Im Sykes-Picot-Abkommen teilten Frankreich und England die eroberten Gebiete des Osmanischen Reiches in Einflusszonen auf. Enttäuscht darüber waren insbesondere Angehörige der städtischen Ober- und Mittelschichten sowie Intellektuelle, die zunächst auf Kooperation und Partizipation und dann auf die Unabhängigkeit gehofft hatten. Mit der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre zeigte sich erneut der mangelnde Willen und die Unfähigkeit des kolonialen Sektors, die arabischen Eliten aufzunehmen.

1928 gründete sich daraufhin in Ägypten die Muslimbrüderschaft, deren Entwicklung bis heute charakteristisch und maßgebend für viele islamistische Organisationen ist. Die Gründung war Ausdruck einer Identitätssuche und ihr Hauptanliegen dabei die Loslösung aus der Kontrolle des Westens. In ihr vereinigten sich viele ländliche Neuankömmlinge, die in der städtischen kolonialen Gesellschaft nicht Fuß fassen konnten. Ihnen ging es nicht mehr um die islamisch formulierte Integration. Die Gesellschaft wurde vielmehr als unislamisch wahrgenommen und anders als die Neuerungsbewegungen sahen sie in ihr keinen Platz für sich. Die Muslimbrüder verlegten sich zunächst auf karitative und soziale Aktivitäten: Krankenhäuser und Apotheken wurde gegründet, Bildungseinrichtungen und Kredite an Bedürftige vergeben. Außerdem propagierten sie einen "reinen", fortschrittlichen Islam, der von seinen ländlichen Überformungen, von Volksglauben und starren Traditionen befreit würde. Der politische Islam war somit Teil einer bürgerlichen Emanzipations- und Modernisierungsbewegung.

 

Renaissance in den 70ern

Im nationalen Kampf gegen die auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzte koloniale Fremdbestimmung politisierten sich die islamistischen Gruppen und gingen in den republikanischen Bewegungen auf. Nationalismus, Entwicklungsstaat und soziale Gerechtigkeit sind ihre Anliegen. Mustafa Shibai, Führer der syrischen Muslimbrüder, feierte den Propheten Mohammad als ersten Gründer eines sozialistischen Staates. Nicht zuletzt, weil auch die anderen politischen Strömungen im Befreiungskampf ihre Positionen mehr oder weniger in eine islamische Terminologie kleideten und somit "islamisierten", konnten die Muslimbrüder sich innerhalb der nationalen Bewegungen nicht besonders profilieren.

Auch unter den nationalistischen Regimen nach der Unabhängigkeit - sei es der Nasserismus in Ägypten, die FLN in Algerien, die Baath in Syrien und Irak oder die Königtümer etwa in Marokko oder Jordanien - hatten sie keine Chance auf eine Massenbasis. Vielmehr wurden sie vielerorts von den totalitären Regimen unterdrückt - weniger wegen ihrer Positionen, sondern im Kampf um die Macht.Erst in den 70er Jahre erschienen Islamisten wieder auf dem politischen Parkett. Es hatte sich gezeigt, dass die sozialistischen, nationalistischen oder royalistischen Regime gescheitert waren. Sie konnten ihre Entwicklungs- und Modernisierungsversprechen nicht einhalten und blieben überdies abhängig von den Weltmächten. Insbesondere der Krieg, den die arabischen Armeen 1967 gegen das kleine Israel so vernichtend verloren hatten, kratzte an der Autorität. Ihre Massenbasis, ihr Charisma war dahin und ihr repressiver Charakter trat immer deutlicher zu Tage.

Islamistische Bewegungen gewinnen in den 70er und 80er Jahren nun überall an Boden. Ihre Positionen klingen bekannt, es ist das “islamische Argument”: Die westlichen Importideologien, sagen sie, haben versagt. Nationalismus, Sozialismus, Kapitalismus (in Form von Sadats Westöffnungspolitik) entsprechen nicht unserem Wesen. Wir müssen einen neuen, d.h. einen alten, authentischen islamischen Weg einschlagen. “Der Islam ist die Lösung” wird zu ihrer Parole und zur Antwort auf alle gesellschaftlichen Krisenerscheinungen: wachsende Armut, krasse soziale Ungleichheit, Auflösung traditioneller Systeme und repressive Regime. Hauptmotiv und Quelle der Attraktivität islamistischer Bewegungen ist ihre Abwendung und Abgrenzung vom Westen und seinen Entwicklungsmodellen. Ihre Opposition gilt dabei bis heute jedoch in allererster Linie den Führungen der eigenen Gesellschaften, denen sie vorwerfen, “unislamisch” zu sein und deshalb zu versagen.

Moderate Islamdemokraten

Zwar grenzen sich die moderaten Muslimbrüder Ägyptens in ihrer Propaganda entschieden von der bestehenden Ordnung ab - ihre Programmatik und soziale Herkunft sprechen heute mehr und mehr die Sprache der Integration: 95% der bestehenden Verfassung, sagen die ägyptischen Brüder bereits Anfang der 90er, entsprächen schon den islamischen Vorgaben. Die moderaten (Mainstream-)Islamisten beteiligen sich, so sie zugelassen werden, in ihren jeweiligen Ländern an Wahlen, sitzen in Parlamenten (u.a. in Jordanien, Libanon, Ägypten), integrieren sich in das politische Tagesgeschäft und beteiligen sich an Regierungen - wie in der Türkei in den 70ern und noch einmal in den 90ern. Ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen sind – wenn auch islamisch legitimiert - in der Regel auf Privatisierung und auf Marktwirtschaft orientiert. Das gilt für das Konzept einer unter saudischer Federführung entwickelten Islamischen Wirtschaftsordnung ebenso wie für das Programm des algerischen FIS (Front Islamique du Salut) zu den Wahlen 1992 oder die aktuelle iranische Wirtschaftspolitik. Die soziale Frage stellen sie nur noch am Rande. Bei den sozial Deklassierten sind sie vor allem durch ihre karitativen Leistungen populär, mit denen sie in Form eines patriarchalen Klientelsystems an die Stelle der versagenden Staaten treten.

Die heutigen moderaten Islamisten sind in Ländern wie Ägypten oder der Türkei zu einem großen Teil pragmatische Technokraten. Dem entspricht auch ihre soziale Herkunft: Viele Muslimbrüder beispielsweise gehören heute den Oberschichten an, sind studiert, Anwälte, Ärzte, Naturwissenschaftler und laden in vollklimatisierten Büros in Schlips und Kragen zum Interview. Sie haben sich mit der herrschenden Weltordnung arrangiert und in weltweit hegemoniale Diskurse eingeklinkt: Demokratie, Pluralismus, Zivilgesellschaft und Menschenrechte gehören zu ihrem Repertoire. Tatsächlich stellen sie vor dem Hintergrund der beinahe ausnahmslos totalitären und repressiven Regimen der Region oft die stärkste Demokratie- und Menschenrechtsbewegung dar. Ist doch der Islam vielerorts die einzige Möglichkeit, das einzige Vehikel, um überhaupt politische Opposition formulieren zu können. Entsprechend werden sie von den Regimen auch immer wieder verfolgt und unterdrückt.

Der moderate Islamismus greift Krisenerscheinungen auf , die der Weltmarkt an seiner Peripherie hervorbringt und hat damit die Linke als Protestbewegung der 50er und 60er Jahre abgelöst. Seine“Wir”-Konstruktion, die kollektive Identität der Muslime, stellt jedoch einen extrem konservativen und patriarchalen - in seiner Agitation gegen Andersdenkende oft repressiven und totalitären – vielen Menschen vertrauten Gegenentwurf zur Integration in den Weltmarkt und dessen sozialen Folgen dar. Er richtet sich darin dennoch nicht gegen den Kapitalismus, sondern soll die bestehende Ordnung der Gesellschaft lediglich erträglich erscheinen lassen. Ziel des gemäßigten Islamismus ist seine politische Partizipation und eine ausschließlich wirtschaftsliberale Ordnung. Sein Kampf ist der Kampf eines Teils der städtischen Elite. Er wird nicht um soziale Fragen, sondern um die Macht geführt.

 

Radikale Strömungen

Vor diesem Hintergrund der – zumindest partiellen - "Christdemokratisierung" des gemäßigten Islamismus stellt sich die Frage, ob das von ihm strapazierte Motiv der entschiedenen Abgrenzung vom Westen nur noch populistischen Zwecken dient. Tatsächlich zeigen die Erfahrungen etwa in Jordanien, dass die Attraktivität des politischen Islam für die Massen schnell verblasst, wenn er nicht mehr Fundamental-Opposition spielen kann, sondern in die Tagespolitik eingebunden wird.

Größeren Einfluss auf die Bevölkerung haben deshalb oft nicht die den Ober- und Mittelschichten angehörigen, machtpolitisch orientierten Technokraten, sondern die Ideologen innerhalb der islamistischen Strömungen. Wie etwa der ägyptische Prediger Scheich Scharawi, dessen Weltsichten auf Bild- und Tonträgern die gesamte arabisch-sprachige Region beglücken, sind sie häufig religiöse Würdenträger. Sie entsprechen auch äußerlich eher dem Bild vom "Fundamentalisten" als die Schlips-und-Kragen-Fraktion. Bei ihnen - nicht zu verwechseln mit dem staatlich bestellten Gelehrtenislam - dominiert nicht die islamisch dekorierte und legitimierte Integration ins tagespolitische Geschehen, sondern das Motiv der Abgrenzung. Sie bestehen unversöhnlich auf ihrer radikal konservativen Interpretation des Koran. Abweichungen davon grenzen sie schärfer noch als ihre moderaten Kollegen aus und konstruieren die Wir-Gruppe der “guten” gegen die “schlechten” Muslime.

Diese Prediger sind auch Verfechter historischer Verschwörungstheorien: In den Kreuzzügen, im Kolonialismus, im Palästinakonflikt und dem Golfkrieg habe sich der Westen ein ums andere mal als Feind des Islam erwiesen. Ihrer Auffassung nach sind die islamischen Länder lediglich Schachfiguren der imperialen Staaten. Diese haben nichts anderes im Sinn, als den Islam zu vernichten und tagtäglich die Muslime zu demütigen. Gleichberechtigung der Geschlechter, Kriminalität, Prostitution, Aids, Pornographie, Dekadenz und Drogen sind für sie Ausdruck des moralischen Verfalls infolge westlicher Unterwanderung. In Pakistan beispielsweise wollten Islamisten Madonna und Michael Jackson als “kulturelle Terroristen” vor Gericht stellen, weil sie zur Sittenlosigkeit animierten: all das diene der Schwächung des muslimischen Kollektivs. Als “paranoiden Islam” bezeichnete Salman Rushdie diese seiner Ansicht nach derzeit stärkste Form des politischen Islam.

Die Ideologen liefern einfache Interpretationen der Weltlage und der erbärmlichen Situation vieler Menschen in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Die Gesellschaft wollen sie durch die Läuterung der Individuen bewirken. Sie appellieren an eine Art von “gesundem Volksempfinden”, das dem “richtigen” Muslim sagt, was akzeptables und was verwerfliches Verhalten ist. Letzteres wird dann dem Volkszorn ausgesetzt, wie etwa Säkularisten oder Homosexuelle. Diese Weltsicht behält - wie die der westlichen Kulturalisten à la Huntington - den Glauben an einen essentiellen Unterschied zwischen Ost und West bei. Auf die sozialen Widersprüche antworten die islamistischen Ideologen reaktionär. Sie mobilisieren Hass und geben diesem ein Ziel: "schlechte" Muslime, der Westen und die Juden.Populär sind vor allem die patriarchalen Grundüberzeugungen der Scharfmacher sowie ihr antiwestliches bzw. antiamerikanisches (hier haben die USA die alten Konialmächte als Haupt-Feindbild beerbt) und antisemitisches Ressentiment. Hier treffen Scharawi und Co. den Ton der Straße häufiger als die islamistischen Technokraten.

 

Stereotypes Alltagswissen

Möglich ist ihnen dies, weil sie an ein ‚Alltagswissen‘ appellieren, das zwischen Dakar und Peshawar Millionen Muslime auch unabhängig vom politischen Islam teilen: Die politische und kulturelle Authentizität der islamischen Welt, so lassen es Taxifahrer wie Leitartikler verlauten, müsse gegen die fortgesetzte westliche Durchdringung behauptet werden. Vor dem Hintergrund des in kolonialen Zeiten konstruierten 1,3-Milliarden-Muslime-Kollektivs fühlen sich viele Syrer oder Marokkaner “gedemütigt” durch den Krieg im fernen Afghanistan. Deshalb spricht der ägyptische Autor Sonallah Ibrahim von “Backpfeifen”, welche die Menschen in Kairo täglich durch den Palästinakonflikt erhielten. Und so kann der Tod eines irakischen Kindes - betrachtet als Folge der UN-Sanktionen - oder eines Hamas-Aktivisten - interpretiert als Mord durch die (US-gestützte) israelische Regierung - den Demütigungsreflex eines ägyptischen Bankangestellten abrufen. Bis heute gewinnt die Projektion der (Glaubens)Gemeinschaft ihre Stärke aus dem Bewusstsein, als Muslime von einer Welt von Feinden eingekreist zu sein. Das kommt in kruden Verschwörungsfantasien zum Ausdruck: Bevölkerungsprogramme, die westliche Entwicklungstechnokraten auch im Nahen und Mittleren Ostens durchsetzen wollen, stehen unter dem Verdacht,die Anzahl der Muslime klein halten zu wollen. Und es wurden Vermutungen laut, die USA hätten in Zusammenarbeit mit “jüdischen Kreisen” die Anschläge vom 11.9. selbst inszeniert, um eine Legitimation für ihr Vorgehen gegen islamische Staaten in der Hand zu haben.

Eine der in vielen arabischen Staaten populärsten Verschwörungstheorien ist der Antisemitismus. Die Religion der Juden sei das Geld, heißt es, die Juden wollen die Welt beherrschen, sie dominierten in den USA die Medien und eine Politik, die Israel als Brückenkopf in der arabischen Welt bedingungslos unterstütze. Als ohnmächtige Objekte des Weltgeschehen inszenieren sich die Vertreter solcher Theorien - ein Weltgeschehen, von dem sie glauben, dass es sie als Muslime direkt betrifft.

Am eigenen Leibe erhält der Bankangestellte aus Kairo seine “Backpfeifen” jedoch nicht im fernen Afghanistan oder in Tschetschenien, sondern vor und hinter der eigenen Haustür. Als Sohn einer Großfamilie muss er sich vielleicht wie Millionen andere in den arabischen Metropolen mit ein paar Quadratmetern begnügen. Sein Universitätsabschluss garantiert ihm noch lange keinen Job, der eine Wohnung erschwinglich machen würde. Ohne Wohnung aber gibt’s keine Hochzeit, damit auch keine Sexualität und die Erfüllung eigener(Familien)Wünsche. So oder ähnlich steht die Masse der Bevölkerung in den Staaten Nordafrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens ihrer Perspektiv- und gesellschaftlichen Einflusslosigkeit ohnmächtig gegenüber. Die Glücksversprechen der von ihnen gleichermaßen gehassten wie geliebten Moderne blieben auch nach der Kolonialzeit den nationalen Eliten vorbehalten. Eigenheime, Limousinen oder ein Urlaub mit der Familie sind dem Gros der Menschen zwar zum Greifen nah gekommen, aber doch unerreichbar fern geblieben.

Die öffentlich geäußerte Kritik des “kleinen Mannes” richtet sich aber weniger gegen die alltäglichen Ungerechtigkeiten, selten gegen die so bornierten wie machtversessenen wirtschaftlichen und politischen Eliten und noch seltener gegen die Weltwirtschaftsordnung. Ohne Hoffnung auf Veränderung in ihren Gesellschaften und gefördert durch entsprechende Propaganda von Regierungen und Islamisten, die beide kein Interesse an einer systemkritischen und emanzipatorischen Opposition haben, verschieben viele Menschen die Quelle ihrer Frustrationen auf übermächtige, imaginäre äußere Mächte und verharren in einer Opferhaltung, die leicht in aggressive Ressentiments mündet.

 

Auszug und Kampf

Dieser Demütigungsideologie bedient sich auch der radikale Islam. Als “Kostprobe davon, was wir Muslime erlebt haben”, legitimierte etwa Ussama bin Laden 1998 den Anschlag auf die US-Botschaft in Kenia. Damit kann er an ein politisches Koordinatensystem anknüpfen, das im Nahen und Mittleren Osten weitaus verbreiteter ist, als die Sympathie für den radikalen Islamismus. Bin Laden wird hier allein deshalb von vielen geschätzt, weil er Macht und Arroganz der USA mutig entgegen trete.

Für alle radikalen Gruppen gilt, dass sie sich weniger in ihrer Ideologie vom gemäßigten politischen Islam oder den Predigern unterscheiden, als vielmehr in der Wahl der Waffen. Sie stellen insofern eine Gegenreaktion auf den in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher dominierenden Kurs des moderaten Islamismus dar. Auch dieser lehnt zwar (zumindest äußerlich) die bestehenden Ordnungen ab, erklärt aber, diese durch Integration von innen her verändern zu wollen. Deutlich wird dies in den Stellungnahmen, mit denen sich die Muslimbrüder von politischer Gewalt abgrenzen (www.ummah.uk/ikhwan).

Die Abwendung der Radikalen von der “falschen” Ordnung ist dagegen total. Gewalt betrachten sie als legitimes Mittel zu ihrer Bekämpfung. Ihre Feinde sind zuallererst die Vertreter der eigenen politischen Elite, die vom wahren Islam abgewichen und sich dem Westen angedient hätten. Der Mörder des ägyptischen Präsidenten Sadat bezeichnete diesen als “Gotteslästerer des Islam, der an den Tischen des Zionismus und des Imperialismus speist”. Meist geht diese Ideologie der radikalen Gruppen auf den Muslimbruder Sayyid Qutb zurück, von dem auch Bin Laden maßgeblich beeinflusst worden sein soll.

Trotz ihrer ideologischen Gemeinsamkeiten und trotz des Umstands, dass keine der radikalen Gruppen eine mehr als rudimentäre politische Programmatik vorzuweisen hat, gilt es zwischen ihnen zu unterscheiden. Stets ist nämlich ihr jeweiliger lokaler Kontext ausschlaggebend für ihre Erscheinungsformen. Oft stehen nationalistische Interessen hinter dem religiös legitimierten bewaffneten Kampf. Das Ziel der auf den Philippinen oder Indonesien – teils eher als Banden operierenden -Gruppen wie z.B. Abu Sayyaf ist die Unabhängigkeit einzelner Regionen. Dies gilt in ähnlicher Weise für den bewaffneten Islamismus in Kaschmir, Tschetschenien oder Bosnien.

Auch bei der palästinensischen Hamas, einem radikalen Ableger der Muslimbrüderschaft, spielt ein religiös verbrämter Nationalismus die Hauptrolle in ihrem Jihad gegen Israel. Den Nationalismus präsentiert Hamas als Teil des islamischen Glaubens. Während dabei der religiöse Flügel vom heiligen Boden Palästinas schwadroniert, konzentriert sich der politische auf die nationale Frage. Beiden ist aber ein Ziel gemein: “ending Israel”. Einen internationalen Kampf lehnt Hamas hingegen entschieden ab - ihr geht es allein um Palästina (www.cdn-friends-icej.ca/isreport/hamas; www.palestine-info.com/hamas). Neben der kompromisslosen Bekämpfung Israels ist es vor allem der Aufbau sozialer Netzwerke, der für die Popularität der von Saudi-Arabien finanziell gestützten Hamas sorgt. Das gilt auch für die libanesische Hizbullah.

Feind der ägyptischen radikalen Gruppen wie Al Jihad ist die “unislamische” Regierung in Kairo. Attentate gegen Touristen zielten hier weniger auf die Bekämpfung westlichen Einflusses als auf die Destabilisierung des Landes, das von den touristischen Deviseneinnahmen abhängig ist. Solche Attentate waren in Ägypten extrem unpopulär. Seitdem haben hier kaum noch terroristische Aktionen stattgefunden. Viel mehr noch als in Ägypten fungiert der Islamismus in Algerien wie auch auf den Philippinen, in Indonesien oder den zentralasiatischen Staaten vor dem Hintergrund des Zerfalls von Staatlichkeit als Gemeinschaftsideologie. In solchen Regionen, die vom Weltmarkt abgehängt werden, hat er wie andere Ideologien kollektiver Identität Hochkonjunktur. Das trifft auch auf Afghanistan und die Mudjaheddin-Gruppen, insbesondere die erz-traditionalistischen paschtunischen Taliban zu. Raubökonomie und repressive Gemeinschaftsideologie sind ihre Hauptmerkmale.

 

Der Kopf der Schlange

Nicht nur die Angriffe auf WTC und Pentagon verdeutlichen vor diesem Hintergrund die Ausnahmestellung von Al Qaida innerhalb des radikalen Spektrums. Deren Existenz ist zudem ein Ausdruck der Schwäche der regionalen radikalen Bewegungen. Diese werden in den meisten Ländern scharf verfolgt und genießen wegen ihrer Radikalität kaum noch Unterstützung in der Bevölkerung. Viele Glaubenskrieger haben sich daher abgesetzt und begründeten in Afghanistan, Pakistan, Tschetschenien oder Bosnien den internationalen Jihad-Islam. Im Unterschied zu allen anderen Gruppen ist dieser “heimatlos”. Ihn zu vernetzen, war “die Idee” von Bin Laden. Heute laufen, glaubt man den internationalen Geheimdiensten, die meisten Fäden des internationalen Jihad-Islams bei Al Qaida zusammen, das in ca. 50 Staaten agieren soll. Bin Laden gab den Jihadisten die materiellen Ressourcen, um ihren Kampf auf internationaler Ebene fortzusetzen. Im Vergleich dazu erscheinen die lokalen Gruppen, mit denen Al Qaida teilweise in Verbindung steht, archaisch. Allein Al Qaida ist sowohl willens als auch in der Lage, ihre gemeinsame Ideologie - und das ist vor allem Hass auf den Westen - in Taten umzusetzen. Ihre Anschläge betrafen im Unterschied zum Terror aller anderen Gruppen, der sich gegen eigene nationale Regime, gegen “Besatzungsmächte” oder schlicht gegen die Bevölkerung richtete, ausnahmslos US-Einrichtungen (in Somalia, Saudi-Arabien, Tansania, Kenia und den USA).

Der Hass auf die USA und das saudische Königshaus sind die treibenden Momente im Denken von Bin Laden. Die Präsenz von US-Truppen in Saudi-Arabien seit dem Golfkrieg spielt dabei eine zentrale Rolle. Und mit dieser Einschätzung steht er nicht allein. So schrieb die liberale libanesische Zeitung As Safir, dass Saddam Hussein wohl ein Verbrechen an Kuwait verübt habe, die saudische Königsfamilie allerdings ein viel größeres an der arabischen Welt, als sie die Imperialisten eingeladen habe. In seiner Agitation gegen “Juden” oder “Zionisten und Kreuzfahrer” appelliert Bin Laden an diesen anti-kolonialen Demütigungsreflex. Sein proklamiertes Hauptziel ist die “Befreiung” der „islamischen Welt“ von den USA. Konkret bezieht er sich vor allem auf Saudi-Arabien, die Sanktionen gegen den Irak und den Palästinakonflikt: Israel müsse als “Kopf der Schlange Amerika abgeschlagen werden”.

 

Rächer des Kollektivs

Die Al Qaida-Kämpfer fantasieren sich als Rächer für das an den Muslimen insgesamt begangene Unrecht. Als solche sind sie die extremste Form des “islamischen Arguments”, das in seinen verschiedenen Facetten Alltagswissen, im Islam der Gelehrten und Prediger, in der Instrumentalisierung durch die Regierungen sowie im Islamismus der Integration und des Terrors - in engstem Zusammenhang mit der Geschichte der westlichen Interventionen steht. Orientalismus und Kolonialismus sollten daher nicht aus dem historischen Gedächtnis und aus der aktuellen Auseinandersetzung mit dem Islamismus entfallen - sie sind prägend für jeglichen islamischen Diskurs und die islamistische Ideologie.

Diese wird zudem immer wieder befördert durch militärische Interventionen, die in schlechtester kolonialer Tradition im Namen von Zivilisation, Demokratie und Menschenrechten geführt werden, sich aber allzu offensichtlich am wirtschafts- und machtpolitischen Kalkül ausrichten. Welchen Grund, so fragen sich viele in der arabischen Welt, gebe es sonst dafür, die von ihnen verachtete saudische Despotie zu hofieren, die Bevölkerung des Irak aber mit Krieg und todbringenden Sanktionen zu überziehen? Und warum wurden die Rechte der afghanischen Frauen erst entdeckt, als der Krieg gegen die Taliban gerechtfertigt werden musste? Die interessengeleitete Anwendung der zivilisatorischen Ideale trägt wesentlich dazu bei, dass diesen nebst ihren Vertretern mit anhaltendem Misstrauen begegnet wird. Ein ums andere mal dient das Agieren des Westens zur ideologischen Rechtfertigung der “islamischen Antwort” - vom alltäglichen Demütigungsreflex über islamische Identitätspolitik bis hin zum Terrorismus.

Die Ideologie des wie gesehen überaus wirkungsmächtigen “islamischen Arguments” ist indes durch koloniale und postkoloniale Unterdrückung nicht objektiv legitimierbar. Zum einen sind es  selten die Verdammten dieser Erde, die sich aus den Slums von Kairo, Algier oder den palästinensischen Flüchtlingslagern mit Terror und Vernichtungsdrohung zu Wort melden. Und zum anderen gibt es für Verschwörungstheorien, Gemeinschaftsideologie, Märtyrerkult und Antisemitismus keine “Begründung”, auch keine historische. Sie alle stellen zutiefst reaktionäre und bedrohliche Antworten auf vergangene wie gegenwärtige, eingebildete wie reale Leidenserfahrungen dar.

Anmerkung:

1 Mit Islamismus soll die politische Bewegung des sogenannten 'islamischenFundamentalismus' bezeichnet werden. Der Begriff des "Fundamentalismus"führt in die Irre, weil er suggeriert, dass die "Fundamentalisten" tatsächlich ihre politische Programmatik aus den unveränderlichen religiösen Fundamenten (Koran und Sunna) beziehen. Das entspricht zwar ihrer Ideologie, nicht aber der Wirklichkeit.

Jochen Müller

* 1963; Islamwissenschaftler; Redakteur und freier Journalist, Freiburg;

wonnhalde@aol.com


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