Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 4/2003

 

 




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Russland: Juniorpartner Amerikas oder Mitgestalter einer multipolaren Weltordnung?


Peter W. Schulze* 

Russland ist unter Putin zu einem ernst zu nehmendem Partner für die Gestaltung der künftigen Welt geworden. Der Primat der wirtschaftlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Modernisierung hat das Land auf stabilen Kooperationskurs sowohl mit den USA als auch mit Europa gebracht, wobei es sich jedoch den unilateralistischen Ansprüchen Amerikas widersetzt.

Die russische Politik hat ihre Chance genutzt, die sich nach dem terroristischen Angriff auf das World Trade Center bot. Russland wurde zum Verbündeten der westlichen Staaten- und Wertegemeinschaft im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Und noch erstaunlicher, sogar Russlands Allianz mit den beiden wichtigsten europäischen Ländern, Frankreich und Deutschland gegen die amerikanische Kriegspolitik im Irak hat die amerikanisch-russischen Beziehungen nicht nachhaltig beschädigt. Betrachtet man die US-Reaktion auf die europäische Ablehnungsfront genauer, so fällt auf, dass sich die amerikanische Kritik am Verhalten der russischen Politik erstaunlich zurückhielt und eigentlich mehr zum Verständnis neigte. Entsprechend reagierte auch die russische Politik im nachhinein: Nicht Washington wurde zum Adressaten kritischer und ironischer Nachfragen ob des Verbleibs irakischer Massenvernichtungswaffen, sondern der englische Premierminister bei einer Staatsvisite in Moskau.

 

Russlands Rückkehr aus der weltpolitischen Isolation

Russland ist nach einem zehnjährigen Transformationsprozess, in dem unter schwierigsten Bedingungen die marktwirtschaftlichen und demokratischen Fundamente, Institutionen und gesellschaftlichen Kräfte entstanden, als Handlungssubjekt in die internationale Politik zurückgekehrt. Das zurückliegende Jahrzehnt wird von außenpolitischen Experten des Landes oft als verlorene Dekade charakterisiert, in der Russland sowohl Opfer der westlichen Unschlüssigkeit als auch der eigenen innenpolitischen Wirren, die sich im russischen Außenverhalten wider-spiegelten, war. Bis zum Ende der Dekade gab es im außenpolitischen Entscheidungsprozess eine Vielzahl von Institutionen und Akteuren, so dass eine klare Zuordnung der Entscheidungs-kompetenz nicht immer erkennbar war. Losgelöst von den realen wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten des Landes dominierten ideologisierte und widersprüchliche Wunschbilder über euroasiatische strategische Partnerschaften und russische Sonderwege. Das Land geriet in Gefahr, im Zuge der Konflikte auf dem Balkan und der Osterweiterung der NATO international marginalisiert zu werden.

Aber auch auf Seiten der Europäischen Union kann von einer realistischen und stringenten Russlandpolitik, die über wohlmeinende Kooperationserklärungen oder perspektivisch angesiedelte Zukunftsprojekte, seien es die "Euro-Trassen" oder die "Nördliche Dimension", hinausging, erst mit der Kölner Deklaration vom Juni 1999 gesprochen werden.[1] Innenpolitische Stabilisierungserfolge und die imposante Dynamik russischen Wirtschaftswachstums haben seither zwischen der EU und Russland einen leidlich gleichberechtigten Dialog über konkrete Kooperationsprojekte ermöglicht.


Der Primat der innen- und wirtschaftspolitischen Modernisierung wird zur Triebfeder der Außenpolitik.

Ähnlich schwankend und ungeklärt blieb auch die amerikanische Russlandpolitik in der zurückliegenden Transformationsperiode. Von der Instrumentalisierung Russlands als potenziellen Bundesgenossen gegen China bis hin zur These, dass auch eine Welt ohne Russland vorstellbar wäre, oder dass das Land den Herausforderungen der Transformation unter den Bedingungen fortschreitender Globalisierung ohnehin nicht gewachsen sei und daher aller Wahrscheinlichkeit nach in mehrere souveräne Teilrepubliken zerfallen werde (Zbigniew Brzezinski), reichten die Zukunftsszenarien Washingtons. Erst seit den Ereignissen des September 2001 und noch mehr im Zuge der beginnenden Irak-Kampagne bemühte sich die Bush-Administration um vertiefte partnerschaftliche Beziehungen zu Moskau.

Das amerikanische Werben löste in Kreisen des außen- und sicherheitspolitischen Establishments Russlands zwiespältige Reaktionen aus. Nicht vergessen war einerseits, dass westliches Zaudern bereits einmal, Anfang der 1990er Jahre, zum Faktor politischer Frustration und anti-westlicher Stimmung unter russischen Intellektuellen geworden war. Hoffnungen auf eine schnelle Aufnahme des Landes in Kernorganisationen der westlichen Gemeinschaft wurden damals arg enttäuscht. An Stelle der Integration sah man sich mit einer doppelten Ausgrenzungsstrategie (Osterweiterung der Nato und der Europäischen Union) konfrontiert. Andererseits dominierten in außen- und sicherheitspolitischen Expertenkreisen Vorstellungen, dass für die Nuklearmacht Russland gute Beziehungen zu Europa zwar wichtig seien, dass es aber in der Sicherheitspolitik eigentlich nur darum gehe, mit den USA eine Allianz einzugehen. Nur über eine solche geostrategische Partnerschaft mit der hegemonialen Supermacht könne die Wiederetablierung Russlands als Großmacht erfolgreich auf den Weg gebracht werden. Die Annäherung Russlands an Europa war dieser Einstellung nicht fremd, aber die Europäische Union wurde primär als Wirtschaftsverband gesehen.

Parallel zu dieser "atlantischen Tendenz" bahnte sich gegen Ende der 1990er Jahre, noch während der Krieg auf dem Balkan tobte, und trotz der fortschreitenden Osterweiterung der NATO, in Teilen der außen-, sicherheits- und kommunikationspolitischen Elite des Landes ein Paradigmenwechsel an, der vollends mit der Präsidentschaft Putins vollzogen wurde. Eine "europäische Strömung" entstand, die weniger den Großmachtsgedanken und mehr die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Russlands im Kontext der Europäischen Integration betonte. Russland sollte seinen Platz unter den fünf wichtigsten Industrieländern der Welt einnehmen.

Dieser Paradigmenwechsel überlagerte und eliminierte aber nicht die "atlantische Strömung". Beide Denkweisen bestanden konfliktfrei nebeneinander her. Eine Erklärung dafür kann vielleicht darin liegen, dass mit fortschreitender wirtschaftlicher Erholung und politischer Stabilisierung des Landes die russische Politik wieder ein Mehr an Handlungsspielraum und Gestaltungsfähigkeit erlangte. Das alte, noch aus der Sowjetzeit stammende Trauma der Marginalisierung und Isolierung in Europa schwächte sich ab. Gleichermaßen ging auch die Abhängigkeit von externen Einflussnahmen zurück und das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, die Transformation des Landes erfolgreich zum Abschluss zu bringen, wuchs. Diese Entwicklung spiegelte sich in der Dynamik der Wirtschaftsbeziehungen mit Ländern der Europäischen Union wider. Sie stand zwar den Vorstellungen von der Wiederherstellung russischer Großmacht, eingebettet in die strategische Partnerschaft mit den USA, nicht entgegen, rückte aber eine andere Perspektive in den Vordergrund, nämlich die des wirtschaftlichen Wohlstandes und der politischen Stabilität als Voraussetzung für das internationale Ansehen des Landes. Frühere Vorstellungen, die besonders unter dem damaligen Außen- und späteren Premierminister Ewgenij Primakow florierten, nämlich dass Russland sich für eine multipolare Weltordnung einsetzen solle, dass es als Alternative zur Westintegration die Option eines russischen Sonderwegs oder auch einer euro-asiatischen Allianz mit China, Indien und anderen Staaten des pazifischen Raumes gebe, verloren an Überzeugungskraft.

 

Die Irak-Krise: Feuertaufe der neuen russischen Außenpolitik

Das militärische Vorgehen der "Koalitionäre" unter Führung der USA und Großbritanniens gegen den Irak manövrierte auch die russische Politik in eine diffizile Lage. Sie wurde mit dem Dilemma konfrontiert, das sie unter allen Umständen vermeiden wollte: sich zwischen zwei unterschiedlichen Konzeptionen zur Neugestaltung des internationalen Systems entscheiden zu müssen. Irritiert musste Moskau zur Kenntnis nehmen, dass der immer wieder bemühte Vorwurf aus der Ära des Kalten Krieges, die Politik Moskaus sei darauf gerichtet, zwischen die USA und Europa einen Keil zu treiben, ohne eigenes Zutun plötzlich Wirklichkeit wurde. Der Krieg gegen den Irak machte der russischen Politik klar, dass es nicht nur "zwei" Westen gab, sondern dass die amerikanische Version der beiden Europas, des "alten" und des "neuen", auch die Grundlagen der russischen Europapolitik tangierte. Um keinen Preis wollte die russische Politik hier ausweglos in eine Entscheidung gedrängt werden, barg sie doch die Gefahr der Isolierung, der das Land durch den Beitritt zur anti-terroristischen Koalition gerade entkommen war.

Eine Entscheidung für Europa oder Amerika war zudem in der Machtelite umstritten. Einerseits war man sich der Verlässlichkeit der europäischen Partner nicht gewiss. Die politische Handlungsunfähigkeit Europas wurde ja in der Irak-Krise wieder einmal beeindruckend unter Beweis gestellt. Man lehnte das militärische Vorgehen der USA auch nicht prinzipiell ab und man wollte keine Beschädigung der Beziehungen zu den USA.

Andererseits erkannte man, dass die Hegemonialpolitik der USA mit ihren unilateralen Grundtendenzen kaum Möglichkeiten partnerschaftlicher Kooperation bietet. Und als kontinentaleuropäische Macht konnte sich die russische Politik auch nicht den Argumenten der europäischen Kriegsgegner verschließen. Sie teilt die Sorgen europäischer Staaten, dass der vollzogene Paradigmenwechsel in der amerikanischen Politik zu einer fundamentalen und nachhaltigen Veränderung der Kräfteverhältnisse in der Weltpolitik führen und den Bestand internationaler Institutionen und völkerrechtlicher Bindungen aufweichen könnte. Im Lichte dieser Herausforderung sah die russische Politik existentielle Langzeitinteressen bedroht.

Gegenüber ihnen traten auch die beträchtlichen Wirtschaftsinteressen, die Russland im Irak hat, zurück. Diese hätten ein Eingehen auf die amerikanische Politik nicht nur als verständlich, sondern auch vernünftig erscheinen lassen. Denn eine einseitig von den USA dem Irak aufoktroyierte Nachkriegsneuordnung, die weder von den Vereinten Nationen bestimmt noch von der Europäischen Union beeinflusst werden konnte, würde dann auch eher die russische Wirtschaftsinteressen berücksichtigen.


In Kreisen des Moskauer außen- und sicherheitspolitischen Establishments fand der Gedanke Zustimmung, dass die USA als Hegemon der Weltpolitik die erforderliche Legitimation und Verantwortung hätten, sogar "nukleare Entwaffnungskriege" zu führen. Solche Kriege seien legitim, da die Alternative, das Nichtstun, nur zu regionalen Nuklearkriegen mit katastrophalen Folgen für die Weltgemeinschaft führen würde.

Von der russischen Politik wurde also ein schwieriger Balanceakt verlangt. Sie musste sich gegen die hegemonialen Bestrebungen der Bush-Administration positionieren, durfte aber erstens nicht in den Verdacht geraten, einen Keil zwischen Europa und die USA treiben zu wollen, und musste einer letztlich unumgänglichen Entscheidung gegen die USA den Stachel des Antiamerikanismus nehmen. Aber es sollte auch unter allen Umständen vermieden werden, sich allein und einseitig zu exponieren; denn das hätte die Gefahr einer erneuten Isolierung, wie sie in der letzten Dekade bestand, mit sich gebracht. Schließlich wollte man aber auch nicht den Eindruck aufkommen lassen, Russland nutze die Situation zu einer erneuten Auflage der altbekannten "Schaukelpolitik" aus; denn die unter der Präsidentschaft Putin erstmals gewonnene politische Berechenbarkeit und internationale Kooperationsfähigkeit der russischen Politik standen auf dem Prüfstand.

Es bleibt unklar, welche Gründe letztlich für die Entscheidung des Kreml ausschlaggebend waren, und wer sie, abgesehen vom Präsidenten, zu verantworten hat. Eine Abwägung der unterschiedlichen russischen Interessen spricht allerdings dafür, dass die Intransigenz der Bush-Administration der zentrale Punkt war. Sie machte aus der Kontroverse um das optimale Vorgehen gegen das Saddam-Regime einen Konflikt um die Zukunft der UNO und der weltpolitischen Ordnung. Je stärker die Furcht zur Gewissheit wurde, dass das unilateral-hegemoniale Verhalten der Bush-Administration auch die UNO beschädigen würde, desto mehr rückte die russische Politik von ihrem anfänglich pragmatisch-vermittelnden Kurs ab und positionierte sich in der fragilen, anti-hegemonialen Allianz von "Gleichgesinnten".

Im Nachhinein kritisierten außenpolitische Analysten wie Sergej Karaganow[2], Vorsitzender des russischen Council on Foreign and Defense Policy, den russischen Schlingerkurs vor und im Irak-Konflikt. Man sei gerade noch eben an einer Katastrophe vorbeigeschrammt. Vor allem bemängelt Karaganow, dass die russische Politik weder eine klare Konzeption hatte noch strategische Ziele verfolgte und obendrein schlecht koordiniert war. Letzteres unterstreicht auch der Verteidigungsanalyst Pavel Felgenhauer[3], der aber im Unterschied zu Karaganow politisch eindeutig zur Fraktion der russischen "Atlantiker" gezählt werden kann. Die Kritik der "atlantischen" Strömung in der russischen Politik an Putins Entscheidung hielt auch nach Beendigung der Kampfhandlungen an. Sie wurde auch von jenen Gruppen partiell mitgetragen, die auf eine engere und stärkere Kooperation mit der Europäischen Union setzen.

Anders als viele Kriegsgegner beiderseits des Atlantik verwarf die russische Politik das Ziel, mit militärischen Mitteln einen "Regimewechsel" in Bagdad zu erzwingen, nicht aus prinzipiellen Erwägungen. Noch während der ersten Phase des Irak-Krieges fand in Kreisen des Moskauer außen- und sicherheitspolitischen Establishments der Gedanke Zustimmung, dass die USA als Hegemon der Weltpolitik die erforderliche Legitimation und Verantwortung hätten, sogar "nukleare Entwaffnungskriege" zu führen[4]. Das Vorgehen der Bush- Administration, so die Argumentation, sei nur der Auftakt zu einer Reihe von zukünftigen Entwaffnungskriegen gegen potenzielle und tatsächliche Nuklearmächte, also gegen den Iran, gegen Nordkorea, und möglicherweise auch gegen Pakistan. Solche Kriege seien legitim, da die Alternative, das Nichtstun, nur zu regionalen Nuklearkriegen mit katastrophalen Folgen für die Weltgemeinschaft führen würde.[5]

Für die offizielle Politik war es allerdings entscheidend, ob eventuelle Zwangsmaßnahmen gegen den Irak von den Vereinten Nationen völkerrechtlich legitimiert würden oder nicht. Hierin verbirgt sich keine illusionäre Wertschätzung der Vereinten Nationen. Vielmehr kommt eine nationale Interessenlage zum Ausdruck, die sich aus den innenpolitischen und wirtschaftlichen Erfordernissen des Putinschen Modernisierungsprojektes ableitet. Die Modernisierung und Restrukturierung von Gesellschaft und Wirtschaft, die Instandsetzung und der Ausbau der Infrastruktur, die technologische Erneuerung der großen Industrien, die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt, aber auch die verbesserte medizinische und soziale Versorgung der Bevölkerung erfordern verlässliche externe Rahmenbedingungen. Nur unter den Bedingungen eines stabilen internationalen Systems kann die Einbettung der russischen Politik in internationale Kooperationszusammenhänge erfolgreich weitergehen. Und nur so ist zu hoffen, dass der Wirtschaftsaufschwung in Russland sich verstetigt und der gigantische Kapitalzufluss, der für die Realisierung des Putinschen Modernisierungsprojektes erforderlich sein wird, auch erbracht wird. Die Wiederherstellung staatlicher Autorität, die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und die Neuetablierung der russischen Position als verantwortliche und berechenbare Großmacht, die an der Gestaltung des internationalen Systems aktiv Anteil nimmt, sind in dieser Konzeption untrennbar verbunden.[6] Der Primat der innen- und wirtschaftspolitischen Modernisierung wird zur Triebfeder der Außenpolitik.


Russlands Ambitionen lassen sich problemloser mit den europäischen als den amerikanischen Interessen vereinbaren.

Stabilität könnte auch im Fahrwasser einer "Pax Americana" erreicht werden. Aber Russland braucht verlässliche Partner, die ein langfristiges Eigeninteresse an der russischen Entwicklung haben. Dies macht ein Zusammengehen Russlands mit den europäischen Kernländern zu einer plausiblen Option. Trotz aller ihrer Unzulänglichkeiten scheinen die langjährigen multi- und bilateralen Beziehungen Russlands zu Europa, die durch Projekte des Energie- und Transportverbundes und der technologischen Kooperation, u.a. im Rüstungsbereich, eine neue Qualität anstreben, ein wesentlicher Faktor bei der russischen Entscheidungsfindung gewesen zu sein.

Russlands Ambitionen lassen sich problemloser mit den europäischen als den amerikanischen Interessen vereinbaren. Denn auf der Basis einer einmal erreichten internationalen Integration Russlands, einer wiedererlangten wirtschaftlichen Stärke und politischen Stabilität liegt es nicht im europäischen Interesse, Russland die Rolle einer Großmacht streitig zu machen. Im Gegenteil, als flankierender Garant einer europäischen Friedensordnung ist der russische Beitrag willkommen. Der Hegemon USA hingegen könnte die Großmachtambitionen eines wiedererstarkten Russlands als potenzielle Gefährdung seines eigenen unilateralen Handlungsspielraums ansehen.

 

Amerikanischer Unilateralismus, Sinnkrise der Europäischen Union und die neue russische Frage

Es wäre eine fatale Fehleinschätzung, die augenblickliche Politik der Bush-Administration als temporären Ausrutscher überschießender Emotionen im Nachklang der Ereignisse des 11. September 2001 abzutun und im Übrigen auf die Selbstheilungskräfte der großen amerikanischen Demokratie zu vertrauen. Solch eine Hoffnung ist aus europäischer Sicht verständlich, aber vergeblich. Denn die Politik der jetzigen Bush-Administration führt den Paradigmenwechsel in der amerikanischen Politik fort, der seit mehr als zwei Dekaden andauert. Dieser Paradigmenwechsel speist sich aus zwei scheinbar grundsätzlich verschiedenen Strömungen, die des Isolationismus und des Globalismus.[7]

Spezifische Varianten isolationistischen Verhaltens waren als Grundströmung in der amerikanischen Politik schon immer angelegt. Isolationistische Postulate des Rückzuges aus der globalen Verantwortung traten aber im Zeitalter der bipolaren Systemkonfrontation und des Kalten Krieges als politische Option kaum in Erscheinung. Erstmals flackerten isolationistische Gedanken wieder während der 1980er Jahre in der Reagan-Administration auf. Sie hatten aber nun einen gänzlich anderen Inhalt, wie die Diskussionen um die "Strategic Defense Initiative" zeigen.

Als Reaktion auf den moderaten außenpolitischen Kurs der damaligen Carter-Administration formierte sich in der letzten Phase der 1970er Jahre eine schillernde Koalition aus fundamentalistischen, religiösen und traditionell republikanischen Gruppen zur "Neuen Rechten". Hinzu stießen intellektuelle - ehemals liberale - Strömungen des amerikanischen Neokonservatismus, die anti-(wohlfahrt)staatliche Ideologien des Südwestens und Westens aufgriffen und als Novum einen Missionsgedanken einbrachten, der sukzessiv die traditionelle isolationistische Ideologien umdeutete: Rückzug war nicht mehr aus der globalen Politik geboten, sondern aus der kollektiven Gestaltung der Welt in Abstimmung mit anderen Staaten: Die USA müssten aus einer Position der Stärke und Unverletzbarkeit fähig sein, hegemoniale Globalverantwortung zu übernehmen. Zu diesen stark ideologisierten Gruppen stießen Wirtschaftskreise, die früher eher eigene politische Optionen zu realisieren suchten, wie Konzerne aus dem Energiesektor und aus dem internationalen Anlagenbau.

Der Formierungsprozess der Neuen Rechten überspannt mehr als zwei Dekaden. Er erreichte seinen ersten Durchbruch unter Reagan. Aber erst mit dem jungen Bush scheint die Synthese von Isolationismus und globalem Sendungsbewusstsein endgültig vollzogen. Dabei ist der Paradigmenwechsel zur Unilateralität und zur Akzeptanz der Rolle der uneingeschränkten militärischen und politischen Führungsmacht im internationalen System gewiss durch die Ereignisse von New York forciert und beeinflusst worden.

Die Grundvorstellung hegemonialen Sendungsbewusstseins basiert auf der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Fähigkeit zur Durchsetzung nationaler Interessen und Ziele. Der hegemonial begründete Unilateralismus legitimiert sich selbst. Daher die Abwehr von Kontrolle und Überprüfung durch internationale Institutionen, völkerrechtliche Regelwerke oder Bündniskonstellationen.[8]

Weil aber die amerikanische Sicherheitsdoktrin weit über die Selbstverteidigungsrechte einer souveränen Nation hinausgeht und, falls erforderlich, auch gegen den Willen und ohne die Mitwirkung von Bündnispartnern oder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nationale Interessen mit militärischen Mitteln durchzusetzen sucht, stellt sie nicht nur die Existenz der Vereinten Nationen, sondern auch die Existenz von Bündnissen in Frage und wird, falls sie nicht eingehegt wird, quasi von außen die europäischen Bemühungen um eine eigene außen- und verteidigungspolitische Identität befördern.

Die Irak-Krise, der außenpolitischen Paradigmenwechsel der Bush-Administration und der damit zusammenhängende Bedeutungsverlust der NATO haben die Sinnkrise der Europäischen Union evident gemacht. Die großen europäischen Zukunftsprojekte, nämlich die politische Einheit und die Schaffung einer außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähigen Union mit eigener Identität stehen heute auf dem Prüfstand. Eine Dekade europäischer Integration und Identitätssuche, die mit dem Vertrag von Maastricht begann, wird hinterfragt. Darüber hinaus präsentiert sich Europa führungslos: Deutschland und Frankreich scheinen die Legitimation zur Führung verloren zu haben. Sie laufen Gefahr, in die Minderheit zu geraten.


Die Tatsache, dass Russland als verantwortlicher und berechenbarer Akteur wieder an der Gestaltung des internationalen Systems Anteil nimmt, wirft für die Europäische Union und für die NATO die existenzielle Frage auf, was die Raison d'être einer europäischen sicherheitspolitischen Politik ist, wenn Europa auf dem Kontinent nicht mehr bedroht ist und international von den USA nicht mehr gebraucht wird.

Die anstehende Osterweiterung wird das Problem noch verschärfen, denn die neuen Mitgliedsländer wollen keine politische Union. Sie sehen ihre Sicherheit besser durch die USA gewährleistet (sei es über die Schiene der NATO, sei es durch bilaterale Bündnisse mit den USA) und haben auch gar nicht den Anspruch, als Akteure im Rahmen einer noch nebulösen außen- und sicherheitspolitischen Dimension der EU zu agieren, die zudem von den USA mit Argwohn bedacht wird. Für sie scheint mit dem Beitritt zur NATO und zur EU die Suche nach europäischer Identität abgeschlossen und ihre Sicherheit durch die Pax Americana garantiert. Eine von amerikanischen Vorgaben abweichende Sonderrolle der Europäischen Union widerspricht dieser Grundauffassung.

Das herrschende Motiv für das Drängen der ost- und zentraleuropäischen Länder auf Beitritt zur NATO war, dem "Niemandsland" zwischen Ost und West und der Nähe eines als unberechenbar eingeschätzten Russlands zu entkommen. Die NATO, das sahen sie klarer als die politischen Apologeten einer "neuen" NATO, war der militärische Arm der USA in Europa. Europäische Sicherheit, so ihre Sichtweise, wird in den USA gemacht und der Zweck der NATO war stets "to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down". Der Schutz durch die USA entspricht gewissermaßen einem Sicherheitsreflex, der der traumatischen Erfahrung des Kalten Krieges und der Unterwerfung unter die Blockhegemonie der Sowjetunion entsprungen ist. Aber er hat in Mittel- und Osteuropa seine Priorität nicht verloren. Im Unterschied dazu war der Beitrittswunsch zur Europäischen Union, die wesentlich als Wirtschaftsgemeinschaft angesehen wird, weniger drängend und in den Ländern umstritten.

Die sicherheitspolitischen Aspekte dieser Auffassung werden auch von den "atlantischen" Ländern der alten EU geteilt. Trotz aller Ressentiments, was die Dominanz der USA betrifft, sind "anti-atlantische Positionen" bislang in keinem der EU-Länder, einschließlich Frankreichs, dominant geworden. Denn als Ordnungs- und Schutzmacht verbürgen die USA drei Grunderfordernisse europäischer Sicherheit:

  • Schutz gegen eventuelle Gefahren der Renationalisierung;
  • Absicherung kleinerer Länder, auf dass sie nicht zum Spielball europäischer Machtpolitik werden;
  • Sicherheit gegen eventuelle Unberechenbarkeiten des russischen Entwicklungsweges.

Obwohl jetzt erstmals die objektiven Bedingungen für die Weiterentwicklung und Verwirklichung einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands gegeben sind, setzte paradoxerweise die Diskussion darüber aus. Würde sie geführt, müssten auch die Institutionen und Instrumente der bisherigen Sicherheitsordnung, d.h. aber in erster Linie die NATO und die weitgehend obsolete OSZE, auf ihre Tauglichkeit für die zukünftige Ordnung überprüft und die Rolle der Russischen Föderation darin bestimmt werden. An dieser Diskussion besteht aus unterschiedlichen Gründen nur eingeschränktes Interesse, würden doch Sinnfragen der bestehenden Allianzstrukturen berührt und gegenwärtig unlösbare Streitfragen über die Gestaltung der Europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik losgetreten.

Aber die Probleme bleiben. Die Diskussion über die Rolle Russlands im europäischen Sicherheitskontext, ein Thema, das immer wieder als Versuchsballon am blauen NATO-Himmel erscheint, wird durch die überwölbenden und direkten russisch-amerikanischen Beziehungen der europäischen Diskussion früher oder später aufgezwungen werden. In anderen Worten, die Tatsache, dass Russland als verantwortlicher und berechenbarer Akteur wieder an der Gestaltung des internationalen Systems Anteil nimmt, wirft für die Europäische Union und für die NATO die existenzielle Frage auf, was die Raison d'être einer europäischen sicherheitspolitischen Politik ist, wenn Europa auf dem Kontinent nicht mehr bedroht ist und international von den USA nicht mehr gebraucht wird.[9] Damit werden sich auch die "atlantisch" gesinnten innenpolitischen Gruppen und Staaten in Europa auseinandersetzen müssen.

 

Die atlantische und die trianguläre Option der russischen Außenpolitik

Die neue amerikanische Sicherheitsdoktrin hat der Welt eine Neuauflage der Systemkonkurrenz zwischen zwei normativen Gestaltungsprinzipien der internationalen Politik beschert. Sie ist unvereinbar mit der europäischen Vorstellung einer multilateralen Weltordnung auf der Basis eines weiterentwickelten Völkerrechts und der Vereinten Nationen. Das bringt auch die russische Politik in ein Dilemma. Denn das Land ist aus der sowohl bedrohlichen als auch komfortablen Marginalisierung am Rande Europas herausgetreten und zum Akteur im internationalen System geworden. Russland ist in die europäische Politik integriert worden, aber damit sind die Probleme Europas nun auch die Probleme Russlands. Die russische Politik hat es schwer, eine Stellungnahme in der neuen internationalen Systemkonkurrenz zu vermeiden.

Aber genau das sucht sie zu tun. Sie will eine unberechenbare Schaukelpolitik, die das Land isoliert, vermeiden, will die Beziehungen zu den USA und zu Europa vorteilhaft entwickeln und eine gestaltende Funktion sowohl im atlantischen Dialog als auch in Fragen europäischer und internationaler Sicherheit im Einklang mit den geopolitischen Besonderheiten des Landes übernehmen. Aber sie geht der Frage aus dem Weg, ob sie die gleichberechtigte Sicherheitspartnerschaft und Zusammenarbeit mit Europa sucht oder es vorzieht, gemeinsam mit den USA die hegemoniale Neuordnung der Welt zu betreiben und dabei die Rolle des Juniorpartners zu übernehmen.

Entsprechend der unilateralen Logik der neuen US-Sicherheitsdoktrin kann es für Amerika auch mit Russland nur temporäre Zweckbündnisse, aber keine strategische Partnerschaft geben. Es sei denn, die russische Politik akzeptiert rundweg die Rolle des Juniorpartners, sucht also an die Stelle des alten Europa zu treten, das diese Funktion während der Ära des Kalten Krieges bis zum Ende des Millenniums ausfüllte.

Nun haben neue Strömungen die alten Lager der Jelzin-Ära in der außen- und Sicherheitspolitik aufgelöst und überlagert. Die frühere Polarität zwischen Eurasiern und Westlern gehört schon seit geraumer Zeit der Vergangenheit an. Nicht, dass Ideen eines euroasiatisch orientierten Sonderwegs nicht mehr bestünden. Aber sie haben angesichts der nachhaltigen wirtschaftlichen Erholung des Landes, der Integration wichtiger russischer Industriekomplexe in den Weltmarkt, der fortschreitenden Kooperation/Fusion von russischen, europäischen und amerikanischen Kapitalgruppen sowie der Transformation russischer Holdings zu transnationalen Konzernen weder gegenwärtig noch zukünftig eine wirtschaftliche oder gesellschaftliche Basis. Im Unterschied zu den ideologischen Postulaten der frühen 1990er Jahre stimmen die heute erkennbaren Ziele der russischen Außen- und Sicherheitspolitik weitgehend mit den Interessenlagen gesellschaftlicher Gruppen überein.


Russland ist aus der sowohl bedrohlichen als auch komfortablen Marginalisierung am Rande Europas herausgetreten, aber damit sind die Probleme Europas nun auch die Probleme Russlands.

Im Großen und Ganzen und mit vielerlei Überschneidungen kristallisierten sich in den letzten drei Jahren zwei Hauptgruppen außen- und sicherheitspolitischen Denkens heraus: die "Atlantiker" und die "Triangulären". Beiden gemeinsam ist die Westorientierung. Was sie unterscheidet, ähnelt in gewisser Weise den Auseinandersetzungen in der Europäischen Union zwischen den Anhängern einer transatlantisch verankerten europäischer Sicherheit und den Befürwortern eines eigenständigen europäischen Pfeilers.

Auch Russland hat "atlantische" Denktraditionen, die noch stark von der vormaligen imperialen Vergangenheit geprägt sind. Die russische Fraktion der "Atlantiker" knüpft an diese Tradition an und stellt geostrategische Ziele in den Vordergrund. Fernziel ist die nahezu mythisch beschworene "strategische Partnerschaft" mit den USA, die selbst unter den Bedingungen der Juniorpartnerschaft angestrebt wird. In der hochstilisierten "strategischen" Orientierung gehen post-imperiale, autoritär-zentralistische und isolationistische Strömungen eine merkwürdige Synthese ein, die kaum reale Ziele benennen kann und losgelöst von der sozioökonomischen Realität des Landes scheint. Vorsichtige Unterstützung findet diese Denkschule bei Kapitalgruppen des Rohstoff- und Energiebereichs, in erster Linie einigen Ölkonzernen wie Jukos und Sibneft, die im April 2003 fusionierten und den viertgrößten Ölkonzern der Welt schufen. Es ist bezeichnend, dass der Chef des mächtigen Jukos-Konzerns, Mikhael Khodorkowskij, sich innen- und außenpolitisch seit Jahren geschickt positioniert hat und fast eine "eigene" Außenpolitik betreibt. Zu angelsächsischen Wirtschaftsführern und Politikern hat er in zahllosen internationalen Foren und Konferenzen Verbindungen geschmiedet. So schuf er sich mit der "Open Society Foundation", dem Vorbild von Soros folgend, eine internationale NGO, die aus Washington und London operiert und seine Interessen öffentlich machen kann.[10]

Die "Atlantiker- Fraktion" spiegelt in gewisser Weise die Innenarchitektur der russischen Politik wider. Gemäß ihrer extrem realpolitischen Grundhaltung sucht sie, die hierarchisch-zentralistischen Machtverhältnisse der Innenpolitik als Strukturprinzip auf das internationale System zu übertagen. Auf eine Kurzformel gebracht: die Macht des Präsidenten findet ihr Pendant in der Rolle des weltpolitischen Hegemon. Daneben stehen demokratische Traditionen, wie sie etwa von Jabloko und der Union der Rechten Kräfte repräsentiert werden. Diese politischen Gruppierungen haben sich immer durch eine pro-amerikanische Haltung ausgezeichnet, nicht zuletzt weil sie von dort auch Unterstützung erfuhren.

In der Irak-Krise schlug sich die atlantische Fraktion offen auf die Seite der USA und warnte davor, einseitig im transatlantischen Konflikt die europäischen Kritiker zu unterstützen oder gar eine Mittlerstellung zwischen der EU und den USA anzustreben. Aber die Auseinandersetzung ist, ähnlich wie in Europa, nicht mit dem Irak-Krieg beendet worden. Vielmehr ist über die Grundfrage, welche Rolle Russland in der internationalen Politik spielen soll, eine heftige Auseinandersetzung entbrannt. So monieren sowohl Andrej Piontkovskij als auch Pavel Felgenhauer, die beide der atlantischen Strömung zugerechnet werden können, dass sich Russland ungezwungen in "schlechte Gesellschaft"[11], nämlich in die Frankreichs und Deutschlands begeben und damit ohne Not nationale Interessen aufs Spiel gesetzt habe. Nach wie vor plädieren sie offen für die strategische Partnerschaft mit den USA und gegen Europa. Denn letztlich hätten die USA durch ihr entschlossenes Vorgehen in Afghanistan die russische Südflanke gegen islamistische Terroraktionen gesichert. Die amerikanische Präsenz in Zentralasien wirke für Russland schon jetzt wie ein Schutzschild. Piontkovsky geht noch einen Schritt weiter und greift den russischen Außenminister direkt an. Dieser habe eine abstrakte, mythische Vorstellung von Europa, die nichts mit der Realität gemein habe und auch nicht die spezifischen Eigeninteressen Frankreichs oder Deutschlands berücksichtige. Unterstellt wird, dass beide Länder den Konflikt mit den USA nur aus innen- und europapolitischen Motiven schürten.

Zur "triangulären Fraktion" können all jene Experten und Politiker gezählt werden, die sich von imperialen Nostalgien befreit haben und sich für eine aktive, seinen Möglichkeiten entsprechende, verantwortungsvolle Rolle des Neuen Russland in der internationalen Politik einsetzen. Ihre Orientierung hängt der multipolaren Konzeption als Strukturprinzip der internationalen Beziehungen an. Aber im Unterschied zum früheren Modell Primakows, vermeidet sie die Gefahren einer Schaukelpolitik oder eines Sonderweges. Die "Triangulären" setzen auf eine enge Verbindung des Landes mit der Europäischen Union und auf intensive bilaterale Beziehungen zu ihren wichtigsten Mitgliedsstaaten.

Auf dem Höhepunkt der transatlantischen Auseinandersetzung um den bevorstehenden Irak-Einsatz, schrieb der russische Außenminister Igor Ivanow: "The preservation of a unified Euro-Atlantic community, with Russia now part of it, is of immense importance." Ziel der russischen Politik sei, eine konstruktive Partnerschaft "between my country, Europe and the United States" zu entwickeln.[12] Angesichts des Paradigmenwechsels in der amerikanischen Politik ist dieser trianguläre Gedanke so abwegig nicht. Denn, in einem gedachten Machtdreieck kann Russland zu beiden atlantischen Partnern, zu den USA und zur Europäischen Union, gleichberechtigte Beziehungen entwickeln, d.h. aber auch, in sicherheitspolitischen Fragen vermitteln. Es kann den anti-terroristischen Kampf der USA unterstützen und sich gleichsam den Europäern als Bündnispartner bei der Abwehr unilateraler Militäraktionen der USA andienen. Dabei hat die russische Amerikapolitik einen größeren Handlungsspielraum, wenn sich die Beziehungen zur Europäischen Union partnerschaftlich vorteilhaft entwickeln. Umgekehrt gilt, dass die Sicherheitspartnerschaft Russlands mit den USA auch die russische Position in der Beziehung zur Europäischen Union stärkt. Die russische Dreieckspolitik könnte den USA eine ausgezeichnete Gelegenheit offerieren, die transatlantischen Beziehungen im 21. Jahrhundert neu zu gestalten. Für Russland hingegen zeichnet sich eine wichtige Rolle in der künftigen weltpolitischen Konstellation ab: als Vermittler im transatlantischem Dialog oder als Mitglied einer neuen, nunmehr triangulären, transatlantischen Bündniskonstellation.

Aber eine solche "trianguläre" Konzeption ist nicht voraussetzungslos. Erstens müssen beide atlantischen Seiten Russland als zuverlässigen und berechenbaren Partner anerkennen.[13] Zweitens muss Russland erkennbare Fortschritte bei der Fortführung des Projektes der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Modernisierung wie der Demokratisierung des Landes ausweisen. Die trianguläre Politik ist somit, wenn ihre Prämissen aufgehen sollen, die außenpolitische Entsprechung des innenpolitischen Modernisierungskurses, an dessen Ende die Rekonstituierung Russlands als Großmacht im Konzert der europäischen Demokratien und als Bündnispartner im internationalen Kampf gegen den Terrorismus steht.


[1] Siehe dazu: Russland in Europa, innere Entwicklungen und internationale Beziehungen - heute, Hg. Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln-Weimar-Wien, 2000.

[2] Sergej Karaganow, "Some Lessons From the Iraqi Crisis", in: The Moscow Times, 25.04.2003, S. 8: "It was not clear whether we wanted to ensure that international law was observed, save the UN Security Council, befriend European states and play them off against the United States, or to remain on good terms with America. Any of these objectives could be justified as part of an overarching strategy. But there was no strategy. And the absence of a strategy is not unique to this crisis -- it is true of our foreign policy as a whole." Nur dem persönlichen Eingreifen Putins und der Zurückhaltung des amerikanischen Präsidenten sowie der spezifischen Bagdad-Mission von Ewgenj Primakow sei es zu verdanken, dass die russische Politik nicht mehr Schaden erlitt.

[3] Pavel Felgenhauer, "Kremlin Taking Bad Advice", in: The Moscow Times, 24.04.2003, S. 9. Felgenhauer, der sehr klar seine pro-amerikanische und anti-europäische Position im Irakkonflikt zum Ausdruck brachte, spricht vom vergeblichen Bemühen Gleichgesinnter, auf den Kreml und auf den Präsidenten Einfluss auszuüben, um ihn von der Kritik am militärischem Vorgehen der Bush-Administration abzubringen. Zu den Gleichgesinnten zählt Felgenhauer " A small group of officials - Kremlin chief of staff Alexander Voloshin, Federation Council foreign affairs committee chairman Mikhail Margelov and Putin's foreign policy aide Sergei Prikhodko". Diese hätten vergeblich versucht "to keep alive a pro-U.S. foreign policy". Die "atlantische Fraktion" konnte sich aber nicht gegen die "united forces of the anti-U.S. lobby", nämlich "the Defense and Foreign ministries together with the KGB-successor intelligence community" durchsetzen. Diese hätten faktisch, so resumiert Felgenhauer, "a virtual monopoly on providing Putin with vital decision-making briefing documents".

[4] Interview mit dem Verteidigungsanalysten Pavel Felgenhauer am 28.03.2003 in Moskau.

[5] Ulrich Beck, "Die Legitimitätsfrage. Im Krieg: Krieg gegen ein globales Risiko", in: Süddeutsche Zeitung, 04.04.2003, S. 13, spricht denn auch von einem "Zwitterwesen", nämlich dem "illegal legitimen Krieg".

[6] Vgl. zur These vom Primat der Modernisierungspolitik, wenn auch mit anderen Schluss-folgerungen, Hans-Joachim Spanger, "Zwischen demokratischem Idealismus und sicherheits-politischem Realismus. Russland und der Westen nach dem 11. September", in: Internationale Politik und Gesellschaft 4/2002.

[7] Aus der zahlreichen Literatur zu diesem Thema sei nur auf die sehr geschlossene Arbeit von Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der internationalen Beziehungen, München 2002, hingewiesen.

[8] Schon bei den Militäraktionen im Kosovo wurde sichtbar, was später vollends durch das militärische Vorgehen gegen die Taliban ins Bewusstsein europäischer Politik rückte, dass traditionelle Militärbündnisse ihre Funktion einbüßten. In beiden Kampagnen spielte die NATO nur eine untergeordnete Rolle.

[9] Siehe dazu: "Andrej Piontkowsky, Russia caught between America and Europe", in: The Russia Journal, 06.12.2002, S. 14.

[10] Ein von Khodorkowskij finanziertes Analysezentrum, das "Institut for Applied Analysis/IPA", beschäftigt sich mit gesellschafts- wirtschafts-, und außen- wie sicherheitspolitischen Fragen und hat sich innerhalb kurzer Zeit zu einer relevanten und unabhängigen Quelle der Politikanalyse und Information für russische Elitengruppen entwickelt.

[11] Andrej Piontkovsky, "President in Bad Company", in: The Moscow Times, 18.03.2003, S. 12. Pavel Felgenhauer, "Bush's Brezhnev Doctrine", in: The Moscow Times, 20.03.2003, S. 9, argumentiert bekannt überpointiert, dass eine neue "Bush-Brezhnev doctrine of limited sovereignty may become the basis of international law". In einen Seitenhieb auf die französische und deutsche Politik schiebt er beiden Mächten und Russland den Schwarzen Peter an der Blockierung des Sicherheitsrates zu und charakterisiert die französische Drohung mit dem Veto als "insanity", die letztlich nur eines erreicht habe, "to seriously undermine the authority of the UN and cripple existing international law". "France and Germany have nothing good to offer Russia", argumentiert auch Sergej Markow. "From a pragmatic point of view the main problem Putin has to deal with is Russia's continued isolation. The United States is the only country that can help Putin on this.", in: The Moscow Times, 13.03.2003, S. 4.

[12] Financial Times, 14.02.2003.

[13] Von der triangulären Idee gibt es auch illusionäre Kurzschlussversionen. So argumentierten auf dem Höhepunkt der Irak-Krise russische Experten ernsthaft von der großen historischen Chance, die Russland nun habe, England aus der Position des transatlantischen Mediators zu verdrängen und sich als Retter der transatlantischen Einheit zu präsentieren. Nikolas Gvosdev/Ray Takeyh, "Trans-Atlantic Putin", in: The Moscow Times, 03.03.2003, S. 10. Siehe auch Wladimir Lukin, "The Russian Bridge over the Atlantic, How Can We Unite Europe and America?", in: Russia in Global Affairs, Nr. 1, Dezember 2002, S. 112 ff.

 

Peter W. Schulze *1942;

Politikwissenschaftler; bis vor kurzem Leiter des Moskauer Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung; Consultant, Moskau;
fesmos@dol.ru

 

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