Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 1/2003

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Kurzfassungen:

Claus Leggewie
Globalisierung versus Hegemonie
Zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen

Robert Chr. van Ooyen
Moderner Realismus – auch ein Fall von politischer Theologie
Zu Robert Kagans Thesen

Claus Leggewie

Globalisierung versus Hegemonie
Zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen

Im Verhältnis zwischen Amerika und Europa zeichnen sich drei Szenarien ab. Am wahrscheinlichsten ist ein ins Imperiale gesteigerter amerikanischer Alleingang in Sicherheits- und geoökonomischen Fragen. Die Alternativen sind (a) ein transatlantisches Hegemoniebündnis und (b) ein „Global-Governance“-System, das an die Stelle amerikanischer bzw. westlicher Hegemonie tritt. Letzteres ist – leider – am unwahrscheinlichsten. Nie war eine Supermacht so hegemonial wie die USA heute. Keine Koalition anderer Mächte kann sie daran hindern, eine internationale Ordnung nach ihren Wünschen einzurichten. Aber die Hegemonie äußerst sich nicht nur in überlegener Macht, sondern auch in der Attraktivität amerikanischer Lösungen. Viele folgen dem Hegemonen gerne. Deshalb ist eine weltweite Koalition der Unterlegenen gegen den Überlegenen auch nicht in Sicht. Vielmehr bleibt es bei punktueller Kritik derer, die ansonsten gegen die US-Bereitschaft, Missstände „in Ordnung zu bringen“, nichts einzuwenden haben. Aus amerikanischer Sicht hat es eine gewisse Logik, sich nicht mehr viel um die ohnehin inkonsistenten Präferenzen anderer Regierungen zu kümmern und stattdessen auf jeweils passende ad-hoc-Allianzen zu setzen. Dies verändert insbesondere auch den Stellenwert Deutschlands für die US-Außenpolitik. Aber die künftigen Herausforderungen sind mehr und mehr so, dass ihnen mit imperialer Machtüberlegenheit nicht beizukommen ist. In der Vergangenheit waren die USA stets auf Überwindung der europäisch inspirierten Welt absolut souveräner Nationalstaaten ausgerichtet und setzten dagegen ihre zur Welt hin offene Gesellschaft. Just zu einer Zeit, in der sich die Welt tatsächlich globalisiert und alter Nationalstaatlichkeit mehr und mehr den Boden entzieht, betonen die USA das Denken und Handeln in den Kategorien nationaler Souveränität. Das alte, stets national denkende Europa hingegen hat sich dem globalen Ordnungsgedanken verschrieben. Es ist zu befürchten, dass die „Pax Americana“ keine „Pax“ sein wird, weil die neue amerikanische Machtentfaltung nicht die angemessene Antwort auf die bevorstehenden Bedrohungen ist. Hegemonie passt nicht zur Globalisierung. Der Weltordnungsgedanke, dem Europa neuerdings anhängt, weist den besseren Weg. Aber auch in den USA gibt es einflussreiche Kräfte, die dies so sehen. Mit ihnen gilt es, eine neue transatlantische Allianz zu schmieden.

 

 

Robert Chr. van Ooyen

Moderner Realismus – auch ein Fall von politischer Theologie
Zu Robert Kagans Thesen

Nicht nur Fakten bestimmen die internationale Politik, sondern auch der theoretische Verständniskontext, innerhalb dessen die Fakten interpretiert werden. Dies gilt auch für die provozierenden Thesen von Robert Kagan, der die gegenwärtigen Störungen der transatlantischen Beziehungen als Ausdruck eines grundsätzlich unterschiedlichen Weltbildes interpretiert. Während sich Europa an einem Kantschen Paradies von Frieden  und Wohlstand orientiere, konzentrierten sich die USA auf Machtausübung in der Hobbesschen Welt – Idealismus hier, Realismus dort. Idealistische Vorstellungen zögen sich als Konstante durch die europäische Denktradition, auch bei „modernen“ oder „realistischen“ Denkern wie Marx, Weber oder Popper. Seit einiger Zeit erlebten sie eine Renaissance, die aus der militärischen Schwäche Europas resultiere: Der sicherheitspolitische Illusionismus Europas entfalte sich sozusagen parasitär unter dem US-amerikanischen militärischen Schutzschild, Moral stelle sich als Strategie für Schlappschwänze heraus. Mit dieser Analyse erweist sich aber auch Kagan als „politischer Theologe“. Seine Reduktion des Begriffs des Politischen auf die Perspektive der Macht hat mit einem Erfassen von politischer „Wirklichkeit“ nichts zu tun. Sie basiert auf dem Mythos der Souveränität der Macht, schöpferisch und sich selbst erschaffend, und damit quasi-göttlich. Politische Macht ist aber immer bloß menschliche Macht und damit nicht souverän. Wer wie Kagan bestreitet, dass die internationalen Beziehungen durch völkerrechtlichen und politisch institutionalisierte Verfahren „geordnet“ werden können, wer die Moral als eine bloße List der Schwachen denunziert, erfasst politische Realität genauso wenig wie der von ihm kritisierte Idealismus.  

Natan Sznaider

Israel: ethnischer Staat und pluralistische Gesellschaft

Der Staat Israel hat seine internationale Legitimation durch die nach dem Holocaust eintretende Verurteilung des Antisemitismus erhalten. Ohne diese internationale Legitimation kann sich Israel nur auf ethnisch-religiöse Ursprünge berufen, eine Legitimationsbasis, die vom Großteil der Welt nicht akzeptiert wird. Aber auch die vom Holocaust hergeleitete Legitimität des Staates stößt an das Problem, dass die globalisierte Holocaust-Erinnerung die ethnischen Attribute von Tätern und Opfern in Kategorien von Recht und Unrecht neu gefasst hat. Dazu kommt, dass Israel ein "von Feinden umzingelter Staat" ist und die soziologischen Gesetze des „feindlosen Staates“, wie man sie heute in vielen Gesellschaften Europas vorfindet, dort nicht zutreffen. Die spezifische Verknüpfung von ethnisch basierter staatlicher Identität und jüdischer Religion unterscheidet Israel klar von den nachaufklärerischen Staaten des sogenannten Westens. Selbst bei äußerer Gleichberechtigung sind die nicht-jüdischen Bürger vom grundlegenden Selbstverständnis des Staates ausgeschlossen. Der Friedensprozess war nicht nur ein politischer Prozess, in dem zwei Parteien Konfliktbeseitigung betreiben, sondern auch gleichzeitig ein kultureller Kampf der Moderne gegen die Tradition. Die innerjüdischen ethnischen und kulturellen Konflikte sind unter dem Imperativ des ethnischen Staates zu verstehen. Dort sind diese Konflikte integrationsfähig, außerhalb des Ethnos sind sie es nicht. Der Friedensprozess wurde vor allem von dem Teil der Bevölkerung unterstützt, die am meisten Ähnlichkeit mit westlichen „bürgerlichen“ Gruppen hat. Mit ihm ging der Versuch einher, Israel eine säkulare, post-zionistische Identität zu geben. Die sozialen und kulturellen Gegensätze zwischen den verschiedenen jüdischen Bevölkerungsgruppen verschärften sich dramatisch. Aber in der von Gewalt geprägten neuen Wirklichkeit Israels haben es liberale Prinzipien zunehmend schwer. Die Kriegssituation hat die alte, bereits wankende zionistische Identität reaktiviert. Der Konflikt mit den Feinden Israels lässt im Lande keine „Zivilgesellschaft“ im eigentlichen Sinn entstehen, da dies eben eine befriedete Gesellschaft ist. Auch die rechtsstaatlichen Errungenschaften werden abgebaut. Während die Feindschaft der Araber den nationalen Zusammenhalt – auf der Basis einer exklusiven Identität – stärkt, wird diesem Identitätskonzept und den darauf ruhenden politischen Strukturen die Legitimität von außen zunehmend versagt. Um diese Problematik wird sich die Zukunft Israels drehen.  

Uwe Halbach                                                

Erdöl und Identität im Kaukasus

Mit der Auflösung der Sowjetunion kam es in der Kaukasusregion zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer zu vielen mehr oder minder gewaltsamen Konflikten, die alle bis heute nicht beigelegt sind. Diese Konflikte, von denen mehrere das Ausmaß von regelrechten Kriegen annahmen, sind wesentlich auf den Kampf ethnisch definierter Gruppen um Loslösung aus einem bestehenden Staatsverbund zurückzuführen. In der Regel ging und geht es um die Bildung eines eigenen unabhängigen Staates. Im Fall der angestrebten Loslösung Berg-Karabachs von Aserbaidschan gibt es auch die Perspektive des Anschlusses an einen anderen Staat – Armenien. Obgleich aus der identitätspolitischen Wurzel die eigentliche Konfliktenergie entsteht, kommen ökonomische Faktoren konfliktverstärkend, –verlängernd und –verändernd hinzu. Das oft angeführte „Great Game“ zwischen Groß- und Mittelmächten um das kaspische Erdöl und seine Transportrouten spielt allerdings eine untergeordnete Rolle. Nicht nur brachen alle Konflikte in der Region zu einer Zeit aus, als die – mittlerweile auch schon wieder stark zurückgegangenen – kaspischen Erdölphantasien noch nicht politikbestimmend waren. Der Ausgang der diversen Konflikte war auch wenig relevant für die Pipeline-Projekte. Wohl hat die Region durch das kaspische Öl – möglicherweise nur vorübergehend – an geopolitischer Bedeutung gewonnen, aber die Instrumentalisierbarkeit der ethnischen Spannungen zugunsten des einen oder anderen geopolitischen Akteurs hielt sich in engen Grenzen. Eher war das Umgekehrte der Fall: die lokalen kaukasischen Konfliktparteien instrumentalisierten die entstehende Erdölwirtschaft – aber nicht nur sie – für ihre Zwecke. Einerseits heißt das, dass sie mit Hilfe des gewalt-unterstützten Zugriffs auf ökonomische Ressourcen ihre „Sache“ finanziell unterstützten. Andererseits entstanden in den im Zuge der Bürgerkriege zunehmend „staatsfrei“ gewordenen und somit der „Rechtlosigkeit“ anheim gefallenen Räumen kriminelle und quasikriminelle Komplizenschaften zur Selbstbereicherung. Letzteres lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass das Bereicherungsmotiv bestimmend für den weiteren Verlauf der Konflikte wurde. Im Gegenteil: die Konflikte sind bis heute von der Bereitschaft der Akteure gekennzeichnet, für die eigene identitätspolitisch definierte Sache große materielle Opfer in Kauf zu nehmen. In der Tat haben die diversen Kriege und die daran anschließenden „friedlosen“ Pattsituationen zu einem massiven wirtschaftlichen Verfall mit einer entsprechenden Verarmung der Bevölkerung geführt. Überall haben sich Subsistenzökonomien auf niedrigstem Niveau herausgebildet – nicht nur in den rebellenkontrollierten Gebieten, sondern in den betroffenen Staaten insgesamt. Zunehmend ist es der islamische Faktor, der die regionale Anarchie mit der Weltpolitik verknüpft. Er spielt besonders im Tschetschenien-Konflikt eine Rolle: Teile der Rebellen betonen ihre islamische Identität. Russland legitimiert sein – der Moskauer Kontrolle weitgehend entglittenes – Eingreifen als Kampf gegen islamistischen Terrorismus. Darüber hinaus könnten die „staatsfreien“ Räume des heutigen Kaukasus terroristischen Gruppierungen als potenzielle Rückzugsgebiete dienen.

 

 

Andreas Maurer

Less Bargaining – More Deliberation
The Convention Method for Enhancing EU Democracy

Die Entscheidungsprozeduren der Europäischen Union, in deren Zentrum – weitgehend nicht-öffentliche – Verhandlungsprozesse zwischen den Regierungen der Mitgliedsstaaten stehen, sind so bürgerfern, dass ihre Akzeptanz zunehmend auf dem Spiel steht. Aber ein klarer Ausweg ist nicht in Sicht. Denn Mehrheitsentscheidungen nach dem klassischem Muster der repräsentativen Demokratie setzen die Bereitschaft der jeweiligen Minderheit voraus, sich der Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen. Dies kann nur auf der Basis eines grundlegenden Zusammengehörigkeitsgefühls erwartet werden. In anderen Worten: es bedürfte eines europäischen Volkes, eines europäischen „Demos“, den es bislang nicht gibt. Aber ein solcher Demos kann auch durch das gemeinsame Politik-Machen, in dessen Verlauf eine gemeinsame politische Öffentlichkeit gebildet wird, allmählich entstehen. Es käme demnach darauf an, den Prozess der Bildung einer europäischen politischen Öffentlichkeit voranzubringen. Hierzu bietet sich das Konzept der „deliberativen Demokratie“ an, das nicht die Mehrheitsentscheidung in den Mittelpunkt stellt, sondern das gemeinsame Suchen, mittels offenem Argumente-Austausch, nach – möglichst konsensgetragenen – Lösungen für gemeinsame Probleme. In diesem Sinne wird ein politisches Gemeinwesen (eine polity) demokratischer, wenn Foren für solches „Deliberieren“ eingerichtet werden. Das „deliberative“ Suchen nach den besten Entscheidungen schafft, wenn es mit breiter Partizipation geschieht, auch jene Öffentlichkeit, die einen demokratiefähigen „Demos“ ausmacht. Im Zuge der Weiterentwicklung der EU wurden in den letzten Jahren bei zwei Gelegenheiten Foren für offenes „Deliberieren“ geschaffen. Eines war die „Convention on the Charter of Fundamental Rights“, die sich von Ende 1999 bis Herbst 2000 traf. Das andere ist die Ende 2001 eingerichtete „Convention on the Future of the Union“. Beide waren bzw. sind damit beauftragt, Empfehlungen für grundlegende Weichenstellungen in der EU-Entwicklung auszuarbeiten – Empfehlungen, die einer Regierungskonferenz (Intergovernmental Conference) zur Entscheidung vorgelegt werden. Die „Konvent-Methode“ weist neue Wege für die Demokratisierung der EU-Entscheidungsprozesse, weil sie jenseits aller Zuständigkeits-Regelungen Mitglieder des EU-Parlaments und der nationalen Parlamente mit Regierungs- und Kommissionsvertretern zu einem intensiven, ergebnisorientierten Meinungsaustausch zusammenbringt. Obgleich sie am Entscheidungsprozedere direkt nichts ändert, eröffnet die Konvent-Methode den Volksvertretern auf EU- und nationaler Ebene die Möglichkeit für eine substanzielle Mitgestaltung der EU-Politik. Die genannten Konvente sind ein erster Schritt, noch kein Durchbruch. Aber das europäische Parlament und die nationalen Parlamente haben es selbst in ihrer Hand, der Konvent-Methode in Zukunft eine größere Rolle zuzuweisen und damit eine substanzielle Demokratisierung der Union voranzubringen.

© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 1/2003