Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 4/2003

 

 




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Wenn Sicherheit unbezahlbar wird
Die schwierige Stabilisierung der ungleichen Welt

Michael Dauderstädt* 

Den westlichen Wohlstandsinseln erwachsen aus den Instabilitäten im Rest der Welt ernsthafte Bedrohungen. Auch die mächtigen USA haben dagegen kein wirksames Rezept. Rentenökonomien und Gewaltmärkte erweisen sich als hoch resistent gegenüber Stabilisierungsinitiativen, die von außen kommen.

 

Die einstürzenden Twin Towers haben die Risikowahrnehmung in den USA dramatisch, in den anderen OECD-Ländern ebenfalls, wenn auch in geringerem Maß, verändert.[1] Freiheit und Wohlstand in den reichen Demokratien erscheinen plötzlich in einem seit dem Ende des Kalten Krieges kaum bekannten Maß bedroht. Und das ist nicht nur Paranoia, sondern leider zunächst vor allem hausgemachte Realität, die sich selbst erfüllende Prophezeiung: Antiterrorgesetze untergraben die bürgerlichen Freiheiten; erhöhte Risikowahrnehmung verändert das Investitionsverhalten, steigert die Kosten globalen Wirtschaftens und senkt die Wachstumsraten bei gleichzeitig stärkerer Beanspruchung der öffentlichen Haushalte.

Die USA vor allem haben die neuen Bedrohungen ernst genommen. Was, wenn die Terroristen das nächste Mal nicht nur Flugzeuge, sondern Massenvernichtungswaffen einsetzen? Die Zahl der Opfer wäre unabsehbar. Auch die Europäische Union listet in ihrem jüngsten sicherheitspolitischen Strategiepapier[2] Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, gescheiterte Staaten und organisiertes Verbrechen als neue wichtige Bedrohungen. Europäische und amerikanische Bedrohungsanalysen[3] konvergieren. In den strategischen Antworten setzen die beiden globalen Akteure zwar unterschiedliche Akzente, aber drängen letztlich auf eine Weltinnenpolitik, in der staatliche Grenzen hinter den Imperativen weltweiter Sicherheit zurücktreten. Sie unterschätzen dabei die Interessen und Konfliktstrukturen, die aus dem fundamentalen Wesensmerkmal der globalen Ungleichheit resultieren.

 

Die bedrohten Wohlstandsinseln

Das Ende des Kalten Krieges und der Konfrontation der Blöcke hat die Akzente der internationalen Konfliktstrukturen kräftig verschoben. Die Angst vor einem menschheitsbedrohenden Nuklearkrieg zweier Großmächte ist einer Unübersichtlichkeit gewichen, in der nur eine Supermacht übrig geblieben ist. Es gibt kaum Staaten, die ernsthaft einen Krieg gegen die mächtigen Wohlstandsinseln erwägen würden. Es fehlt in der Regel nicht nur das Motiv, sondern auch jede Aussicht auf Erfolg. Die wenigen Staaten, die sich aus verschiedenen Gründen als „Feinde“ des Westens oder zumindest der USA sehen oder so gesehen (z.B. Nordkorea, Iran, Syrien, vorher Irak, früher Libyen) und daher „Schurken­staaten“ genannt werden, wären in einem Krieg hoffnungslos unterlegen. Sie könnten das Territorium der Wohlstandsinseln bestenfalls mit einigen Raketen erreichen und müssten dann mit vernichtenden Gegenschlägen rechnen. Denn der Löwenanteil der Massenvernichtungswaffen und geeigneten Trägersysteme befindet sich in den Händen der reichen Demokratien sowie Russlands und Chinas. Meistens rüsten sich die ärmeren Länder des Südens nicht gegen den reichen Norden, sondern gegen Nachbarn, mit denen sie Konflikte haben (Indien - Pakistan; Arabien/Iran – Israel; Nordkorea - Südkorea).

Auch lokale Konflikte in und zwischen armen Ländern hatten zu Zeiten des Blockkonflikts vorzugsweise den Charakter von Stellvertreterkriegen. Die Supermächte und ihre Vasallen unterstützten die „Befreiungsbewegungen“ dort, wo der Gegner herrschte. Heute sind sie oft entideologisiert (bzw. die Ideologie dient als Restlegitimationsschleier) und privatisiert. Dabei haben sich frühere Konflikte oder zumindest die Tätigkeit der Akteure gelegentlich weiter fortgesetzt (z.B. Afghanistan, Angola, Korea).

Statt der gegnerischen Supermacht oder sonstiger fremder Staaten bereiten nun meist andere, asymmetrische Bedrohungen den Sicherheitspolitikern Sorgen.[4] Der 11. September 2001 hat anscheinend eine fatale Verwundbarkeit der reichen Demokratien durch nicht-staatliche, private Gewalt enthüllt. Erleichtert wurde dies nicht zuletzt durch die Globalisierung, d.h. die Erleichterung grenzüberschreitender wirtschaftlicher Tätigkeiten, die eben diese Grenzen weiter verwischt und die staatliche Kontrolle privater Aktivitäten erschwert. Innerhalb dieser gesellschaftlichen, privaten Bedrohungen ist es sinnvoll zu differenzieren[5]:


Der subjektive und flatterhafte Charakter der Risikobewertung gefährdet die nachhaltige Bekämpfung der Ursachen durch die Staatsorgane der Mediendemokratien.

Die aktuell am stärksten empfundenen Bedrohungen gehen von den Feinden der reichen Demokratien aus, die deren Politik oder gar das ganze System und seine Werte ablehnen. Dazu zählen sicher die Terroristen des 11. September. Auch diese Bedrohungen halten sich – trotz aller Schrecklichkeit des 11. September und möglicher Superwiederholungsversuche mit Massenvernichtungswaffen – insofern in Grenzen, als es sich (noch?) um kleine Gruppen handelt, die relativ wenig Unterstützung von Staaten erhalten. Das organisierte internationale Verbrechen, das mit unerlaubten Waren und Dienstleistungen (Schmuggelgut, gefälschten Markenprodukten, Raubkopien, Drogen, Kinderpornografie, Prostitution, Organe, Menschen, „Schutz“-Leistungen etc.) handelt und dabei vor Gewalt nicht zurückschreckt, nutzt dagegen eher das System, da es gerade von seinen Nischen profitiert. Daneben gibt es eine Fülle von Bedrohungen, die von Menschen ausgehen, die erst mal ihre eigenen Überlebensinteressen verfolgen und dabei mit den Werten und Interessen der reichen Demokratien in Kollision geraten, ohne das System umstürzen zu wollen. Dazu zählen z.B. Probleme wie Migration, Seuchen, globale Umweltprobleme, nicht zuletzt als Folge schlecht kontrollierter gefährlicher Technologien (z.B. Kernkraftwerke).

Bei allen Bedrohungen sind die Gesellschaften der reichen Demokratien stark an der subjektiven und objektiven Konstitution beteiligt:

Subjektiv wird ein Phänomen zur Bedrohung, indem die jeweilige Öffentlichkeit, also vor allem die Medien sie so präsentieren. Die Bevölkerung wird regelmäßig mit dem jeweils nächsten Problem konfrontiert (Attentate, Epidemien, Drogen etc.) und je nach medialem Druck sehen sich die von der Wählergunst abhängigen Regierungen genötigt, darauf einzugehen und zumindest scheinbare Erfolge zu produzieren. Dabei spielt das objektive Ausmaß der Bedrohung eine untergeordnete Rolle. Die Anzahl der Opfer von Terrorismus etwa ist relativ gering im Vergleich zu anderen Todesursachen (so wurden 2001 in den USA 13.752 Menschen ermordet, davon etwa die Hälfte mit Handfeuerwaffen)[6], ohne dass etwa diese Ursachen abgestellt würden. Internationale Bedrohungen und ihre Bekämpfung unterliegen der gleichen verzerrten Logik wie die nationale innere Sicherheit, bei der die Ressourcen nicht dort eingesetzt werden, wo die größte Gefahr, sondern wo die größten Ängste sind.[7]

Objektiv beteiligen sich die reichen Gesellschaften daran, die Bedrohungen zu schaffen. El-Kaida ist historisch auch ein Produkt amerikanischer politischer Unterstützung für den antisowjetischen Widerstand in Afghanistan. Die politisch freien Marktwirtschaften bieten den Tätern größere Handlungsmöglichkeiten, da die polizeiliche und soziale Kontrolle der Einwohner relativ gering ist und der Markt zunächst jede wirtschaftliche Aktivität legitimiert (so können Terroristen unentdeckt leben und sich  z.B. in Flugschulen ausbilden). Die Liberalisierung der außenwirtschaftlichen Beziehungen (Stichwort „Globalisierung“) hat diese Handlungsspielräume vor allem für die „unabsichtlichen Täter“ aus armen Ländern zusätzlich stark erweitert. Sie finden Verbündete in den reichen Ländern, vor allem aus ökonomischen Motiven. So sind etwa die Immigranten billige Arbeitskräfte, und die illegalen Aktivitäten sind auch für die kriminellen Helfer in den reichen Ländern lukrativ.

Die Risikobewertung in den reichen Demokratien ist nicht nur ein Produkt medialer Schaumschlägerei. Die Medien prägen vor allem die Wahrnehmung der Wahrscheinlichkeit, mit der ein bedrohliches Ereignis eintritt. Die zweite wichtige Komponente der Risikobewertung sind die Kosten, die beim Eintreten erwartet werden. Eng mit ihnen verbunden sind die Aufwendungen, zu denen eine Gesellschaft bereit ist, um diese Kosten zu vermeiden. Diese spiegeln auch den objektiv hohen Wert wider, den Menschenleben in reichen, demokratischen Gesellschaften genießen. Ein Mensch ist ein Bürger und Wähler und er ist – im Weltmaßstab gesehen – relativ reich. Die Bedrohung ist also vor allem auch in der Hinsicht asymmetrisch, dass Risiken unterschiedlich bewertet werden, weil die Kosten objektiv unterschiedlich sind. Der subjektive und flatterhafte Charakter der so beschaffenen Risikobewertung gefährdet die nachhaltige Bekämpfung der Ursachen durch die Staatsorgane der Mediendemokratien.

 

Die Weltinnenpolitik des Weißen Hauses: Strategie und Realität

Die im September 2002 veröffentlichte nationale Sicherheitsstrategie der USA[8] ist die wahrscheinlich wichtigste programmatische Antwort auf die Herausforderungen des 11. September. Sie reflektiert nicht nur die Betroffenheit des Opfers, sondern auch die Entschlossenheit der Supermacht mit dem größten Spektrum an Handlungsmöglichkeiten. In ihrer Gesamtheit bilden sie das Konzept einer Weltinnenpolitik. Die zentralen Politikelemente der amerikanischen Strategie sind[9]

  • Sich für Menschenwürde einsetzen
  • Allianzen gegen den globalen Terrorismus schaffen und Angriffen vorbeugen
  • Regionale Konflikte entschärfen
  • Die Feinde daran hindern, die USA und ihr Freunde und Verbündete mit Massenvernichtungswaffen zu bedrohen
  • Globales Wachstum durch freie Märkte und Freihandel zu fördern
  • Entwicklung durch Öffnung der Gesellschaften und Demokratisierung zu fördern
  • Mit anderen wichtigen Mächten zusammenarbeiten
  • Amerika sicherheitspolitisch auf die neuen Herausforderungen und Chancen vorbereiten.

Ähnlich wie die amerikanische Containment-Strategie angesichts der sowjetischen Bedrohung nach dem Zweiten Weltkrieg bewegt sich auch die heutige Strategie prinzipiell auf zwei Ebenen, nämlich sowohl in der Staatenwelt als auch in der Gesellschaftswelt.

In der Staatenwelt geht es gegen die „Schurkenstaaten“ die durch fünf Kriterien, nämlich 1. die Ausbeutung ihrer Bürger und Bereicherung der Eliten; 2. die Missachtung des Völkerrechts, Bedrohung der Nachbarn und Verletzung internationaler Verträge; 3. die Absicht, Massenvernichtungswaffen zu erwerben, um andere zu bedrohen; 4. die weltweite Unterstützung des Terrorismus; 5. die Ablehnung der Menschenrechte und die Feindschaft gegen die USA gekennzeichnet sind.[10] Dazu sollen Allianzen mit Staaten, vor allem den anderen größeren Mächten, geschlossen werden, die die Ziele der USA teilen. Regionale Konflikte sollen entschärft werden, da sie von der Hauptfront ablenken.

In der Gesellschaftswelt geht es vor allem gegen den Terrorismus. Dazu wollen die USA weltweit Demokratie und freie Marktwirtschaft durchsetzen, um die Entwicklung zu fördern, Wohlstand und Freiheit zu bringen. Damit geraten neben den Terroristen alle Feinde der Freiheit ins Visier.

Wie schon im Kalten Krieg ist es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, dieses zwar anscheinend gut gemeinte, aber hochkomplexe Zielbündel konsistent zu verwirklichen. Die Konflikte in der Staatenwelt (z.B. die Kriege gegen Afghanistan und Irak) erfordern die Kooperation mit Staaten, die keineswegs die Ziele in der Gesellschaftswelt teilen (z.B. mit Pakistan, Saudi-Arabien, Ägypten, den zentralasiatischen Republiken). Die Ziele in der Gesellschaftswelt kollidieren potentiell mit den Zielen in der Staatenwelt:

  • Demokratien produzieren auch schon mal Mehrheiten, die gegen die amerikanischen Interessen sind (z.B. in der Türkei vor dem Irakkrieg und potentiell künftig im Irak).
  • Das traditionelle amerikanische Vertrauen in die Entwicklungskraft freier Märkte, das schon in der Zeit des Kalten Krieges kaum begründet war[11], kann auch heute mit guten Gründen hinterfragt werden. Wo freie(re) Märkte Ungleichheit, Armut, Arbeitslosigkeit und Krisen verursachen, produzieren sie Verzweiflung und politischen Unwillen, der sich gegen die amerikanischen Vorkämpfer des Systems richten kann, und die allgemeineren Bedrohungen, die aus der globalen Ungleichheit resultieren.

Europas Antwort[12] auf die globalen Bedrohungen sieht die Probleme ähnlich wie das Weiße Haus, wie in dem Papier deutlich wird, das der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Javier Solana, auf dem EU-Gipfel von Thessaloniki im Juni 2003 vorlegte. Schon im Titel „A Secure Europe in a Better World“ deutet sich ein Hang zur Weltverbesserung an. Bei den Lösungen konzentriert sich die EU aber auf ihre Nachbarschaft und bevorzugt multilaterale Politiken und Institutionen. Aber auch für die EU liegt die erste Verteidigungslinie inzwischen im fremden Land selbst. Sie denkt dabei aber weniger an militärische Intervention, die allerdings auch nicht ausgeschlossen wird, als an Krisenprävention. Was ihr gegenüber dem Dokument des Weißen Hauses gänzlich abgeht, ist der ordnungspolitische Dogmatismus und das blinde Vertrauen in freie Märkte.

Die Realität der US-Politik fällt hinter ihre wohlmeinende Programmatik eher zurück. Der Schwerpunkt der Anstrengungen, gemessen am Ressourcenaufwand, lag bisher in der Eroberung des Irak. Die erste Maßnahme im Krieg gegen den Terror, die Entmachtung der Taliban in Afghanistan, hat noch nicht zu der versprochenen[13] Ordnung geführt, die dem afghanischen Volk ein Leben in Freiheit und Wohlstand ermöglicht.[14] Die neue Entwicklungspolitik der US-Administration verspricht eine gewaltige Steigerung der Mittel und eine neue Organisation ihrer Verwaltung. Aber ihre Wirksamkeit bleibt abzuwarten und wird von Kennern der amerikanischen Hilfe bezweifelt.[15]

Der bisherige Höhepunkt der US-Strategie, die Entmachtung Saddam Husseins, entspricht einem der vielen Ziele. Sein Regime erfüllte – vielleicht als einziges in der Welt – die fünf Kriterien, die einen Schurkenstaat charakterisieren, wenigstens oberflächlich. Man kann allerdings nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis bezweifeln, dass er noch funktionsfähige Massenvernichtungswaffen besaß und weltweit den Terrorismus unterstützte. Er hat sicher den palästinensischen Terrorismus gefördert, aber kaum El-Kaida. Es ist schwer zu verstehen und zu erklären, dass er einsatzfähige Massenvernichtungswaffen besessen haben soll und sie nicht eingesetzt hat, als sich sein Regime im letzten Überlebenskampf befand und Tausende von Amerikanern in Reichweite waren.


Die Konflikte in der Staatenwelt erfordern die Kooperation mit Staaten, die keineswegs die Ziele in der Gesellschaftswelt teilen. Die Ziele in der Gesellschaftswelt kollidieren potentiell mit den Zielen in der Staatenwelt.

Der mögliche Nutzwert der Eroberung des Irak liegt bestenfalls in einer langfristigen Neuordnung des Nahen und Mittlern Ostens. Wenn es gelänge, die arabische Welt durch den Demonstrationseffekt eines prosperierenden, demokratischen und friedfertigen Iraks auf den gleichen Weg zu bringen, wäre der Krieg wenn nicht gesinnungsethisch, so vielleicht doch verantwortungsethisch gerechtfertigt. Aber dieser Erfolg hängt daran, die gesamte politische Ökonomie einer autoritär-klientelistischen Rentenwirtschaft durchgängig zu reformieren. Die bisherigen Erfahrungen interventionistischer wie nicht-interventionistischer Entwicklungspolitik lassen allerdings – gelinde gesagt – Zweifel zu. Denn die – im Idealfall wohlmeinenden, häufig leider eher eigennützigen – Anstrengungen der Interventionisten und Geber müssen sich an gegenläufigen Strukturen der Ungleichheit abarbeiten, auf die näher einzugehen ist.

 

Die ungleiche Welt: ein Treibhaus für Unterdrückung und Konflikte

Eine massive Ungleichheit der Einkommen und Rechte strukturiert die bedrohliche Welt. Wie ein Blick in den Weltentwicklungsbericht der Weltbank oder den Bericht über die menschliche Entwicklung des United Nations Development Program zeigt, rangieren die Pro-Kopf-Einkommen zwischen 20.000 – 30.000 Dollar pro Jahr (in Kaufkraftparitäten) in den reichen Demokratien und zwischen dreihundert und dreitausend Dollar in ärmeren Entwicklungsländern. Selbst die Sozialhilfesätze der reichen Länder liegen darüber. Diese Ungleichheit hat in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen. Betrug 1960 das Verhältnis der Prokopfeinkommen der reichsten zehn Prozent zu den ärmsten zehn Prozent noch eins zu vierzig, so lag es 1995 schon bei 1:143.[16]

Die durchschnittlichen Lebenserwartungen schwanken zwischen siebzig und achtzig Jahren bei den Reichen und zwischen 35 und sechzig bei den meisten Armen. Dazwischen liegen eine Menge Länder mit mittlerem Entwicklungsniveau, darunter auch viele arabische Staaten, deren Einkommen um die fünftausend Dollar pro Jahr und deren Lebenserwartung zwischen siebzig und achtzig Jahren liegt.[17] In vielen armen Ländern bringt ein Mensch brutto (vor Abzug der Lebens­haltungs­kosten) über sein gesamtes Leben gerade mal zwischen 17.000 und 150.000 Dollar auf die Wohlstandswaage, während ein durchschnittlicher Reicher um die zwei Millionen Dollar „wert“ ist. Dies ergibt einen Verhältnisfaktor von im Extremfall hundert oder doch meist zehn, der auch nicht durch eine Gleichheit vor dem Gesetz oder als Stimmbürger korrigiert wird.

 

Tabelle 1: Die Ökonomie der Ungleichheit

 

„Der Arme“*

„Der Reiche“*

Verhältnis

Kaufkraft pro Jahr (USD)

1.990

27.450

1 : 13,8

Nominaleinkommen pro Jahr (USD)

420

27.510

1 : 65,5

Lebenserwartung

59

78

1 : 1,3

Nominelles Lebenseinkommen

24.780

2.145.780

1 : 86,5

* Die Zahlen entsprechen den Durchschnittswerten der Länder mit niedrigem und hohem Einkommen, hinter denen sich noch weitere Ungleichheiten verbergen..

Quelle: Weltbank: Weltentwicklungsbericht 2002, S.273

 

Dieses Bild der Ungleichheit ist noch geschönt, denn es beruht auf Zahlen, die das Einkommen in Kaufkraftparitäten messen. Das wenige Geld der Armen kauft in den armen Ländern mit ihrem niedrigeren Preisniveau mehr Güter und Dienstleistungen als in den reichen Ländern. Zu nominellen Wechselkursen sieht das Bild noch düsterer aus. Das Verhältnis von Einkommen in den armen Ländern zu denen in den reichen liegt dann eher bei 1:100 als 1:10. das letztere Verhältnis ist das, was man auch zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und ihren Nachbarn im Osten und im Mittelmeerraum beobachten kann.

Diese gigantischen Unterschiede bei den Einkommen zu Wechselkursen im Vergleich zu Kaufkraftparitäten haben unmittelbare Auswirkungen. Investoren aus den reichen Ländern bewerten die Arbeitskosten zu Wechselkursen. Die winzigen Löhne in den armen Ländern sind für sie wirklich winzig, selbst wenn sie für die dort Beschäftigten besser sind als alternative lokale Einkommen. Umgekehrt ist jedes Einkommen in harten Währungen, das sich an dem Preis- und Wohlstandsniveau der reichen Länder orientiert, in armen Ländern ein Vermögen wert. Das schafft kaum beherrschbare Versuchungen. Die Einnahmen aus Exporten in die reichen Länder, aus Tourismus oder Erdöl, sowie die Transfers von Kapital oder die Rücküberweisungen der Gastarbeiter in den reichen Ländern bewegen in armen Ländern massenhafte Lebenseinkommen.

In vielen armen Ländern hat nicht zuletzt diese Einkommensstruktur eine soziale und politische Struktur hervorgebracht, in der relativ wenige Mitglieder von Eliten die hohen Einkommen kontrollieren, die im Austausch mit der und in den Beziehungen zur reichen Welt entstehen. Sie behalten sie nicht ganz für sich, sondern alimentieren damit klientelistische Netzwerke in ihren Gesellschaften. Sie schaffen eine größere Zahl von Nutznießern, die sie unterstützen sowie ihre Gegner und die von diesem System Ausgeschlossenen in Schach halten. Dagegen halten sich die autonomen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse und Lebensräume, also etwa die Produktion für den eigenen Bedarf mit eigenen Ressourcen in bescheidenem Rahmen. Ihr Wert bewegt sich in den Niederungen der lokalen Einkommen und trägt dazu bei, die Kaufkraft der „internationalen“ Einkommen zu erhöhen. Wo in dieser lokalen Ökonomie wirklich einmal Geld zu verdienen ist, nutzen die Eliten ihre politische Macht, um auch darüber die Kontrolle herzustellen.

Dieselben Eliten vertreten in der Regel auch ihr Land nach außen. Sie haben die relativ gut bezahlten Jobs in der Diplomatie und in internationalen Organisationen. In der UN-Welt haben sie formal fast (Ausnahme: ständige Vertreter im Sicherheitsrat) die gleichen Rechte wie jedes andere Land und sitzen auf Augenhöhe mit den reichen Demokratien. Das ermöglicht weitere Renteneinkommen, wenn man z.B. seine gleichwertige Stimme verkaufen oder die Ströme an öffentlichen Krediten und Hilfe anzapfen kann.

 

Tabelle 2: Die ungleichen politischen Ökonomien – ein idealtypischer Vergleich

 

Demokratische Marktwirtschaft

Autoritäre Rentenökonomie

Regierung

Gewählt, kontrolliert, verantwortlich

Selbsternannte Eliten, ohne Kontrolle und Verantwortung

Status der Einwohner

Wahlbürger mit Rechten

Untertan und Gewaltopfer

Machtwechsel

Wahlen mit hartem Wettbewerb

Erbe, Putsch, Revolution, Regimewechsel

Opposition

Legale Parteien und Zivilgesellschaft, dezentralisierte Macht

Illegale Widerstandsbewegungen, (regionale) „warlords“

Medien

Pluralistisch, kritisch

gleichgeschaltet

Finanzierung der Staatsaufgaben

Steuern

Renten (Zölle, Rohstofferlöse)

Nutznießer der Staatstätigkeit

Tendenziell alle: (wechselnde) Mehrheiten, Minderheitenschutz

Familiäre, ethnische, religiöse oder regionale Patronagenetze
(Vetternwirtschaft)

Haupteinkommensquellen

Arbeit und unternehmerische Tätigkeit

Zugang zu Renten, Staatsjobs, politisch geschützte, vermachtete Marktnischen

Außenwirtschaft

Offen, liberalisiert

Politisch kontrolliert, wichtige Rentenquelle

Es kann kaum überraschen, dass sich viele Menschen gegen dieses Monopol von kaum legitimierter Macht und relativem Reichtum wehren. Sie suchen Ausweichstrategien oder wollen mit Gewalt ihren Anteil am Kuchen erhöhen. Wie eine Weltbankstudie[18] festgestellt hat, erhöhen Rohstoffvorkommen und andere ausbeutbare Gelegenheiten für Renteneinkommen die Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen. Zu den Ausweichstrategien zählt auch die Migration in die reichen Länder. Denn schon ein niedriges Einkommen dort stattet im Ursprungsland viele Menschen mit Kaufkraft aus, ernährt also etwa eine ganze Großfamilie. Die Auswanderung ist oft auch ein Schritt in die Illegalität im Gastland und alimentiert professionelle kriminelle Schlepper- und Schleuserbanden. Direkte Kriminalität wie Raub, Drogenhandel usw. (die oben erwähnten „unabsichtlichen“ Bedrohungen) sind eine weitere Option. Gelegentlich (z.B. in Nordkorea) werden auch die Eliten sich dieser Option bemächtigen, wenn ihnen die anderen Einkommensquellen nicht mehr ausreichen.

In Diktaturen, die keine friedlichen Wege zur Artikulation von Interessen oder Durchsetzung anderer Werte zulassen, erscheint den Unterdrückten gewaltsamer Widerstand oft als einzige und legitime Option. Aber die Übergänge zwischen Freiheitskämpfern, Terroristen und Gewaltunternehmern sind fließend.[19] Auch eine Widerstandsbewegung brauch Ressourcen, nicht zuletzt Geld, und kann sie nur illegal beschaffen. Je mehr sich die gewaltsame (kriminelle, terroristische oder freiheitskämpferische) Option organisiert, desto mehr wird sie zu einer politischen Herausforderung der Eliten. Lokale Kriegsherren versuchen, den alten Eliten auch die Kontrolle über einen Teil der internationalen Einkommen zu entreißen. Es kommt eventuell zum Bürgerkrieg und Staatszerfall. Gewaltunternehmer „regieren“ das Land. Ohne territoriale Kontrolle bieten sich Schutz- und Rückfallräume für alle möglich Aktivitäten, die die reichen Länder bedrohen können, nicht zuletzt für den internationalen Terrorismus. In dem Maß, wie die reichen Länder die Eliten in ihrem Versuch unterstützen, ihr Gewaltmonopol zu erhalten oder zurückzugewinnen, hat der Terror einen zusätzlichen Vorwand, auch gegen die Reichen vorzugehen.


Ohne staatliche Ordnung der Gesellschaft und insbesondere der Wirtschaft entscheidet alsbald die Macht und in schlimmeren Fällen die Gewalt über die Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen.

Im reichen, demokratischen Gegenmodell (siehe Tabelle 2) ist die Welt natürlich auch nicht in Ordnung. Die mühsamen Versuche zur Zähmung des Kapitalismus haben genügend Lücken hinterlassen, die riesige Einkommen durch ererbtes Vermögen, Monopole oder politische Patronage ohne Arbeit oder idealtypisches, innovatives Unternehmertum ermöglichen.[20] Der demokratische Wettbewerb um die politische Macht ist nicht zu trennen von dem darin impliziten Kampf um den Zugang zu den staatlichen Fleischtöpfen. Eine politische Partei in einer Demokratie ist immer auch bis zu einem gewissen Grad ein Klientelsystem, das den Parteimitgliedern Jobs im Staat und den eigenen Wählern Staatsleistungen (öffentliche Güter) zukommen lässt. Die öffentlichen Güter sind letztlich nicht ganz öffentlich, sondern nutzen verschiedenen Bürgergruppen unterschiedlich. So nutzt z.B. ein Polizist oder eine Schule in einem Viertel wenig den Einwohnern eines anderen. Die Märkte (vor allem die von Arbeit, Kapital und grenzüberschreitendem Handel) sind nie frei, sondern rechtlich und politisch geregelt. Diese Regeln verteilen gigantische[21] Einkommenschancen und -risiken um, indem sie unterschiedlichen Marktteilnehmern unterschiedlich nutzen. Auch ohne – de facto stark verbreitete – Korruption und Betrug sind die demokratischen Marktwirtschaften daher weit vom Idealtyp entfernt. Aber die offene Gesellschaft und die Demokratie sind permanente Korrektive, die durch realen oder potentiell drohenden Machtwechsel die gröbsten Auswüchse in der Regel früher oder später beseitigen, bisher vernachlässigte Interessen zur Geltung bringen und damit gewaltsamen Konflikten vorbeugen.

Wenn die – leider auch partiell deformierten – reichen, demokratischen Marktwirtschaften versuchen, die armen, autoritären Rentenökonomien zu reformieren, treten unweigerlich massive Schwierigkeiten auf. Im Falle der dogmatischen Strategie des Weißen Hauses mit ihrem Versuch, in der Gesellschaftswelt Marktwirtschaft und Demokratie von außen durchzusetzen und in der Staatenwelt Wohlverhalten zu erzwingen, verdoppeln sich die Risiken.

 

Stabilisierung der Gesellschaftswelt 1:
Entwicklung durch freie Märkte?

Die emphatische Betonung der Freiheit in der US-Programmatik weist die üblichen Probleme auf. Freiheit nutzt dem Mächtigen zuerst. Dessen Freiheit schränkt die der Schwächeren ein. In der amerikanischen Sicht besteht diese Gefahr aber vorzugsweise, wenn nicht gar ausschließlich, aus einem zu starken Staat, der die Freiheit der (grundsätzlich unternehmungslustigen) Gesellschaft beschneidet. Aber ohne staatliche Ordnung der Gesellschaft (beginnend mit dem Gewaltmonopol) und insbesondere der Wirtschaft, also der Märkte, entscheidet alsbald die Macht und in schlimmeren Fällen die Gewalt über die Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen. Werden etwa Eigentumsrechte nicht geschützt, kann sich eine Unternehmer- und Arbeitsökonomie nicht entwickeln.[22] Gleichzeitig bedarf die staatliche Macht der gesellschaftlichen Kontrolle, um zu verhindern, dass sie einseitig zugunsten bestimmter Personen oder Gruppen eingesetzt wird. Aber viele, gerade arme Gesellschaften leben mit Gewaltmärkten statt Gewaltmonopol[23] in einer Grauzone partiell privatisierter (Staats)gewalt, die vermachtete Märkte im Interesse von Eliten kontrolliert. Der Übergang zu einem gerechteren marktwirtschaftlichen System kann nicht allein in der Öffnung der vermachteten Märkte bestehen, sondern bedarf eines gleichzeitigen politischen Wandels.

Der unter Berufung auf den „Sieg“ im Kalten Krieg unverhohlene Triumphalismus der US-Programmatik[24] hinterlässt angesichts der realen Entwicklung in der postkommunistischen Welt einen bitteren Geschmack. Die Entmachtung der Staatsapparate und die Öffnung der Märkte haben selbst da, wo sie überhaupt stattfanden, zu sehr gemischten Resultaten geführt. Selbst in den reformfreudigen Musterländern Mitteleuropas haben Armut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Unsicherheit und private Gewalt zugenommen und die Wachstumserfolge sind unstetig und bescheiden. Der westliche Balkan und der Kaukasus ist von einer Welle von Gewalt und Bürgerkriegen überrollt worden, deren ethnische Hülle ihren ökonomischen Kern kaum bedeckt. Russland erlebt einen Kapitalismus, in dem Oligarchen die wichtigen Rentenquellen der Rohstoffexporte ebenso kontrollieren wie Teile des Staatsapparats.

Die Geschichte der Versuche, gescheiterte Staaten von außen neu aufzubauen und zu entwickeln, weist nur wenige Erfolgsfälle auf. Deutschland, Italien und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg zählen dazu.[25] Sie konnten sich nicht nur auf günstige gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen im Innern stützen, sondern auch auf eine amerikanische Hilfe von bewundernswerter Weitsicht. Der Marshallplan und die weltwirtschaftliche Ordnung von Bretton Woods schufen externe Rahmenbedingungen, die einen beispiellosen Entwicklungsprozess ermöglichten. Die amerikanische Weitsicht verdankte sich dabei dem Bewusstsein, dass die geostrategische Konfrontation mit dem kommunistischen Block nur zu gewinnen war, wenn die Frontregionen in Ostasien und Westeuropa stabilisiert würden. Südkorea und Taiwan und die übrigen kriegsgeschädigten Länder Westeuropas konnten ähnliche Erfolge wie Japan und Deutschland aufweisen. Trotz aller liberaler Rhetorik waren diese Erfolge aber nicht einer „freien Marktwirtschaft“ geschuldet, sondern Entwicklungsmodellen, die sich in verschiedener Weise massiver politischer Eingriffe und Regulierungen bedienten, die nicht zuletzt die außenwirtschaftliche Einbettung der jeweiligen Volkswirtschaften kontrollierte.

Seitdem sind die Erfolge deutlich seltener geworden. Der Zerfall des Bretton-Woods-Systems und die Globalisierung mit ihrer Deregulierung internationaler Transaktionen gingen einher mit geringeren Wachstumsraten der Weltwirtschaft. Trotz immer wieder erneuerter entwicklungspolitischer Anstrengungen (mehrere Wellen institutioneller und strategischer Innovationen) fielen zahlreiche Lände eher zurück. Auch der seit Beginn der 1980er Jahre vorherrschende marktwirtschaftlich inspirierte Ansatz zeichnete sich wegen inhärenter Schwächen und Durchsetzungsproblemen zwischen Geber- und Empfängerländern kaum durch spektakuläre Erfolge aus.[26] Der größte Fortschritt in der globalen Armutsbekämpfung kam in China unter Bedingungen zustande, die auch kaum dem liberalen Credo entsprechen. Das Ende des Kalten Krieges schien nochmals eine Wende zu bedeuten: Zum einen waren sozialistische Modelle erst einmal diskreditiert. Zum anderen verloren geopolitische Beschränkungen an Gewicht, die entwicklungsfeindliche Regime geschützt hatten. Die Akteure und Analytiker der Entwicklungspolitik kritisierten immer offener diese entwicklungsfeindlichen Interessen von Eliten, die Korruption und die kontraproduktive Politik.

 

Stabilisierung der Gesellschaftswelt 2:
die teuren Protektorate und die erzwungene „Demokratie“<

Nicht zuletzt durch den Wegfall der geostrategischen Zwänge des Kalten Krieges kam es zu einer Proliferation von gewaltsamen Konflikten und Krisen in armen Ländern. Für Europa am bedeutsamsten waren die Bürgerkriege im Gefolge des Zerfalls des jugoslawischen Bundesstaates. Zuerst in Bosnien, dann im Kosovo (und in geringerem Umfang in Albanien und Mazedonien) vollzog der Westen einen entscheidenden neuen Schritt in seinem Stabilisierungskonzept. Er beschränkte sich nicht auf „Hilfe“ von außen, sondern etablierte Protektorate mit robuster militärischer Präsenz in dem Bewusstsein, dass es zunächst darum gehen musste, menschenrechtsverletzende, entwicklungsfeindliche Eliten mit erheblichem Gewaltpotential zu entmachten und ihren Einfluss mittelfristig einzudämmen.

Dabei ist fraglich, wie lange und wie intensiv Protektoratsregime aufrechtzuerhalten sind. Im Falle anhaltender gewaltsamer Konflikte mit Verlusten für die westlichen Interventionsstreitkräfte dürfte eine Fortsetzung des Mandats nur schwer in den reichen Mediendemokratien zu „verkaufen“ sein. Das amerikanische Debakel in Somalia ist dafür ein Beispiel. In dem Maße wie die zeitweiligen „Besatzer“ sich klar als transitorische Produzenten eines öffentlichen Gutes (Sicherheit und Ordnung herzustellen und aufrecht zu erhalten, Eigentumsrechte zu sichern, um die Risiken für lokale und ausländische Unternehmer/Investoren auf ein akzeptables Niveau zu reduzieren) erweisen, dürfte sich der Widerstand in Grenzen halten. Diese objektive Rolle der betroffenen Bevölkerung zu vermitteln, erfordert Geschick[27] und kann angesichts massiver Dominanz von Feindbildern auch scheitern.


Die Geschichte der Versuche, gescheiterte Staaten von außen neu aufzubauen und zu entwickeln, weist nur wenige Erfolgsfälle auf.

Im Grundsatz muss es darum gehen, die übernommenen Funktionen so bald wie möglich in lokale Hände zu legen, die diese Aufgaben aber unparteiisch durchführen müssen und nicht die neuen Gewaltunternehmer im Interesse bestimmter lokaler Gruppen sein dürfen. Dabei dürfen die bisher privilegierten Klienten der alten Eliten nicht summarisch diskriminiert werden. Sie stellen eine wichtige Minderheit dar, die oft über ein Quasimonopol staatstragender technischer und administrativer Fähigkeiten verfügt. Dazu bedarf es einer – leider oft schwierigen – Vergangenheitsbewältigung, die zwischen kriminellen Unterdrückern und lediglich opportunistischen Technokraten unterscheidet. In der postkom­mu­nistischen Transformation Mitteleuropas stellten sich die sozialdemokratisch reformierten Nachfolgeparteien der Kommunisten oft als die entscheidenden Stützen von Reform, Demokratie und Westintegration heraus. Im Irak wird man letztlich auch auf die reformierten, „gesäuberten“ Teile der Baath-Partei setzen müssen, wenn man einen säkularen, sozialen Nationalstaat und keinen islamischen Gottesstaat aufbauen will.

Die Ausübung von Staatsfunktionen und die Produktion öffentlicher Güter wie Sicherheit sind nicht umsonst zu haben. Sie kostet den Lebensunterhalt derer, die den Job machen (Polizisten, Richter, etc.) und der entsprechenden Infrastruktur. Da die Tätigkeit im staatlichen Sektor verbunden mit dem notwendigen Recht, die Gesellschaft mit den Kosten zu belasten, in vielen armen Ländern ein Privileg darstellt, verteilen nicht nur die klientelistischen Eliten diese Jobs an ihre Freunde, sondern versuchen private Gewaltunternehmer, sich ihrer zu bemächtigen. Das Interesse daran steigt umso mehr, je mehr die bestehende Staatsmacht unfähig und/oder schlecht legitimiert ist oder ihre Aufgabe parteiisch zulasten bestimmter Gesellschaftssegmente ausübt. In armen Länder grassiert die Korruption, die nicht zuletzt versucht, die im Vergleich zu den lokalen Einkommen hohen Wertströme der internationalen Sektoren anzuzapfen (die Rohstoffexporte, die ausländischen Investoren etc.).

In dem Dilemma, korrupten und/oder den alten Regimen verbundenen Kräften den Zugriff zur Macht zu verwehren, schränken die Protektoratsverwaltungen in der Regel die Demokratie ein. Wahlen produzieren leider oft unerwünschte Mehrheiten – umso eher, wenn die begünstigten Klientelgruppen des alten Regimes relativ groß waren und politisch aktiver sind als die ehemals Ausgeschlossenen und Unterdrückten, oder wenn sich ethnische oder religiöse Identitäten hartnäckig durchsetzen. Deren Persistenz wird durch den Fehlschlag bei der wirtschaftlichen Entwicklung mit fortgesetzter Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit gefördert. Im Ergebnis kommt es nicht mal zu einer erzwungenen Demokratie, sondern zu neuen „absolutistischen“, neo-imperialen Strukturen, wie jüngste kritische Analysen zu den Protektoratsregimen in Bosnien und im Kosovo feststellen.[28]


Auch die amerikanischen Steuerzahler und Wähler werden sich fragen, auf welche staatlichen Leistungen sie zu verzichten bereit sind, um weitere Schurkenstaaten erst zu demontieren und dann als demokratische Marktwirtschaften neu aufzubauen.

Die Legitimität der Protektoratsverwaltungen stützt sich aufs Völkerrecht (dazu unten mehr). Sie üben die Staatsfunktionen im Idealfall unparteiisch und korruptionsfrei aus (Schutztruppen aus anderen armen Ländern tendieren dazu, diesem Ideal weniger zu entsprechen). Das ist nicht zuletzt möglich, weil die Einkommen der Interventionskräfte dem Einkommen in den sie entsendenden reichen Ländern entsprechen, ja sie häufig deutlich übertreffen, da die entsandten Fachkräfte besonders qualifiziert sind und für die höheren Risiken und Kosten entschädigt werden. Die Stationierung eines amerikanischen Soldaten im Ausland kostet (nur) 250.000 Dollar im Jahr. Im Fall des Irak kosten 100.000 Mann also soviel wie das ganze Nationaleinkommen des „Gastlandes“[29] oder sogar das doppelte, da die damals unterstellten Kosten nach neuesten Schätzungen zu verdoppeln sind.[30]

Wenn sich lokales Einkommen auf einem Bruchteil des Durchschnittseinkommens des intervenierenden Staates bewegt und die Helfereinkommen diese nochmals um einen Faktor übersteigen, so führt dies zu einer riesigen Diskrepanz zwischen lokalen und Helfereinkommen, vor allem in der Kaufkraft. Die der lokalen Ökonomie übergestülpte Interventionsökonomie produziert dann ihre eigene perverse Logik: sie treibt die Preise einheimischer Güter, soweit sie von den Protektoren nachgefragt werden, nach oben. Sie lenkt die Ressourcen und die Energie der lokalen Gesellschaft auf die Befriedigung der Nachfrage der Beschützer/Besatzer, aber auch auf die kriminelle Übernahme eines Teils dieses plötzlich so nahen Reichtums. Die mit ihnen mehr oder weniger unmittelbar kooperierenden lokalen Arbeitskräfte (z.B. Dolmetscher) werden zu einer privilegierten Schicht mit deutlich höheren Einkommen. Im Endeffekt steigt der Output an Stabilität und Sicherheit weniger als ihr Preis. Die vom Protektorat „geschützte“ lokale Wirtschaft kriegt die (sonst bei Rohstoffexporteuren bekannte) „holländische Krankheit“ in besonderer Form. Sie zeigt die üblichen Krankheitssymptome der realen Überbewertung und neu entstehenden Rentenökonomie, indem sie  an das im eigenen Land stationierte Ausland „exportiert“.

Kurzum, die Kosten der Fremdproduktion öffentlicher Güter in einem zu stabilisierenden Land übersteigen nicht nur die Kosten in einem Land mit vergleichbaren Einkommensniveau, sondern sogar die im reichen Land, das die Intervention trägt. Gerechtigkeit in die Welt zu tragen ist teuer. Die Kosten des Jugoslawien-Gerichtshofes in Den Haag betragen z.B. 100 Millionen Dollar pro Jahr[31], was etwa dem jährlichen serbischen Justizbudget entspricht.[32] Die strapazierten und im eigenen Gesellschaftskontext oft eher ärmeren Steuerzahler der reichen Länder sind kaum zu überzeugen, diese Kosten weltweit zu übernehmen. Der politische Wille ruht angesichts der fragwürdigen und von Medienkonjunkturen geprägten Risikobewertung (siehe oben) ohnehin auf wackeligem Boden. Auch die amerikanischen Steuerzahler und Wähler werden sich fragen, auf welche staatlichen Leistungen (innere Sicherheit, Erziehung, Infrastruktur) sie zu verzichten bereit sind, um weitere Schurkenstaaten erst zu demontieren und dann als demokratische Marktwirtschaften neu aufzubauen.

 

Stabilisierung der Staatenwelt 1:
die schwierige Begrenzung der Souveränität

Noch besteht die Welt aus Staaten, auch wenn einige zerfallen und alle heute wirtschaftlich (und auch sonst) so miteinander verzahnt sind, dass einige klassische Merkmale des Nationalstaats nur noch eingeschränkt zu beobachten sind. Die meist in den 1940er Jahren geschaffenen Strukturen der Global Governance sind als Verfassung der Staatenwelt institutionalisiert, auch wenn die Gesellschaftswelt immer tiefer in sie einwirkt. Die Organisationen, die sich mit globaler Sicherheit (z.B. UN, OSZE), mit Wiederaufbau und wirtschaftlicher Entwicklung (z.B. Weltbank) und mit der Regulierung internationaler Transaktionen (z.B. IWF, WTO) befassen, sind überwiegend intergouvernemental verfasst. Entsprechend können sie nur tätig werden, wenn das betroffene Land von einer völkerrechtlich akzeptierten Regierung vertreten ist. Der Kosovo z.B. ist weder Mitglied der Weltbank noch des IWF. Auch im Irak kann nur eine neue anerkannte irakische Regierung oder eine mandatierte Protektoratsverwaltung völkerrechtlich verbindlich für das Land handeln.

Dies ist eine unbefriedigende Situation, wenn die Regierungen vieler armer Krisenländer eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung sind. Sie haben z.B. eventuell die internationalen Kredite verschwendet oder die Gelder verschoben, die später auf Kosten eines ganzen Volkes zurückgezahlt werden sollen. Einzelne Staaten können daraus ihre Konsequenzen ziehen und die Beziehungen zwischen den Regierungen und – wenn auch viel schwieriger – zwischen den Ländern einschränken oder abbrechen. Aber beides belastet immer auch (und eventuell sogar überwiegend) die oft unschuldige Bevölkerung des armen Landes. Dieses Dilemma stellt sich noch schärfer bei von allen Staaten getragenen Sanktionen, die ebenfalls nur partiell die Regierungen treffen. Die Zivilbevölkerung in autoritären Regimen dient diesen de facto als Geisel, was im Fall bewaffneter Intervention (siehe unten) besonders kritisch wird.

Insbesondere die neue amerikanische Doktrin eines Präventivschlags gegen mit Terrorismus drohende Schurkenstaaten[33] sieht keine unabhängige, multilaterale, völkerrechtliche Prüfinstanz vor. Dabei wären einige der Kriterien durchaus einer solchen Prüfung zugänglich. Menschenrechtsverletzungen, Bedrohung der Nachbarn und Verletzung internationaler Verträge sind Gegenstand entsprechender Normen und Institutionen der Global Governance. Wenn gleichzeitig aber das Vertrauen in die multilateralen Strukturen sinkt und die Bedrohungsperzeption zunimmt, wächst die Neigung zum unilateralen Handeln. Es ist auch insbesondere der amerikanischen Bevölkerung schwer zu vermitteln, dass sie ihre wertvollen Leben riskieren soll, wenn sie technisch und ökonomisch in der Lage ist, die Bedrohung auszuräumen, und statt dessen den langsamen Prozess einer Global Governance abzuwarten, in dem die vermeintlichen Schurken gleichberechtigt am Tisch sitzen.

Letztlich müssen sich in der internationalen Rechtsordnung die Realitäten der Verschränkung von Staaten- und Gesellschaftswelt widerspiegeln. Die Akzeptanz in der Staatenwelt muss an die Einhaltung von Normen im Inneren, also in den Gesellschaften, gebunden werden. In der Europäischen Union geschieht dies schon in einem weitreichendem Ausmaß, wenn Neumitglieder die Kopenhagener Kriterien erfüllen, den gemeinschaftlichen Rechtsbestand übernehmen und ihr Recht dem der EU unterwerfen müssen. Dafür wird eine ungehinderte Integration zugesichert. Dieses Modell wäre für die ganze Welt sicher zu weitreichend. Aber die Ent­wick­lung muss in eine Richtung gehen, in der der Grad der Integration eines Landes in die Weltgesellschaft an die Aufgabe von Souveränitätsrechten (letztlich bis hin zur Rechtfertigung für eine Intervention der Staatengemeinschaft) geknüpft wird. Die unverbindlichste Ebene der UN-Mitgliedschaft, die aus der reinen Existenz als einmal anerkannter Staat hervorgeht, dürfte entsprechend nur geringe Rechte implizieren. Dies entspricht auch dem Vorgehen in anderen internationalen Organisationen (z.B. IWF oder WTO), in denen die Rechte (z.B. Beistandskredite oder Marktzugang) mit Pflichten verbunden sind.

Das zentrale Problem bleibt die Legitimität des Weltpolizisten. Ohne globale Demokratie hat er bestenfalls die Legitimation durch das Völkerrecht oder durch das Ergebnis, die globale Sicherheit. Die UN-Demokratie ist letztlich undemokratisch, solange die Vertreter der Mitgliedstaaten häufig autoritäre und nicht demokratisch gewählte Regierungen repräsentieren. Und selbst wenn alle Demokratien wären, wäre das Gewicht eines Chinesen nur ein Bruchteil das eines Maltesen, und riesige Minderheiten blieben ohne Stimme. Aber diese Mängel setzen den Weltpolizisten der globalen Fassadendemokratie ähnlichen Attacken aus wie die Sicherheitskräfte in autoritären Regimen, die für sich auch ihr nationales Recht und die objektiv notwendige Funktion, für ihr Land Sicherheit zu produzieren, in Anspruch nehmen. Der transnationale Terrorismus vom Stile El-Kaida ist das absehbare Gegenstück zu einer Weltinnenpolitik und richtet sich quasi natürlich zunächst gegen den Weltpolizisten.

 

Stabilisierung der Staatenwelt 2:
die asymmetrische Intervention

Gemäß der UN-Charta kann die militärische Intervention in einem Staat durch einen anderen (oder mehrere) Staat(en) nur im Verteidigungsfall oder aufgrund eines UN-Mandats, das eine Gefährdung der internationalen Sicherheit feststellt, erfolgen. Schon die humanitäre Intervention im Kosovo war ein zweifelhafter Grenzfall. Eine einseitige Aktion etwa der USA (ggf. plus Verbündete) wäre ohne eine solche Rechtsgrundlage ein Rückfall ins Recht des Stärkeren. Im Irakkonflikt konnten sich die USA nicht recht entschließen, welche der beiden möglichen Legitimationen, UN-Mandat oder Verteidigungsfall, sie in Anspruch nehmen wollten. Eine Aushöhlung des Völkerrechts in diesem Punkt hätte fatale Folgen. Sie würde die starken Staaten – unabhängig von ihrer inneren Verfassung – ermutigen, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen und alle Staaten veranlassen, einen größeren Anteil ihrer Ressourcen auf Verteidigungszwecke zulasten der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung aufzuwenden. Vor allem die Eliten, die sich – zu Recht oder Unrecht – im Fadenkreuz der Weltverbesserer fühlen, werden motiviert, Vorkehrungen zu treffen, zu denen leider gerade auch der Erwerb von Massenvernichtungswaffen zählen könnte, um die sonstige massive Unterlegenheit auszugleichen. Außerdem provoziert jedes nicht von allgemeiner Zustimmung getragene Vorgehen der USA auch bei den Verbündeten weitere Skepsis und den Wunsch nach autonomen Machtmöglichkeiten. Diese Haltungen entstehen auch dann, wenn die grundsätzlichen Ziele der US-Politik (Freiheit, Demokratie, Wohlstand) geteilt werden.[34]

Bisher (Bosnien, Kosovo, Irak) konnten sich die reichen Länder nur selten und langsam auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Militärisch waren im Grunde nur die USA (und in bescheidenerem Maße vielleicht Großbritannien und Frankreich) in der Lage, gegen lokalen Widerstand zu intervenieren. Die darauf einsetzenden Bemühungen der EU zum Aufbau entsprechender Streitkräfte gehen aus finanziellen und politischen Gründen nur langsam voran und haben durch die Meinungsverschiedenheiten im Umfeld des Irakkrieges wahrscheinlich einen weiteren Rückschlag erlitten, der aber auch neue Chancen eröffnen könnte (und sollte). Erst nach Beendigung der unmittelbaren Kampfhandlungen konnten auch andere „Geber“ wie Deutschland militärische Aufgaben übernehmen (so im Balkan und in Afghanistan).


Letztlich müssen sich in der internationalen Rechtsordnung die Realitäten der Verschränkung von Staaten- und Gesellschaftswelt widerspiegeln. Die Akzeptanz in der Staatenwelt muss an die Einhaltung von Normen im Inneren, also in den Gesellschaften, gebunden werden.

Dahinter verbergen sich unterschiedliche Traditionen und Prioritäten. Gesellschaften mit Wehrpflichtarmeen dürften weniger resistent gegenüber wachsenden Opfern unter den eigenen Soldaten sein als solche mit Berufsarmeen. Die USA geben einen größeren Anteil (2001: 3,1 Prozent) ihres ohnehin großen Volkseinkommens für militärische Zwecke aus als Frankreich oder Großbritannien (je 2,5 Prozent), ganz zu schweigen von Deutschland oder Japan (1,5 bzw. ein Prozent).[35] Die Weltpolitik des Weißen Hauses macht die USA zum Produzenten globaler Sicherheit, zum Weltpolizisten. Dazu wenden die USA vierzig Prozent der Weltrüstungsausgaben auf.[36] Das ist zwar eine für die Schurken bedrohliche Asymmetrie, aber kein globales Gewaltmonopol. Denn die Überlegenheit der reichen Länder täuscht hier insofern, als jenseits der high-tech-Ausrüstung die Rüstungskosten für die armen Länder in niedrigen nationalen Einkommen zu rechnen sind, was allemal für große Armeen mit billiger Ausstattung reicht. Sie sind im offenen Feld schnell besiegt (z.B. Irak), aber unter Guerillabedingungen erhöhen sich die zu ihrer Bezwingung notwendigen Kosten an Menschen und Material erheblich.

Damit erheben sich in den reichen Demokratien jenseits der globalen Legitimationsfragen die Probleme der Zustimmung zu den wirtschaftlichen Kosten und menschlichen Opfern einer Intervention. Einkommen und Lebenserwartung (vgl. oben Tabelle 1) kombinieren sich zu einem Preisschild an einem Menschenleben, das Unterschiede von mehr als 1:100 ausweist, die bezeichnenderweise in den Verhältnisraten der Opfer bei Kriegen zwischen reichen und armen Ländern wieder auftauchen. In ihnen drückt sich die unterschiedliche Bewertung des Lebens reicher Wahlbürger im Vergleich zu armen Gewaltopfern ebenso aus wie die dem Reichtum entsprechende (Waffen-)Kapitalausstattung der Soldaten. Der asymmetrische Selbstmordattentäter, dem es vielleicht gelingt, viele Bürger einer reichen Demokratie (dazu zählt auch Israel mit einem vielfach höheren Einkommen als seine arabischen Nachbarn) mit in seinen Tod zu reißen, kehrt dieses Verhältnis beängstigend um. Er muss selbst gar kein Armer sein (so auch nicht die Attentäter des 11. September), aber er ist das letzte Mittel in einem asymmetrischen Konflikt und die letzte Wahl der sonst unterlegenen Strategen (von japanischen Kamikaze bis palästinensischen Hamas-Aktivisten).[37]

Die Wertschätzung der eigenen Menschenleben in den reichen Demokratien überträgt sich auch auf die Bewertung der Leben der Menschen in den Interventionsgebieten – zumindest auf die der unschuldigen Nichtkombattanten. Entsprechende Kriege nehmen immer mehr den Charakter von Polizeiaktionen an, bei denen der Kollateralschaden (insbesondere zivile Opfer) zu minimieren ist. Damit nimmt die Geiselproblematik, die schon bei weicheren Formen des Drucks (z.B. Sanktionen) einsetzt, dramatischere Ausmaße an. Gerade für die autoritären Regime mit Massenvernichtungswaffen erlaubt die Asymmetrie der Bewertung ein Erpressungsverhalten, das im Kalten Krieg (noch) nicht möglich war.

 

Sicherheit bei globaler Ungleichheit

Die Produktion von Sicherheit ist primär eine staatliche Aufgabe. Wo der Staat dabei versagt, übernehmen sie private Akteure. Meist geschieht das eher am reichen und am armen Rand der Gesellschaften: die Reichen leisten sich private Sicherheitsdienste und Wohnquartiere mit Zugangsbeschränkung, die Armen leben in vom Staat vernachlässigten Räumen, in denen Banden die Kontrolle übernehmen. Sie sind sowohl Opfer als auch „geschützte Untertanen“ dieser Mafiastrukturen. In relativ egalitären Gesellschaften bleibt private und kommerzialisierte Gewalt in Grenzen, in ungleicheren wie den USA nimmt sie zu. In dem Maße wie die Globalisierung die Ungleichheit verstärkt und die Staatsfähigkeiten beschränkt, fördert sie diesen Prozess.[38]

In den armen Ländern ist der Staat notorisch schwach und dient viel stärker als in den reichen Ländern der Selbstprivilegierung der Staatsklassen.[39] Der Staat (und die Staatsklasse) lebt stärker von – oft dem Austausch mit der globalen Ökonomie entstammenden - Renteneinnahmen als vom Steueraufkommen einer demokratischen Gesellschaft. In den reichen Demokratien geht der politische Konflikt eher darum, welche Partei die Versorgung mit öffentlichen Gütern (einschließlich Sicherheit) besser organisiert (was Verteilungskonflikte nicht ausschließt) und er wird primär an der Wahlurne ausgefochten. In autoritären armen Staaten geht der Kampf der Benachteiligten und Habgierigen stärker um den Anteil am Kuchen. Der angewandte Terror dient dann sowohl dazu, den Staat unfähig aussehen zu lassen, da er die Sicherheit nicht garantieren kann, als auch der Schwächung des jeweiligen Gegners.


Für langfristige Stabilität ist eine fast notwendige Bedingung, dass eine Entwicklung von der Rentenökonomie hin zu einer Unternehmerökonomie stattfindet, in der Einkommen durch Arbeit und Innovation entstehen und der Staat von Steuern finanziert ist. Diese Prozesse in einem Besatzungsregime zu implementieren, ist unrealistisch.

Die reichen Staaten haben diese Gesellschaftsstrukturen der armen Länder toleriert, da sie ihren politischen und ökonomischen Interessen diente. Solange autoritäre Staatsklassen die Sicherheit der auf ihrem Territorium verlaufenden Teilstücke der transnationalen Wertschöpfungsketten garantieren konnten und verhinderten, dass die Folgeprobleme von Armut und Unterdrückung in die reichen Länder überschwappten, bestand wenig Anlass, sie unter Druck zu setzen. Beides trifft immer weniger zu, womit die Anlässe zur Intervention zunehmen. Die Alternative, sich gegen die Probleme abzuschotten und die globalen Wirtschaftskreiskäufe um die Problemzonen herum zu organisieren, erscheint immer weniger machbar.

Aber die Kosten globaler Sicherheitsproduktion sind ebenfalls unakzeptabel hoch. Mit den Lohnkosten der reichen Länder ist kein globaler Staat zu machen. Was sich von selbst zunächst ergibt, ist der zynische Mittelweg: Man lässt die Millionen im Kongo sterben und kriegt von den Mördern hintenrum immer noch die Rohstoffe. Im Irak hat man zwar zu Milliardenkosten interveniert, aber ohne dass die Begründung deutlich wurde. Schließlich hat Saddam Hussein sein Öl immer an die USA verkauft, hätte Kuwait wohl kaum überfallen, wenn ihm die USA eindeutig signalisiert hätten, wie sie zu reagieren gedenken, und hatte keine belegbaren Absichten, die USA mit Massenvernichtungswaffen anzugreifen. Aber die Intervention hat eine Diktatur und ein UN-Sanktionsregime beendet, die beide vor allem die irakische Bevölkerung ins Elend gestürzt haben. Wenn eine wirkliche und nachvollziehbare Bedrohung da ist (z.B. Nordkorea Südkorea oder Japan angreift), werden die Ressourcen allerdings ausreichen, ihr zu begegnen.

Bosnien ist der Modellfall der Intervention und zeigt seine Grenzen. Dabei hat Bosnien den Vorteil der Lage als potentielles EU-Mitglied und des Mangels an Renteneinkommen.[40] In anderen Ländern, wo es keine externen Stabilisatoren gibt und es letztlich um den Zugriff auf die Renten geht, dürfte das Hauen und Stechen weitergehen, wenn die peacekeeper abgezogen werden, bevor demokratische Strukturen tief verfestigt sind. Das dürfte auch für den Irak gelten. Denn für langfristige Stabilität ist eine fast notwendige Bedingung, dass eine Entwicklung von der Rentenökonomie hin zu einer Unternehmerökonomie stattfindet, in der Einkommen durch Arbeit und Innovation entstehen und der Staat von Steuern finanziert ist. Diese Prozesse in einem Besatzungsregime zu implementieren, ist unrealistisch. Deshalb kann und wird Intervention nur eine Ausnahmelösung bleiben.

 

Strukturen schaffen statt intervenieren

Aber die Durchsetzung internationaler Normen kann auf eine Fülle von Instrumenten zurückgreifen, die auszubauen sind:[41]

Legitimität schaffen: Die Staatengemeinschaft muss die Legitimität bestimmter Normen stärken. Daran sind auch die „Schurken“ zu beteiligen. Sie müssen einerseits kontinuierlich mit den Forderungen nach Respektierung der Menschenrechte konfrontiert werden, andererseits an Formulierungen mitarbeiten, die auch von ihnen akzeptiert werden können, um als allgemein gültig zu gelten – wie z.B. die Helsinki-Charta für die kommunistischen Regime. Prinzipiell sollten solche Normen ins nationale Recht umgesetzt werden. Ebenso sind die transnationalen Akteure (Rohstoffkonzerne, Banken etc.) einzubeziehen, die den Löwenanteil der Renteneinkommen vermitteln. Auch sie müssen sowohl mit Forderungen konfrontiert als auch an der Ausarbeitung von Verhaltensrichtlinien beteiligt werden. Langfristig müssen Normverletzungen immer mit einem Unrechtsbewusstsein verbunden sein, das die Klage in entsprechenden Öffentlichkeiten schmerzhaft macht.

Materielle Anreize schaffen: Internationale Hilfe sollte die Kosten der Anpassung auf der Seite der armen Staaten mittragen. Angesichts der Einkommensdifferenzen kann man Hunderte lokaler Kräfte mit den Mitteln finanzieren, die ein paar ausländische Experten kosten. Gesellschaftliche Gruppen in den armen Ländern, die Druck auf die Regierung ausüben wollen, bedürfen der materiellen Unterstützung, der Beratung und Ausbildung. Normverletzern sollten schrittweise die Rentenquellen beschnitten werden, indem man die transnationalen Akteure bewegt (ggf. zwingt), ihre Geschäfte mit ihnen zu reduzieren.

Letztlich liegt die leider unfassbare Lösung des asymmetrischen Bedrohungsproblems in der Entwicklung der armen Länder und dem damit verbundenen Abbau der Ungleichheit. Auch hier bietet das amerikanische Modell der freien Märkte[42] nur die halbe Wahrheit. Nach den Erfahrungen der wenigen Erfolgsbeispiele bedarf es wahrscheinlich politisch-gesellschaftlich streng kontrollierter Rahmenbedingungen, um die unternehmerische Energie in die richtigen Bahnen (also eben nicht Rent-seeking und Gewaltmärkte) zu lenken. Und es bedarf eines gewissen Schutzes gegen außen, um die betriebswirtschaftlichen Lernprozesse zu ermöglichen, die ein Bestehen in der Konkurrenz mit globalen Anbietern erlauben. Der Wechselkursmechanismus wirkt nur verzerrt, da die Renteneinkommen zu überbewerteten Währungen führen, die die Wettbewerbsfähigkeit lokaler Produktion untergraben. Mit der Freiheit der grenzüberschreitender Kapitalbewegungen ist noch vorsichtiger zu verfahren.[43] 

Dass Regimewechsel auch ohne militärische Intervention möglich ist, beweisen nicht nur der Kollaps des Kommunismus, sondern viel klarer noch der Fall Serbien. Hier wurde der Schurke durch eine Kombination von äußerem Druck und von außen unterstützter innerer Opposition gestürzt. Pragmatismus und offene Lernprozesse sind also angesagt. Sie werden sich auch in den USA, wo beide eine lange Tradition haben, letztendlich gegen neokonservative Ideologismen durchsetzen. Europa sollte bereit sein, daran mitzuarbeiten. Dazu müsste es zunächst versuchen, seine eigene Strategie präziser zu definieren. Die nötige Harmonisierung von Interessen und Wertvorstellungen dürfte nach der Erweiterung um zehn neue Staaten mit eigenen Interessen und Identitäten schwierig genug werden.


[1] Während 91 Prozent der Amerikaner die Bedrohung durch internationalen Terrorismus für extrem wichtig halten, tun dies nur 46 Prozent der Europäer. Bei anderen Bedrohungen fallen die Unterschiede zwar geringer aus, aber im Durchschnitt ist die Angst in den USA stärker (Umfrage des Chicago Council on Foreign Relations, American and European Public Opinion and Foreign Policy, http://www.worldviews.org/detailreports/compreport.pdf.

[2] Javier Solana, A Secure Europe in a Better World, Brüssel/Thessaloniki 2003.

[3] The White House, The National Security Strategy of the United States of America, Washington, September 2002, http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.html, im Folgenden zitiert als NSSUSA.

[4] „America is now threatened less by conquering states than we are by failing ones.“ (ebenda, S.1).

[5] Eine gute Systematisierung bietet Stefan Mair, Die Globalisierung privater Gewalt. Kriegsherren, Rebellen, Terroristen und organisierte Kriminalität, SWP-Studie 10, Berlin, April 2002.

[6] Vgl. FBI Uniform Crime Report 2001, http://www.fbi.gov/ucr/01cius.htm.

[7] “The police are supposed to reduce fear of crime as well as crime. That’s hard when there’s little relationship between the two.”, “Fear itself”, Economist v. 10.7.2003, S.30.

[8] NSSUSA,a.a.O..

[9] Vgl. ebenda, S. 1-2.

[10] Vgl. ebenda, S.14.

[11] In der Entwicklungspolitik gab es diese Debatte schon einmal Anfang der 1980er Jahre, als multi- und bilaterale Geber unter dem Eindruck der konservativen Renaissance unter Reagan und Thatcher die Durchsetzung freier Märkte und die Rückdrängung des Staates als entscheidenden Hebel für erfolgreiche Entwicklung postulierten. Vgl. den einschlägigen Weltentwicklungsbericht 1983. Einen kritischen Überblick zur damaligen Debatte gab ein Gutachten für das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von Michael Dauderstädt/Alfred Pfaller, Bestandsaufnahme und Bewertung neuer entwicklungspolitischer Ansätze, Köln/München/London 1984.

[12] Vgl. Javier Solana, a.a.O..

[13] Vgl. NSSUSA S.7: „…we will continue to work …to provide the humanitarian, political, economic and security assistance necessary to rebuild Afghanistan so that it will never again abuse its people, threaten its neighbors, and provide a haven for terrorists.”

[14] Vgl. Gilles Dorronsoro, “Afghanistan: the Delusions of Victory“, in Internationale Politik und Gesellschaft 2/2003, S. 112-122, und Michael Lüders, Nach dem Sturz der Taliban: Kein Frieden von Kabul bis Kaschmir, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn 2003

[15] Vgl. Die ehemalige stellvertretende Leiterin von USAID Carol Lancaster, „Die neue amerikanische Entwicklungshilfe: keine Wunderwaffe gegen Ineffizienz“, in E+Z, 4/2003, S.140-141.

[16] Vgl. Marian Radetzki und Bo Jonsson, „The Expanding Global Income Gap: How Reliable is the Evidence?“, in The European Journal of Development Research, vol.14, No.1, June 2002, S.248.

[17] Die Zahlen stammen aus UNDP, Bericht über die menschliche Entwicklung 2001, Bonn 2001.

[18] Paul Collier and Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, http://www.worldbank.org/research/conflict/papers/greedandgrievance.htm. Siehe auch allgemein Michael Ehrke, Zur politischen Ökonomie post-nationalstaatlicher Konflikte, Ein Literaturbericht, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, 2002.

[19] Vgl. dazu genauer Stefan Mair, a.a.O..

[20] Vgl. Kevin Phillips, Wealth and Democracy. A Political History of the American Rich, New York 2002 (erscheint demnächst in Deutsch unter dem Titel Die amerikanische Geldaristokratie in der Reihe der Matthöfer-Stiftung beim Campus-Verlag, Frankfurt).

[21] Schätzungen für die USA sprechen von einer Billion USD jährlich, also fast 10 Prozent des Bruttonlandsprodukts, Economist v. 26.7.2003, S.12.

[22] Für eine überzeugende Fallstudie zum Kosovo siehe Dana Eyre und Andreas Wittkowsky, The Political Economy of Consolidating Kosovo: Property Rights, Political Conflict and Stability, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, 2002.

[23] Vgl. Erhard Eppler, Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?, Frankfurt a.M. 2002.

[24] Vgl. NSSUSA, S.1: “The great struggles of the twentieth century between liberty and totalitarianism ended with a decisive victory for the forces of freedom – and a single sustainable model for national success: freedom, democracy, and free enterprise.”

[25] Minxin Pei und Sara Kasper haben festgestellt (Lessons from the Past: the American Record on Nation Building, Carnegie Endowment for International Peace Policy Brief 24, May 2003), dass es den USA bei 18 gewaltsamen Regimewechseln nach 1945 nur in fünf Fällen gelungen ist, dauerhaft Demokratien zu etablieren (neben den o.g. drei noch Grenada und Panama).

[26] Vgl. FN 10.

[27] Ein positives Beispiel dafür ist etwa, dass das Hissen amerikanischer statt irakischer Fahnen über eroberten Objekten rasch unterbunden wurde.

[28] Vgl. zu Bosnien-Herzegowina Gerald Knaus und Felix Martin, “Travails of the European Raj”, in Journal of Democracy, Vol. 14, no.3, Juli 2003, S.60-74 und zum Kosovo den deutschen Juristen Axel Schwarz, „Rückkehr zum Absolutismus – Machtstrukturen in UNMIK’s Kosovo“, in Südosteuropa – Zeitschrift für Gegenwartsforschung, Jg. 51, Heft 10-12/2002, S.527-542.

[29] Economist v. 8.3.2003, S.28, Special report „Rebuilding Iraq“.

[30] Vgl. Economist v. 19.7.2003, in dem die monatlichen Kosten mit 3,9 Mrd. USD angegeben werden. Im März ging das Pentagon noch von 2 Mrd. aus.

[31] Economist v. 12.4.2003, S.28.

[32] Dieses betrug 2002 6,7 und 2003 9 Mrd. Dinar, was etwa zwischen 90 und 130 Millionen Euro ausmacht, vgl. http://www.mfin.sr.gov.yu/html/pdf/Budzet2003e.pdf.

[33] Vgl. NSSUSA, S.15.

[34] Dies belegt z.B. eine weltweite Meinungsumfrage des Pew Charitable Trust, Views of a Changing World, June 2003 poll, http://www.pewtrusts.com/poll.cfm?question_id=82.

[35] Vgl. SIPRI data base, http://databases.sipri.se/.

[36] Vgl. BICC Conversion Survey-Report 2003, http://www.bicc.de/general/survey2003/zusammenfassung.pdf.

[37] Vgl. Ulrich Schneckener, Selbstmordanschläge als Mittel asymmetrischer Kriegführung, SWP-Aktuell 27, Berlin Juli 2003.

[38] Vgl. dazu auch Eppler, a.a.O..

[39] Vgl. Hartmut Elsenhans, Abhängiger Kapitalismus oder bürokratische Entwicklungsgesellschaft. Versuch über den Staat in der Dritten Welt, Frankfurt/New York 1981.

[40] Vgl. Michael Ehrke, Bosnien: Zur politischen Ökonomie erzwungenen Friedens, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn, 2003.

[41] Vgl. Tanja A. Börzel und Thomas Risse, „Die Wirkung internationaler Institutionen: Von der Normanerkennung zur Normeinhaltung“, in Markus Jachtenfuchs, Michèle Knodt (Hg.) Regieren in internationalen Institutionen, Opladen 2002.

[42] Vgl. NSSUSA, S. 17ff..

[43] Vgl. aus unverdächtig liberaler Sicht: Clive Crook, „A cruel sea of capital“, in Economist v. 3.5.2003.

 

Michael Dauderstädt *1947;

Volkswirt; Leiter, Internationale Politikanalyse, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn;
daudersm@fes.de

 

 

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