Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 3/2003

 

 



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Westliche Werte und historische Erfahrungen
diesseits und jenseits des Atlantiks

Christoph Zöpel* 

Aus der europäischen Erfahrung ständig wiederkehrender Kriege erwuchs die Idee der föderativen Friedensordnung. Für Amerika hingegen war lange der Gedanke der Abschottung vom friedlosen Europa zentral. Es tut sich deshalb schwer damit, die Idee der institutionalisierten Machtbegrenzung, auf der seine politische Ordnung im Innern beruht, auf die Außenbeziehungen zu übertragen.

 

Seit Beginn der weltweiten politischen Diskussion um eine militärische Intervention der Staatengemeinschaft, oder auch allein der USA, im Irak erleben wir eine vielfältige Debatte über das transatlantische Verhältnis. Sowohl im kommunikativen Zusammenhang der Politik als auch dem der Wissenschaft erfordern die argumentativen Positionen Maßstäbe: Das sollten sein, und sind auch zumeist, Werte und historische Erfahrung. Dieses Postulat erscheint abstrakt, so es explizit erhoben wird,  dabei wird es konkret zumeist implizit gefüllt, wenn es in der Debatte über das transatlantische Verhältnis um die gemeinsamen "Westlichen Werte" und um die unterschiedliche Betroffenheit von Amerikanern und Deutschen durch Krieg geht.

Für die gefühlsbezogenen Einstellungen zwischen voneinander abgegrenzten Gemeinschaften, also vor allem auch von Staatsvölkern, spielt das Größenverhältnis eine entscheidende Rolle. Große verachten Kleine, Kleine stoßen die Großen zurück. Im deutsch-niederländischen Verhältnis lässt sich dieses Grundmuster exemplarisch ausmachen, im zotigen Witz der karnevalistischen Büttenrede, im Fankrieg am Rande von Fußballspielen, wie ernsthafterweise bei der Aufarbeitung von Krieg und Kriegsverbrechen. Es dürfte lebensweltlicher Gefühlsbanalität entsprechen, dass die Aussöhnung in Westeuropa zwischen Frankreich und Deutschland gelingen musste, bevor sie auch zwischen den Niederlanden und Deutschland möglich war, und dass in Osteuropa Polens Versöhnung der Versöhnung Tschechiens mit Deutschland vorausgeht. Was für Deutschland und die Niederlande gilt, lässt sich auf die USA und Deutschland übertragen. Neid, Abwehr, Hilflosigkeit gegenüber der Siegermacht; Herablassung, Unkenntnis, Protektoratisierung gegenüber der europäischen Mittel
(Ohn-)macht, das sind kommunikative Konkretisierungen dieser lebensweltlichen Befindlichkeiten. Solche Befindlichkeiten bleiben normalerweise folgenlos, aber werden fehlbewertet, wenn sie aus ihrer Banalität gehoben werden.

Vor den Folgen falscher Analyse und falscher Wertungen zu warnen, ist eine Absicht ideologischer Überhöhung des Antiamerikanismus und seiner damit verbundenen argumentativen Abwehr. Der Schrecken des Holocaust, dieses größten kollektiven politischen Verbrechens der neuzeitlichen europäischen Geschichte, ist den deutsch-amerikanischen Beziehungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs immanent. Dies ist der Hintergrund von Argumentationen, die exemplarisch Dan Diner formuliert. Antiamerikanismus wird von ihm als eine neue Form des Antisemitismus ausgemacht. Diese Zuspitzung einer historischen Erfahrung, des Holocaust und der Beteiligung der USA an seiner Beendigung, blendet aber andere historische Erfahrungen nach 1945 aus.

Für die wissenschaftliche und demokratische Auseinandersetzung mit den deutsch-amerikanischen Beziehungen geht es also darum, einen Diskurs zu führen, der ohne Angst vor der eigenen deutschen Geschichte, ohne vorauseilenden Gehorsam vor der Supermacht, ohne missverstandene Dankbarkeit für die Beendigung faschistischen Terrors durch die USA auskommt. Ein solcher Diskurs muss gemeinsame Werte und divergierende historische Erfahrungen  - mit dem Zweiten Weltkrieg, mit der Implosion des Kommunismus und mit dem Terrorismus vor und nach dem 11. September fokussieren. Darüber hinaus muss er die grundsätzliche Frage der Beziehungen zwischen Demokratien in der internationalen Politik sowie die Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen des liberalisierten globalen Kapital- und Güterhandels thematisieren.

 

Die gemeinsamen Werte und der Filter unterschiedlicher historischer Erfahrungen

Auf jeglicher kommunikativen Ebene steht im Zentrum der Auseinandersetzung um die gemeinsamen „Westlichen Werte“ der Wert der Freiheit. Bedroht ist Freiheit durch Krieg, bedroht ist sie durch den Staat, bedroht ist sie aus der Gesellschaft, bedroht auch durch Ungleichheit und durch Ungerechtigkeit. Auf diese Bedrohungen gibt es Antworten, die eine Vielfalt dann nachgeordneter Werte implizieren: Friede statt Krieg, Demokratie statt ererbter Herrschaft, rechtsstaatliches Gewaltmonopol gegen private Willkür, Universalität der Menschenrechte gegen auf soziale Gemeinschaften bezogene Differenzierungen, sozialer Ausgleich gegen ökonomische Diskriminierung. Diese prinzipiellen Wertalternativen sind die Grundlage von Meinungsunterschieden zwischen Einzelnen, Gruppen und Staaten in konkreten geschichtlichen Situationen, die aber selbst wiederum die Konsequenz vorausgegangener historischer Entscheidungen sind. Auf dieser Basis lassen sich auch aktuelle Meinungsunterschiede zwischen der amerikanischen und der deutschen Regierung erklären, und auch die unterschiedliche Zustimmung, die die entsprechenden politischen Positionen bei den Staatsvölkern finden.

Bis heute gültige Fundamente zwischenstaatlicher Beziehungen - ihr völkerrechtlicher Rahmen - sind die Konsequenz des Dreißigjährigen Krieges. Das staatliche Monopol auf Gewaltanwendung nach Innen und Außen wurde vereinbart gegenüber auch mit kriegerischen Mitteln betriebener religiöser Expansion. In Verbindung mit dem absolutistischen Staat hatte das in Europa eingehegte Kriege zur Folge. Zum Leben unter dem Absolutismus und seinen Rekrutierungen für die zwischenstaatlichen Kriege gab es als Alternative die Auswanderung aus Europa nach Nordamerika. Der Anspruch, dass  - vor allem christliche - Religion auch in der Politik Bedeutung haben darf, gehörte zu den Motiven. Europas geistige Antwort auf die Unfreiheit und die Friedlosigkeit des Absolutismus aber war, exemplarisch von Kant formuliert, die Idee demokratischer Staaten, die föderativ auch Frieden sichern. Dabei beförderte das absolutistische Gewaltmonopol die Gleichheit der Untertanen. Die europäischen Auswanderer stießen in Nordamerika auf Ureinwohner, denen sie diese Gleichheit nicht zubilligten. Damit war die Möglichkeit der Aneignung als herrenlos definierten Bodens eröffnet und ließ einen radikal überhöhten Begründungsnexus von Freiheit und Privateigentum entstehen. Gewöhnung an rassische Diskriminierung und ökonomischer Verwendungsdruck zogen die Versklavung importierter Menschen nach sich. In Europa induzierte die immanente soziale Gefährdung merkantiler Wirtschaftsambitionen den sozialstaatlichen Ausgleich, exemplarisch mit Bismarcks Sozialreformen.


Macht ist durch Macht einzuhegen, durch eine Föderation von Staaten, die im Inneren die Machtteilung geregelt haben. Eine unipolare Weltordnung ist nicht demokratisch, sie widerspricht den „Westlichen Werten“

Schon vor dem ersten Weltkrieg waren prägende Strukturunterschiede zwischen den nord-
amerikanischen und den europäischen Gesellschaften entstanden. Beider geistige Grundlage war die Aufklärung, aber zwischen Kants ewigem Frieden und Lockes Rechtfertigung des Privateigentums gibt es bedeutende Unterschiede. Zwischen amerikanischer Demokratie und europäischer Verfassungsvielfalt einschließlich der konstitutionell werdenden Monarchien kann auch für das 19. Jahrhundert nicht schwarz-weiß gezeichnet werden.

Im Ersten Weltkrieg standen sich die USA und Deutschland im europäischen Kontext als Gegner gegenüber. Diese globale Vernetzung würde sich nicht wieder lösen lassen. Vorher hatte die romantische Verbindung ethnischer Ziele mit dem Recht der Völker gegenüber ihren Herren die Idee demokratischer Gleichheit zugunsten nationaler Abgrenzung zurückgedrängt. Dies war eine der Ursachen für die Enthegung des Krieges, die erneute Betroffenheit der Zivilbevölkerung - bei Ausweitung der militärisch nutzbaren technologischen Möglichkeiten industrialisierter Gesellschaften.

Zwischen den Weltkriegen waren die Erfolge europäischer Demokratie unstabil, im Unterschied zu den USA mit ihrer erfolgreichen Wendung zum „New Deal“. In Europa unterlag Demokratie schließlich dem Totalitarismus des Rassendenkens im vor allem deutschen Faschismus und dem Totalitarismus der Gleichheit im vor allem sowjetischen Kommunismus. Der Angriff Japans, des ersten nicht europäisch geprägten Akteurs globaler Politik, und die Kriegserklärung Deutschlands zogen die USA in den Zweiten Weltkrieg und damit endgültig aus der von den europäischen Auswanderern erträumten Isolierung vor Unfreiheit und kriegerischer Gewalt im alten Europa.

 

Drei Erfahrungen der neueren Geschichte

 

Das Ende des Zweiten Weltkriegs

Die globale Expansion des deutsch-italienisch-japanischen Faschismus, der den Weltkrieg als Expansionsstrategie gewählt hatte, war nur durch militärischen Sieg zu beenden. Den Sieg teilten sich zwei Mächte: Die USA und die Sowjetunion. Es gehört zu den historischen Wahrheiten, dass Auschwitz durch die Rote Armee befreit wurde. Sieg wie Niederlage kosteten 55 Millionen Menschenleben insgesamt. Die Zahl der Kriegsopfer umfasst 260.000 US-Amerikaner; 21 Millionen Sowjetbürger, darunter sieben Millionen Zivilisten; fünf Millionen Deutsche, darunter 500.000 Zivilisten; 4,5 Millionen Polen, darunter 4,2 Millionen Zivilisten; 810.000 Franzosen, darunter 470.000 Zivilisten; 210.000 Niederländer, darunter 200.000 Zivilisten; über fünf Millionen Juden wurden Opfer des Holocaust. Betroffen waren also Soldaten wie Zivilisten, diese durch Vernichtungslager, Ausrottung, Atombomben, Flächenbombardements, als subjektiv Schuldige und als ohnmächtige Gegner der Politik ihrer Volksgemeinschaften.

Die Folgen des gemeinsamen Sieges der USA und der Sowjetunion waren für die direkt Betroffenen unterschiedlich. Für fünfzig Millionen Westdeutsche in der späteren Bundesrepublik hatte die amerikanische Besatzung Demokratie, einen freiheitlichen Rechtsstaat und Wohlstand zur Folge, für achtzehn Millionen Ostdeutsche in der späteren DDR ein totalitäres Herrschaftssystem; für neun Millionen Bewohner deutscher Gebiete östlich von Oder und Neisse die Vertreibung aus an jetzt kommunistische Staaten abgetretene Gebiete, für etwa eine Million dort verbliebene Deutsche eine doppelte Diskriminierung, ethnisch begründet durch die neuen Staatsvölker, ideologisch-totalitär durch die Kommunisten.

Das Ende des Kommunismus

Wie immer die je aktuelle Politik der Regierungen von BRD und DDR geprägt war, Deutschlands Teilung bewirkte ganz besonders die Suche nach einer nicht-kriegerischen Lösung des Ost-West-Konflikts. Neben den Wirkungen des Gleichgewichts atomarer Abschreckung bahnte sich der Gedanke der Konfliktlösung durch Zusammenarbeit seinen Weg. Dieser Gedanke und seine Methode entfalteten mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ihre Wirkung. Sie gewannen Kraft aus dem Anspruch auf die Realisierung der universellen Menschenrechte. Überforderung der Sowjetunion und ihrer Verbündeten im Wettrüsten mit den USA und der NATO, negative Auswirkungen der Meinungsunterdrückung auf die wirtschaftliche Entwicklung in aufsteigenden Wissensgesellschaften, die Kraft von Freiheitsansprüchen - das führte zur Implosion des Kommunismus, zur Vereinigung Deutschlands, zur Öffnung, Demokratisierung, Verrechtsstaatlichung des östlichen Europas einschließlich der jetzt ehemaligen Sowjetunion. Dem Trauma der Tragödien von 1945 folgten die Verheißungen von 1989.

 

Europa und die Supermacht

Die Verheißung fand ihre Charta 1990 in Paris. Aber sie war nicht überall wirksam, von vornherein nicht außerhalb Europas und Nordamerikas: genannt seien der erste Irak-Krieg und das Wegschauen bei anderen Kriegen. Doch auch Europa blieb nicht lange verschont und schon in Bosnien konnten die kriegerischen Gräuel serbischer und anderer Soldatesken nur durch die militärische Überlegenheit der USA beendet werden. Das geschah dann exemplarisch im Kosovo. Eine Militärstrategie, die eigene Opfer vermied, war erfolgreich. Für die USA und ihre Verbündeten war faktisch der Militärschlag zu einem politischen Instrument geworden, dessen Kosten nicht ungleich höher sind als die anderer Instrumente. Kosten entstanden bei den Opfern, auch wenn sie von den USA gering gehalten werden wollten. Kosovo, Mazedonien und Albanien erlebten 1999 die größte Vertreibung in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.


Europa, Millionen zivile Kriegstote im historischen Gedächtnis, suchte nach Wegen rechtsstaatlicher ziviler Terrorbekämpfung im Rahmen der Völkerrechtsgemeinschaft.

Die USA, die Supermacht mit diesen Möglichkeiten und Erfahrungen, wurde dann am 11. September 2001 von einem Terroranschlag aus dem nicht-europäisch-nordamerikanischen Kulturkreis auf symbolische Ziele in New York und Washington mit ca. dreitausend Toten getroffen. Die direkte amerikanische und die anteilnehmende europäische Betroffenheit galten zunächst den Opfern und ihren Angehörigen. Sobald diese Betroffenheit jedoch politisch handlungsorientiert  wurde, ging sie auseinander. Die Regierung der Vereinigten Staaten suchte notwendig wie richtig nach Abwehrmöglichkeiten gegen den Terrorismus, dann auch nach Vergeltung und Prävention aus der Position der von todbringender aggressiver Zerstörung im zivilen Bereich erstmals betroffenen Supermacht. Europa, Millionen zivile Kriegstote im historischen Gedächtnis, suchte nach Wegen rechtsstaatlicher ziviler Terrorbekämpfung im Rahmen der Völkerrechtsgemeinschaft. Nur dort, wo handlungsfähige Völkerrechtssubjekte nicht existieren, wie in Afghanistan, gab und gibt es die breite europäische Bereitschaft zur militärischen Intervention, die die Beteiligung am Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen, die Realisierung von Menschen-,  insbesondere Frauenrechten, den Versuch zur Entwicklung von Demokratie zur Folge haben konnten. Allerdings, in Afghanistan ist weder zureichend geklärt und noch gar nicht entschieden, was die Auswirkungen hoch überlegener Militärschläge auf die sozialpsychologische, gesellschaftliche und politische, gar demokratische Entwicklung sind.

 

Die Beziehungen zwischen Demokratien in der internationalen Politik

Das bleibende ideengeschichtliche Fundament von Friedenspolitik in Europa, Kants Schrift zum ewigen Frieden aus dem Jahre 1795, knüpft entstehungsgeschichtlich wie inhaltlich eine Verbindung zwischen Demokratie und Frieden. Der „erste Definitionsartikel zum ewigen Frieden“ lautet: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“. Der „zweite Definitionsartikel zum ewigen Frieden“ postuliert dann: „Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein“. In Betrachtung der Widerstände durch ein Völkerrecht, das Krieg legitimiert, hält Kant die Vorstellung eines Völkerstaates, die „positive Idee einer Weltrepublik“, für utopisch. Für möglich hält er nur, dass „das Surrogat eines den Krieg abwehrenden bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtsscheuenden feindseligen Neigungen (zum Krieg) aufhalten kann, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs.“

Kant selbst zeigt damit auf, dass hinsichtlich der Realisierung seiner Idee ein deterministischer Fortschrittsglaube unangemessen ist, wie ja auch die Militärintervention der USA im Irak-Krieg gezeigt hat. Bei Kant sind aber Bewertungsmaßstäbe der entscheidenden transatlantischen Differenzen in der Irak-Debatte zu finden: gemeinsame Gefahreneindämmung durch Handeln eines Bundes, also der UNO, versus völkerrechtliche Kriegslegitimation sowie friedenssichernder NATO-„Bund“ versus Koalition der (Kriegs)Willigen. Bei diesen Differenzen aber handelt es sich, dem unbezweifelbaren Selbstverständnis der USA wie der Bundesrepublik Deutschland entsprechend, um Differenzen zwischen republikanischen, demokratischen Staaten – denen es, aus der historischen Perspektive vielfältig deutlich, nicht gelingen will, die Implikationen republikanisch-demokratischer Verfasstheit auf die Praxis der internationalen Beziehungen zu übertragen. Die Kategorien des nationalen Interesses – so eher in Deutschland – oder der Patriotischen Haltung  - so eher in den USA – überlagern, ja diskreditieren den innerstaatlichen wie den zwischenstaatlichen demokratischen Willensbildungsprozess in Fragen der Außenpolitik und damit auch in Fragen von Krieg und Frieden.

Im Sommer 2002 sollte der Hinweis auf den Wahlkampf Schröders Position in der Sache unglaubwürdig machen. Das gilt bis heute. Die Frage aus dem Kreis von wissenschaftlichen Experten für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, wieso er jetzt grundlos, da ja die Wahlen vorüber seien, seine Position aufrecht halte, steigert diese Form der Verächtlichung demokratischer Prozesse, wenn internationale Politik involviert ist. Der komplexe und nicht unproblematische Zusammenhang zwischen Massendemokratie, Populismus, neuen Wahlkampfmethoden, neuen Kommunikationstechnologien und der Instrumentalisierung von Meinungsbefragungen einerseits, sowie der demokratischen Legitimation durch Wahlen andererseits,  ist bekannt. Angesichts des Wissens um die prinzipielle Alternativlosigkeit wird an der legitimatorischen Funktion von Wahlen jedoch festgehalten. Und so sind wahlbeeinflussende achtzig Prozent Zustimmung für Schröders Haltung gegen eine Militärintervention nicht die fragwürdigste politisch-substanzielle Implikation des Zusammenhangs von Kommunikation und Legitimation.


Prinzipiell ist Außenpolitik aus dem tabuisierenden und immunisierenden Elfenbeinturm der Überparteilichkeit zu holen, bzw. zu entlassen. Mit besten Gründen gehört Außenpolitik in die Wahlauseinandersetzungen.

In den USA stehe das Land im Krieg hinter dem Präsidenten, das ist das andere, demokratische Willensbildung einschränkende Argumentationsmuster, entweder als tatsächliches Argument auch kritisch eingestellter Personen oder als Erklärung für deren Argumente. Die Rechtfertigung dieses Arguments ist zweifach fragwürdig. Gerade wenn die Politik der Regierung nicht akzeptiert wird, rechtfertigt das Leben der eingesetzten Soldaten nicht diese patriotische Solidarität. Wenn aber dank fortgeschrittener Militärtechnologie und entsprechender Strategie Verluste an Menschenleben minimiert werden können, führt Kriegssemantik in wirklichkeitsfremde Gefühlslagen, die aus früheren historischen Erfahrungen mitgebracht sind.

Für die transatlantischen Beziehungen als Beziehungen zwischen Demokratien folgt aus diesen Überlegungen: Prinzipiell ist Außenpolitik aus dem tabuisierenden und immunisierenden Elfenbeinturm der Überparteilichkeit zu holen, bzw. zu entlassen. Mit besten Gründen gehört Außenpolitik in die Wahlauseinandersetzungen. Mit besten Gründen auch sollten konkrete unterschiedliche Positionen grenzüberschreitend diskutiert werden. So werden amerikanische und deutsche Diplomaten und die von ihnen vertretene Außenpolitik obsolet, die anderen Staaten Demokratie empfehlen und deren Prozesse mit der Attitüde des Prokonsuls oder Besserwissers beurteilen, im Inneren aber die Auseinandersetzung um Außenpolitik für degoutant halten.

Praktisch haben dazu der amerikanische Ex-Präsident Carter und die deutsche Oppositionsführerin Merkel Gutes geleistet. Carter argumentiert gegen Präsident Bush – weltweit, Merkel gegen Bundeskanzler Schröder – auch in Washington. Beides trägt zu demokratischer Willensbildung bei – auch mit Rückwirkung auf das Wahlvolk, wenn, wie Angela Merkel, eine aktive herausgehobene Politikerin sich so verhält. Und vielleicht auch mit Rückwirkung auf die Willensbildungsprozesse der wissenschaftlichen „Community“ der Amerika- bzw. Deutschlandexperten,  die ihre Analysen und Empfehlungen gerade in der hier behandelten Auseinandersetzung auf ihr vorkantianisches Verständnis von internationaler Politik gestützt hatten.

 

Transatlantische Wirtschaftsbeziehungen – mikroökonomisch und makroökonomisch

Die europäische Ideengeschichte politisch-demokratischen Denkens hat Konzepte für die Gestaltung globalen Friedens entwickelt; ob sie realisiert werden, ist eine Frage der Bereitschaft zum politischen Handeln. Das Interesse an Frieden kann mit ökonomischem Interesse konfligieren. Immer hatten Kriege auch wirtschaftliche Gründe. Die ökonomischen Beziehungen zwischen den USA und Deutschland sind heute ein wesentlicher Teil des globalen Güter-, Leistungs- und Kapitalhandels. Deutschlands exportorientierte Wirtschaft wird erheblich von den Exporten in die USA beeinflusst.

Doch diese Sicht ist nur ein Ausschnitt aus der Realität globaler ökonomischer Interdependenzen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Und diese Realität ist paradox: Was mikroökonomisch aus der Sicht deutscher exportorientierter Unternehmen gewinnbringend ist, ist makroökonomisch eher fragwürdig für die globale Wirtschaftsentwicklung. Hauptproblem des globalen Kapitalverkehrs ist das große Handelsbilanzdefizit der USA. Es beträgt derzeit ca. 400 Milliarden US-Dollar. Um es zu finanzieren haben die USA einen immensen Bedarf an Kapitalimporten. Und so sind die Exportüberschüsse vor allem Deutschlands und Japans und die Importüberschüsse der USA die sich wechselseitig stützenden Ursachen eines gravierenden globalen Ungleichgewichts. Die mikroökonomischen Folgen des Kapitalsogs in die USA für Deutschland sind offenkundig. Der Abfluss deutschen Kapitals beeinträchtigt die binnenländische Investitionsneigung.

Lebensweltliche Anti-Emotionen zwischen Staaten können paradoxe Folgen haben: Amerikanische Stammtischparolen gegen Pommes Frites und Volkswagen sind unwissentlich die richtige Einsicht in eine Notwendigkeit zur Verringerung globaler Störungen.

 

Machiavelli via Kant

Kants Konzept des ewigen Friedens soll "den Strom der rechtsscheuenden feindseligen Neigungen (zum Krieg) aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihres Ausbruchs". Der Idealist Kant war Realist, das sei allen vorgehalten, die die Irrelevanz wertorientierter internationaler Politik zugunsten einer realistischen Konzeption betonen. Und es gibt keinen Zweifel, die Realisten haben im Irak-Konflikt Recht behalten. Verbiegen des Völkerrechts und Feindseligkeit gegenüber dem Islam, einer nicht europäisch-nordamerikanischen Kultur, haben die von Kant vorhergesehene beständige Gefahr eines Krieges wieder einmal Realität werden lassen. Der Permanenz der Kriegesgefahr liegt das machiavellistische Politikverständnis zugrunde, dass allein Macht zur Realisierung von politischen Zielen führe, und Machterhalt damit prioritär sei. Dass aber auch dieses machtorientierte Verständnis internationaler Politik Frieden erhalten kann, zeigt der Realist Kant auf: Macht ist durch Macht einzuhegen, durch eine Föderation von Staaten, die im Inneren die Machtteilung geregelt haben. Ein Festhalten am prinzipiellen Anderssein der Außenpolitik gegenüber der Innenpolitik auch in Demokratien steht der Demokratie der Außenpolitik und damit wahrscheinlich dem Frieden entgegen. Demokratische Globalpolitik ist a priori möglich. Sie bedarf der wechselseitigen Machtkontrolle, der Gewaltenteilung zwischen Staaten und globalen Regionen, eben einer multipolaren Weltordnung. Was a priori möglich ist, muss in der Wirklichkeit politisch gewollt werden. Politisches Wollen aber ist der Beurteilung durch Werte unterworfen. Diese politische Bewertung, gemessen an den Werten, die zu Beginn expliziert wurden, lautet: Eine unipolare Weltordnung ist nicht demokratisch, sie widerspricht den „Westlichen Werten“.

 

Christoph Zöpel *1943;

Wirtschaftswissenschaftler; Mitglied des Deutschen Bundestages, früherer Staatsminister im Auswärtigen Amt, Berlin;
christoph.zoepel@bundestag.de

 

 

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