Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 3/2003

 

 



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Populismus an der Macht
Das Phänomen Berlusconi

Michael Braun* 

Berlusconi kam mit einer politischen Botschaft an die Macht, die ganz auf die außerordentliche Kompetenz seiner Person zugeschnitten ist und das "ineffiziente" Parteiensystem verächtlich macht, aber auch den politischen Gegner dämonisiert. Entscheidend für seinen Erfolg war einerseits das Vakuum, das der Kollaps der Christdemokratie in der konservativen politischen Mitte hinterlassen hatte, und andererseits seine private Kontrolle über die Medien.

 

Parlamentsabgeordneter, Vorsitzender der mit 29,2 Prozent stärksten Partei Italiens, die sich mit ihrer Zugehörigkeit zur Europäischen Volkspartei in der christdemokratisch-konservativen Familie Europas verortet, 1994 erstmals für wenige Monate Ministerpräsident, dann Oppositionsführer und schließlich seit 2001 wieder Regierungschef: Nähme man nur diese Daten zur Kenntnis, dann könnte man Silvio Berlusconi für einen Politiker wie viele andere auch halten. Doch in der italienischen wie in der internationalen Öffentlichkeit stellt Berlusconi zumindest für die westlichen Demokratien eine Ausnahmeerscheinung dar. Der reichste Mann Italiens kontrolliert auch nach seinem Einstieg in die Politik weiterhin eine der mächtigsten Unternehmensgruppen des Landes; vor allem aber ist er der mächtigste Medienunternehmer des Landes und hält ein Quasi-Monopol im privaten Free-TV Italiens.

Ungewöhnlich ist aber nicht nur die Herkunft, sondern auch der Politikstil Berlusconis. Scheinbar ist Berlusconi ein Mann der absoluten Beliebigkeit, der schon bei der Gründung seiner Partei „Forza Italia“ Wahlforscher damit beauftragt haben soll, von links bis rechts die Segmente in der Wählerschaft daraufhin zu untersuchen, wo eine neue Partei die größten Erfolgsaussichten habe; der später in den Wahlrechtsdebatten mal dem britischen, dann dem französischen Majorz- und schließlich dem deutschen Proporzmodell das Wort redete; der mal eine Verfassungsreform nach dem Kanzlermodell, dann eine Präsidialverfassung favorisiert; der zuletzt auch außenpolitisch im Irakkonflikt mit täglich wechselnden Stellungnahmen auffiel.

Als Konstante erwies sich dagegen in nunmehr fast zehn Jahren politischer Aktivität die Inszenierung des eigenen Ich, die Berlusconi ohne Bescheidenheit betreibt. Ob er sich nun als „vom Herrn gesalbt“ bezeichnet oder einen berechtigten „Überlegenheitskomplex“ bescheinigt, ob er verkündet, alle Welt beneide Italien um seinen Regierungschef, oder ob er sich als Gesetzesvater an die Seite Napoleons und Justinians rückt – Berlusconi spitzt die auch in anderen Demokratien gängige Personalisierung der Politik in bisher einzigartiger und bisweilen grotesker Manier zu.

Entsprechend einfach gerät ihm in der Selbstdarstellung das politische Geschäft. In allen bisherigen Wahlkämpfen trat seine Forza Italia mit dem Versprechen einer „italienischen Revolution“, eines „neuen italienischen Wunders“ an und konkretisierte diese Verheißung mit Slogans, die generelle Steuersenkungen bei Erhöhung aller Mindestrenten und einer gleichzeitigen massiven Steigerung der staatlichen Investitionen in Aussicht stellten oder bündig „eine Million neue Arbeitsplätze“ versprachen.

Bürge für die Einhaltung dieser Versprechungen war und ist immer wieder allein Silvio Berlusconi; seine Biographie weise ihn als dem üblichen Politikbetrieb fremden Mann der Tat und des Gelingens aus. Gerade deshalb – weil ihm selbst am Image der eigentlich politikfremden Ausnahmeerscheinung gelegen ist – fällt es ihm auch nicht schwer, gelegentlich mit seiner Inkompetenz zu kokettieren. So berichtete er selbst, auf einem EU-Gipfel habe er als turnusgemäßer Präsident eine halbe Stunde lang eine Diskussion über die KSZE (Konferenz für Sicherheit und Frieden in Europa) geleitet, ohne überhaupt zu wissen, was sich hinter diesem Kürzel verberge.

Dabei ist Berlusconi eine Person, die nach ihrem unternehmerischen auch ihren politischen Erfolg systematisch organisiert hat – und er ist ein Politiker, der sich als Träger einer Mission versteht.

 

Der Aufstieg: Ein Unternehmer in Symbiose mit der Politik

Darf man Berlusconi glauben, dann ist sein unternehmerischer Aufstieg die Geschichte eines self-made-man, der aus dem Nichts heraus, gestützt nur auf die eigenen Fähigkeiten und fern der Politik sein Imperium geschaffen hat. Die Realität allerdings sah anders aus. Berlusconi finanzierte einerseits seine Bau-, dann seine Medienaktivitäten aus bis heute im Dunklen gebliebenen Quellen anonymer Kapitalgeber; in seinen Unternehmen war es Usus, dass bei Kapitalerhöhungen auch Millionensummen bar am Schalter eingezahlt wurden. Andererseits suchte der Unternehmer von Beginn an die Nähe zur Politik. Schon für den Bauunternehmer waren die entsprechenden Kontakte lebenswichtig: Kommunalpolitiker sorgten dafür, dass kommunale Bebauungspläne zu seinen Gunsten geändert wurden; staatlich kontrollierte Banken gewährten Kredit; öffentliche Versicherungsanstalten kauften im großen Stil von Berlusconi errichtete Wohnungen.

Erst recht bediente sich Berlusconi politischer Protektion, als er von Ende der Siebzigerjahre an zum Medienunternehmer mutierte. Anders als seine damaligen Konkurrenten genoss er bei von der Sozialistischen Partei kontrollierten staatlichen Banken unbegrenzten Kredit; er konnte deshalb nicht nur das eigene Network „Canale 5“ erfolgreich aufbauen, sondern durch den Aufkauf zweier weiterer Networks die Konkurrenz faktisch vom Markt verdrängen und schon 1984 eine Quasi-Monopolposition im Privatfernsehen errichten. Dabei bewegte sich Berlusconi weitgehend im rechtsfreien Raum: Italien verfügte über kein die privaten Aktivitäten regulierendes Mediengesetz. Allein ein Spruch des Verfassungsgerichts hatte festgelegt, dass Privat-TV nur auf lokaler Ebene erlaubt sei.

Berlusconi umging diese Norm mit gleich drei Sendern. Als aber 1984 mehrere Richter die Suspendierung des Sendebetriebs verfügten, sprang der damalige Ministerpräsident, der Sozialist Bettino Craxi, seinem persönlichen Freund Berlusconi bei und setzte mit einer Regierungsverordnung die Urteile außer Kraft. Die Sozialisten waren es dann auch, die 1989 gemeinsam mit den Christdemokraten ein Berlusconis Monopolstellung festschreibendes Mediengesetz verabschiedeten, dass einem Anbieter den Besitz dreier Sender gestattete.

Berlusconi revanchierte sich, indem er seine Sender politisch im Interesse der beiden Regierungsparteien zum Einsatz brachte. „Unsere Informationsprogramme werden im Einklang mit jenen stehen, die in Craxi, in Andreotti die Verteidigung der Freiheit sehen“, fasste die Nummer zwei der Berlusconi-Holding Fininvest, Fedele Confalonieri, zusammen. Mit den Sozialisten und der rechten Mehrheit der Christdemokraten teilte Berlusconi das politische Feindbild: die starke Kommunistische Partei. In dieses Bild fügt sich, dass er auch der Geheimloge P2 beitrat, in der die gegen die politische und gesellschaftliche Linke gerichteten Eliten aus Politik, Wirtschaft, Militär, Justiz und Geheimdiensten zusammengefunden hatten.

Berlusconi war also wie kaum ein anderer Unternehmer ein Geschöpf der Ersten Republik; seine Gegner waren die starken linksoppositionellen Kräfte im Land sowie jene Segmente der Regierungsparteien – wie der linke Flügel der Christdemokraten –, die den Dialog mit der Kommunistischen Partei (KPI) suchten.

 

Der erzwungene Einstieg in die Politik

Berlusconi wäre wohl zeitlebens Unternehmer geblieben, wären nicht die Parteien der Ersten Republik Anfang der Neunzigerjahre im Sog der von der Mailänder Staatsanwaltschaft ausgegangenen Korruptionsermittlungen untergegangen. Binnen Monaten zerfielen die Sozialistische Partei Bettino Craxis genauso wie die Christdemokratie. Vom Volkszorn über die bestechliche politische Klasse profitierten einerseits Parteien von rechts wie die faschistische MSI und die populistische Lega Nord; andererseits zeichnete sich mit den Kommunalwahlen von 1993 die Möglichkeit ab, dass ein Linksbündnis um die mittlerweile zur Partei der Demokratischen Linken mutierten ehemaligen Kommunisten die Regierung des Landes erobern könnte.

Für Berlusconi ein enormes Risiko: Auch gegen ihn waren staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen illegaler Parteienfinanzierung und Bilanzfälschung angelaufen. Zudem musste er mit der Modifizierung des Mediengesetzes, sprich mit dem Verlust wenigstens eines seiner drei Sender, rechnen. Drittens war seine Fininvest damals hoch verschuldet; ein neues Mediengesetz hätte auch ihren Zusammenbruch mit sich bringen können. Berlusconis rechte Hand Confalonieri fasste die Gefahr bündig in den Worten zusammen, nach einem Sieg der Linken hätten er und sein Chef wohl entweder unter Brücken geschlafen oder sich gar im Gefängnis wiedergefunden.

Berlusconi reagierte auf diese Situation, indem er binnen weniger Monate seinen Einstieg in die Politik improvisierte. Zunächst gründete er mit Forza Italia eine eigene Partei; hierbei stützte er sich vor allem auf das dichte Netz der Büros seines Tochterunternehmens Publitalia,  das in Italien seine TV-Werbezeiten vermarktet. Zweitens schmiedete er eine Allianz mit jenen politischen Kräften, die wie er einen Sieg der Linken verhindern wollten: einer christdemokratischen Splitterpartei, der sich rasch zur postfaschistischen Alleanza Nazionale wendenden MSI und der Lega Nord. Drittens setzte er – unter Einsatz seines Medienimperiums ebenso wie seiner Geldmittel – einen fulminanten Wahlkampf ins Werk.

Gezielt spielte Berlusconi dabei die Karte der Politikverdrossenheit. Segensreich sei das Wirken der Korruptions-Staatsanwälte gewesen, verkündete er; sie hätten „eine beschissene politische Klasse“ hinweggefegt. Nun sei gegen die „berufslosen Politikaster“ die Stunde des Aufbruchs gekommen. Ein Aufbruch, als dessen Inkarnation er sich selbst inszenierte; nolens volens sei er „aus dem Schützengraben der Arbeit“ in die Politik gegangen, um gegen die „Schwätzer“ von der Linken Italiens Freiheit zu verteidigen; mit seinem Lebenswerk als Unternehmer stehe er für Taten statt für Worte. Der einfache, politikferne Bürger, dem erst im „wirklichen Leben“ und dann auch in der Politik alles gelingt, dies war die Botschaft, die Berlusconi vermittelte und auch beim Parteiaufbau in Anschlag brachte: Forza Italia war, beginnend bei der Wahl des Namens („Italien vor!“), sein Geschöpf; er suchte die Kandidaten aus (unter anderem mit einem Kamera-casting), er schrieb die Hymne der Partei, er wählte die azurblaue Parteifarbe aus und entwarf das Partei-Banner in den Nationalfarben.


Berlusconi spitzt die auch in anderen Demokratien gängige Personalisierung der Politik in bisher einzigartiger und bisweilen grotesker Manier zu.

Berlusconi musste sich von Kritikern in Italien wie im Ausland dafür viel Ironie gefallen lassen – doch er war erfolgreich. Im März 1994 gewann seine Koalition die Wahlen; Forza Italie wurde mit 20 Prozent zur stärksten Partei im Land. Nach dem Sieg allerdings kam das schnelle Scheitern an der Regierung: Die Koalition vor allem mit der Lega Nord erwies sich als reines Negativbündnis gegen die Linke und brach nach wenigen Monaten auseinander. 1996 schließlich gewann das Mitte-Links-Bündnis des „Ölbaums“ die Wahlen und regierte für fünf Jahre bis 2001. Berlusconi schien damit in den Augen der großen Mehrheit der politischen Beobachter erledigt.

Doch er selbst war weitsichtiger als seine Verächter; er hatte nämlich erkannt, dass sein Bündnis mitnichten am Wählervotum gescheitert war: Auch 1996 erreichte Forza Italia wieder 20 Prozent; die Rechtsparteien insgesamt legten sogar zu und überstiegen 52 Prozent. Ihre Niederlage kam einzig dadurch zustande, dass die Lega Nord separat angetreten war und zahlreiche Wahlkreise deshalb an die Linke gefallen waren. Berlusconi konnte durchaus mit Recht behaupten, dass erstens die Linke weiterhin Minderheit im Lande war und dass es ihm zweitens gelungen war, mit seiner Forza Italia im Verbund mit den verbliebenen Partnern jenes Vakuum zu füllen, das im Mitte-Rechts-Segment nach dem Zusammenbruch der alten Regierungsparteien entstanden war. Er zog den nahe liegenden Schluss: Es galt den Bruch mit der Lega Nord zu kitten; ansonsten aber setzte und setzt Berlusconi mit hoher Konstanz jene Politik fort, die er 1994 zunächst überstürzt und improvisiert begonnen hatte.

 

Das permanente Plebiszit

Forza Italia (FI) entstand 1994 in Personal und Ausstattung gleichsam als Tochterunternehmen der Fininvest, und immer wieder wurde FI als „Plastikpartei“ eines Telekraten verspottet. Diese Phase hat die Organisation mittlerweile hinter sich gelassen; FI ist im ganzen Land mit Ortsvereinen und Parteibüros verankert. Nicht zuletzt gelang eine Verbreiterung des politischen Personals auf lokaler wie nationaler Ebene. Neben den direkt aus den Berlusconi-Unternehmen stammenden Aktivisten stehen heute zahlreiche Politiker, die in der Christdemokratie und in der Sozialistischen Partei ihre Karrieren begonnen hatten.

Weiterhin aber ist FI eine autokratisch geführte Partei geblieben. Berlusconi, ihr „Presidente“, hat sich nie einem Parteitagsvotum stellen müssen. „Präsidial verfasst“ sei FI, erklärt er selbst – und meint damit, dass er seinem Geschöpf als Monarch vorsteht. Der engere Führungszirkel ebenso wie alle relevanten Entscheidungsträger auf nationaler wie regionaler Ebene werden von Berlusconi nominiert, Zwiste durch ein Machtwort des Partei-Präsidenten entschieden. Und wer sich seinen Entscheidungen entgegenstellt, muss mit dem abrupten Ende seiner politischen Karriere rechnen.

Dieser Führungsstil ist durchaus adäquat: Forza Italia ist und bleibt eine Partei ad personam, in der die Seilschaften unterschiedlicher Provenienz allein durch die Treue zum Vorsitzenden zusammengehalten werden; träte Berlusconi von der politischen Bühne ab, so wäre ihr Überleben unmittelbar in Frage gestellt, denn er allein verkörpert – wie in populistischen Parteien üblich – in seiner Person das Erneuerungsversprechen einer „italienischen Revolution“, das Forza Italia für die Wähler bereithält.

Auch das politische Angebot, das Berlusconi seinen Wählern unterbreitet, ist weitgehend konstant geblieben. Berlusconi argumentiert einerseits weiterhin sehr prinzipiell: Obwohl er seit nun bald zehn Jahren politisch aktiv ist, geriert er sich bis heute als der große Antagonist zum gewöhnlichen Politikbetrieb. Politiker nennt er gemeinhin „Politikaster“, die in ihrem Leben noch nie gearbeitet hätten, ja, die oft genug nicht einmal ihr Studium zu Ende gebracht hätten, und gerne bedient er sich der gesamten populistischen Klaviatur der Parteien- und Politik-Kritik: Die hergebrachten Parteien seien Machtkartelle, die auf Ausbeutung statt auf Dienst am Bürger zielten, die Prozeduren des Parlamentarismus verhinderten schnelle und effektive Entscheidungen, der Staat sei bisher vor allem damit beschäftigt, die Bürger zu gängeln.

Auf die andere Seite der Waagschale legt Berlusconi nicht nur sein allgemeines Versprechen, in einer „Revolution“ die Bürger vom Elend der bisherigen Politik zu befreien und damit die Voraussetzungen eines „neuen italienischen Wunders“ zu schaffen. Zugleich unterfüttert er diese Verheißung mit ebenso „konkreten“ wie unerfüllbaren Versprechungen. So stellte er 1994 eine Million neue Arbeitsplätze in Aussicht, und so versprach er vor seinem Wahlsieg 2001 „weniger Steuern für alle“ bei gleichzeitiger Anhebung der Mindestrenten auf gut 500 Euro im Monat wie auch einer allgemeinen massiven Steigerung der staatlichen Infrastrukturinvestitionen.


Berlusconi ist es gelungen, mit seiner Forza Italia im Verbund mit den verbliebenen Partnern jenes Vakuum zu füllen, das im Mitte-Rechts-Segment nach dem Zusammenbruch der alten Regierungsparteien entstanden war.

Wenn er einmal Konkretisierungen vornimmt, dann allerdings gibt er sich als überzeugter Neoliberaler zu erkennen. So favorisiert er in der Fiskalpolitik die Einführung von nur noch zwei Steuersätzen – von 23 und 33 Prozent –, sprich: eine drastische Entlastung der oberen Einkommen ebenso wie der Unternehmen; so will er zum Beispiel in der Gesundheits- und der Schulpolitik in Zukunft massiv private Anbieter fördern.

Als Gegner in seinem populistisch-neoliberal geprägten Politikentwurf erscheinen aber nicht bestimmte Bevölkerungsgruppen (Arbeitslose, Leistungsempfänger etc.), sondern allein die „Apparate“ der „Alt-Parteien“ (von der Linken) oder der Gewerkschaften. Negativ besetzte Angstkampagnen führte und führt Berlusconi nur zu dem Themenkomplex Kriminalität/Immigration. Jahrelang zeichnete er das Bild einer aus dem Ruder laufenden Immigration und – „in ihrer Folge“ – explodierender Kriminalitätsraten. Wahr ist das Gegenteil. Während Berlusconi von einer „Verdreifachung der Verbrechen“ redete, sank in Italien die Kriminalität quer durch die Deliktgruppen Einbruch, Diebstahl, Raub, Mord. Umgekehrt argumentiert Berlusconi, seit er regiert, die Verbrechen zurückgedrängt zu haben (die einem nunmehr mehrjährigen Trend folgend schlicht wie gehabt weiter sinken) und gibt den Grund unter anderem mit der aberwitzigen Zahl an, er habe die illegale Einwanderung „um 247 Prozent gesenkt“. Berlusconi argumentiert auf diesem Feld faktenfrei – aber gestützt durch seine Medienmacht: Nachrichten- und Magazinprogramme seiner Sender waren vor den Wahlen von 2001 voller alarmierender Meldungen über vorzugsweise von Ausländern begangene Delikte; seit dem Wahlsieg dagegen hat eine radikale Wende in der Berichterstattung stattgefunden.

Wie in den Frühzeiten von Forza Italia aber ist Silvio Berlusconi selbst das Hauptargument in allen Wahlkämpfen. In einem nur aus Diktaturen bekannten Personenkult inszeniert er sich selbst als einzigartige Success-Story:

„Es gibt weltweit keinen, der beanspruchen könnte, sich mit mir zu vergleichen, keinen unter den Protagonisten der Politik, der meine Vergangenheit, der eine Geschichte wie ich hätte. Wenn man die Personen betrachtet, dann gibt es einen, der im Vorteil ist, und das bin ich. ... Meine Fähigkeit steht außerhalb jeder Diskussion, von meiner menschlichen Substanz und meinem Werdegang können die anderen nur träumen.“

„Ich muss mich mit Leuten auseinandersetzen, die im Leben nichts geleistet haben, ... die bloß auf der Bühne sind, weil sie eine Partei geerbt haben. Ich, der ich meine Partei aus dem Nichts aufgebaut habe, der ich eine Unternehmensgruppe besitze, die sich an der Börse glänzend entwickelt – ich werde mit Leuten auf eine Stufe gestellt, die in meiner Firma nicht mal einen Job als Archivare bekämen.“

Im letzten Wahlkampf wurde ein Fotoalbum an alle italienischen Haushalte versandt, in dem schon dem zehnjährigen Silvio von ehemaligen Lehrern „Genialität“ bescheinigt und in dem auf 128 Seiten mit über 200 Fotos der Erfolgsweg Berlusconis ausgebreitet wurde. Immer wieder legt Berlusconi den Wählern nahe, er werde das „Unternehmen Italien“ genauso erfolgreich führen wie seine eigene Holding. Den anderen Forza-Italia-Politikern ist es überlassen, in diesen Chor einzustimmen, die einzigartige Tatkraft ihres „Presidente“ zu preisen, oder zu verlautbaren, es sei „eine Tragödie, wenn ich mal eines Tages zwischen meiner Familie und Berlusconi wählen müsste“ (so der Parteisprecher Sandro Bondi). In dieses Bild fügt sich, dass im letzten Wahlkampf – einer von Berlusconi mit acht Monaten Vorlauf begonnenen Materialschlacht – ausschließlich das Konterfei von Berlusconi geklebt werden durfte, während die Wahlkreiskandidaten allein mit ihrem Namen, nicht aber mit ihrem Bild werben durften.

Sind das Spielen mit populistischen Argumenten oder die wachsende Personalisierung der Politik aber durchaus noch Elemente, die sich auch im Wirken anderer, „gewöhnlicher“ demokratischer Parteien finden lassen, so gilt dies gewiss nicht für den Umgang Berlusconis mit dem politischen Gegner.

Obwohl Italien ganz so wie andere Länder das Zeitalter der Ideologien hinter sich gelassen hat, tut Berlusconi so, als werde heute immer noch der Kampf zwischen Demokratie und Kommunismus ausgefochten: ein Antikommunismus ohne Kommunisten, eine Ideologisierung ohne Ideologien wurde zum zentralen Instrument seiner politischen Propaganda. Schon 1994 verkündete er, er müsse Italien vor einer „illiberalen Zukunft“ retten; und seitdem lässt er zu jedem Urnengang wissen, dies könnten „die letzten freien Wahlen in Italien“ sein. Folgerichtig erklärte Berlusconi in seinen Oppositionsjahren 1995-2001 immer wieder, Italien lebe unter einem „roten Regime“: „Italien ist keine Demokratie, sondern ein Polizeistaat, ein im Westen einmaliger Staat, dessen Regierung von einer linksextremen Partei gestützt wird, die immer noch an Karl Marx und Friedrich Engels glaubt.“


„In Italien ist zum ersten Mal etwas noch nie da Gewesenes geschehen. Seitdem die Menschheit jene wahnsinnige Ideologie kennen gelernt hat, die sich Kommunismus nennt, ist es noch nie passiert, dass der Kommunismus, einmal an der Macht, sie dank freier Wahlen wieder aufgegeben hätte: In Italien ist dies mit dem Votum des 13. Mai geschehen.“

Zugleich suggerierte er – ohne je Beweise beizubringen -, die Mitte-Links-Allianz sei durch Wahlbetrug an die Macht gelangt. Die auf Dämonisierung und Delegitimierung des Gegners zielende Kampagne steigerte sich nach 1998: Nachdem Romano Prodi als Ministerpräsident durch Massimo D’Alema abgelöst worden war, erklärte er angesichts des für D’Alemas Parlamentsmehrheit entscheidenden Umschwenkens einiger Abgeordneter aus dem Berlusconi-Lager, die neue Regierung sei illegitim, weil durch Verrat am Wählervotum zustande gekommen. Diese Kampagne gegen die „Usurpatoren“ der Macht sollte er bis 2001 durchhalten.

Nach seinem Wahlsieg dann sah er durch den reibungslosen demokratischen Wechsel seine Propaganda keineswegs widerlegt, sondern feierte einen grotesken historischen Erfolg: „In Italien ist zum ersten Mal etwas noch nie da Gewesenes geschehen. Seitdem die Menschheit jene wahnsinnige Ideologie kennen gelernt hat, die sich Kommunismus nennt, ist es noch nie passiert, dass der Kommunismus, einmal an der Macht, sie dank freier Wahlen wieder aufgegeben hätte: In Italien ist dies mit dem Votum des 13. Mai geschehen.“

Die Tatsache, dass Berlusconi sich also auch nach seiner Rückkehr an die Regierung als Scharfmacher betätigt, wäre mit dem Begriff „permanenter Lagerwahlkampf“ nur unzureichend charakterisiert. Wenn Berlusconi systematisch auf die Polarisierung gegenüber dem politischen Gegner zielt, wenn er trotz der Tatsache, dass in der italienischen Politik die Linke schon lange nicht mehr für ökonomische oder gar politische Systemalternativen ficht, ebenso systematisch das Bestehen eines demokratischen Grundkonsenses negiert, dann leistet er mehr. Zum einen vermittelt er die Botschaft – dafür stehen die permanenten Angriffe auf  die „Kommunisten“ – dass es bei Wahlen in Italien keineswegs um das ganz gewöhnliche demokratische Alternieren zwischen einander respektierenden, konkurrierenden Kräften geht, sondern um eine Schicksalsentscheidung, in der er selbst die Rolle des „ganz Anderen“ gegenüber der Konkurrenz spielt, dem es obliegt, „die Demokratie zu retten“. Es ist verräterisch, dass bei Berlusconi die Kritik an der „Partitokratie“ der Ersten Republik, am angeblich übermächtigen, gängelnden Staat und an den „Kommunisten“ ganz selbstverständlich zusammenfließt, etwa in der Behauptung, er habe das Land aus 50-jähriger roter Hegemonie befreit – so als hätten die Christdemokraten nie regiert: 

Berlusconi bedient so den bei vielen konservativen Wählern Italiens tatsächlich in eins fließenden Affekt gegen die Linke und gegen den Staat; damit erhebt er deren Ärger über zu hohe Steuern oder einschränkende Regelungen in den Rang eines Freiheitskampfes.

Zum anderen fügt sich in diese Logik der von Berlusconi angeführten „Volksrevolution“  gegen das „Regime“ der roten „Politikaster“, dass letztere nur Usurpatoren der Macht sein können, während Berlusconi sich selbst auch in Oppositionszeiten zum eigentlichen Vertreter der Mehrheit, des Volkswillens erklärte. Das Reden von der illegitim amtierenden Regierung, das geradezu manische Hinweisen auf Meinungsumfragen, die ihm dagegen recht gäben, oder die 1995 aufgestellte, ungeheuerliche Behauptung, die „Kommunisten“ wollten ihn „auch physisch eliminieren“, signalisierten eben dies: Ein Berlusconi, der sich als vorgeblicher Vollstrecker des Volkswillens gegen „die Politik“ in die Politik begeben hat, kann sich höchstens deshalb auf den Oppositionsbänken wiederfinden, weil er mit unlauteren Instrumenten um seinen verdienten Erfolg gebracht worden ist.

In dieser Logik – in der Demokratie nur dann wirklich herrscht, wenn er selbst die Wahlen gewonnen hat – erhebt Berlusconi sich populistisch in den Rang des Sprachrohrs der „einfachen Leute“, der immer wieder beschworenen „übergroßen Mehrheit“, und macht sich zugleich zum Verfechter einer plebiszitären Demokratie, in der ganz gewöhnliche Parlamentswahlen zum Votum für den Retter des Landes werden: „Es wäre wirklich schwerwiegend, wenn ein von den Leuten Gewählter, ein vom Herrn Gesalbter – denn es ist etwas Göttliches darin, von den Leuten gewählt zu werden – daran denken könnte, das von den Bürgern gegebene Mandat zu verraten.“ „Die Menschen haben verstanden, dass es hier einen Revolutionär gibt, der das Land verändern will und der zur Glückseligkeit aller regieren will.“

Nicht zuletzt gestützt auf seine enormen finanziellen Mittel und wohlwollend begleitet von den Medien seines Konzerns – neben seinen drei TV-Sendern auch die größte politische Wochenzeitung, die größte TV-Programmzeitschrift sowie zwei formal Bruder und Ehefrau gehörende Tageszeitungen – gelang es Berlusconi so, seit 1994 alle Wahlgänge vorneweg zu einer Abstimmung über seine Person zu machen. Zwar blieben dann die Resultate von den jedes Mal seinerseits vorhergesagten Erdrutschsiegen entfernt. Erstens aber gelang es Berlusconi, stabil zwanzig Prozent – und 2001 sogar annähernd dreißig Prozent - der Wähler zu einem Votum für Forza Italia zu bewegen. Zweitens erreichte er sowohl 1994 als auch 2001 mit seiner Koalition den Sieg; 2001 betrug der Abstand in den Wahlkreisen (wo 75 Prozent der Parlamentssitze nach Mehrheitswahlrecht britischen Musters vergeben werden) gegenüber den Mitte-Links-Parteien nur knapp zwei Prozent, dies reichte aber für deutliche Mehrheiten in beiden Kammern. Drittens schließlich setzte Berlusconi sich im Laufe der Jahre auch innerhalb des Rechtsbündnisses als eindeutiger Hegemon durch: Während seine Forza Italia 1994 deutlich weniger als die Hälfte der Rechtsstimmen verbuchen konnte, ist sie heute deutlich stärker als alle anderen Partner zusammen.

Berlusconi mag also von einer plebiszitären Investitur durch die per Meinungsumfragen regelmäßig beschworenen übergroßen Mehrheit der Italiener noch weit entfernt sein – doch mehrheitsfähig ist er mit seinem populistisch-plebiszitären Politikstil gewiss geworden.

 

Die Wählerschaft

Erst der rasante politische Aufstieg Berlusconis, dann die stabil verzeichneten positiven Wahlresultate mögen überraschend erscheinen – wenn man vom Bild eines nüchtern-rational abwägenden Wählers ausgeht und wenn man zudem den italienischen Kontext ausblendet.

Italien war nach dem II. Weltkrieg über fünfzig Jahre lang einerseits ein Land, in dem die ideologische Polarisierung eine große Rolle spielte; andererseits kam den Parteien rechts wie links eine überragende Rolle im politischen Geschehen zu: Das Land war eine „blockierte Demokratie“, in der der Wechsel zwischen der Regierung und der (kommunistischen) Opposition ausgeschlossen war, in der die Parteien stärker als gemeinsam anerkannte demokratische Institutionen und Prozeduren die Loyalität ihrer Anhänger beanspruchen konnten. Ideologische Ansprache der Wählerschaft einerseits, dazu eine vor allem von Seiten der Regierungsparteien – erst der Christdemokraten, später auch der Sozialisten – in breitem Maßstab praktizierte Klientelpolitik andererseits, die in einem direkten Tausch zwischen Votum und gewährter Gefälligkeit an den unmittelbaren persönlichen Vorteil des Wählers appellierte, sorgten dafür, dass ein abstrakter, den demokratischen Institutionen geltender Konsens in Italien nie Allgemeingut wurde.

Die Schwächung stabiler Parteibindungen im Zuge von Entideologisierung und Individualisierung macht natürlich keineswegs eine Besonderheit Italiens im Konzert der westlichen Demokratien aus – wohl aber die explosionsartige Parteienkrise im Zuge der Korruptionsskandale Anfang der Neunziger Jahre. Vordergründig brach diese Krise aus, weil große Teile der Wählerschaft sich, erzürnt ob der Korruptheit vor allem der Regierungsparteien, enttäuscht abwandten. Faktisch aber spielte eine entscheidende Rolle, dass in Zeiten knapper Kassen der jahrzehntelang gehandhabte klientelistische Tausch nicht mehr praktizierbar war und stattdessen die Regierungen der Ersten Republik sich ihre eigenen Anhänger mit einem Mix aus stetig sinkenden Leistungen sowie steigenden Steuern entfremdeten, während spätestens nach dem Mauerfall die Bindekraft der Ideologien deutlich schwächer geworden war.

Tangentopoli – dies der in Italien geprägte Begriff für den Großskandal um das verbreitete Schmiergeldregime - wurde in Italien wie auch im Ausland gern als Revolte mündiger Bürger missverstanden, die sich ihrer korrupten Politiker entledigten. Nicht wahrgenommen wurden die populistischen Züge des Unmuts: Bezeichnend war hier gerade die Verengung auf die politische Korruption – so als sei Italiens enormes Staatsdefizit allein durch diebische Politiker und nicht vorwiegend durch die flächendeckende Klientelpolitik produziert worden. Auf der einen Seite gab es die schmutzige Politik korrupter Parteien, auf der anderen die saubere Zivilgesellschaft – ganz so, als hätten nicht jahrzehntelang Millionen Wähler ihrerseits von der Klientelpolitik profitiert.


Berlusconi bedient den bei vielen konservativen Wählern Italiens tatsächlich in eins fließenden Affekt gegen die Linke und gegen den Staat; damit erhebt er deren Ärger über zu hohe Steuern oder einschränkende Regelungen in den Rang eines Freiheitskampfes.

In dieser Haltung versteckte sich einerseits das Ressentiment enttäuschter Klientelgruppen, die angesichts der über Jahre praktizierten Politik spezifischer Vergünstigungen – beginnend bei dem den Selbständigen faktisch konzedierten Recht, Steuern zu hinterziehen, bis hin zu Vorrechten für bestimmte Arbeitnehmer- und Selbständigengruppen bei wichtigen Sozialleistungen oder zu individueller Begünstigung bei Einstellungen im Öffentlichen Dienst – ihr Verhältnis zu Politik und Parteien immer bloß im engen Horizont konkreter, individueller Vorteile definiert hatten. Neben dem Ressentiment aber spielten natürlich auch handfeste Interessen eine Rolle: vorneweg nun das Interesse des „Rette sich wer kann“, das Interesse daran, in Zeiten der Stabilisierungspolitik und der Haushaltskonsolidierung vom Staat nicht zur Kasse gebeten zu werden.

Vor diesem Hintergrund erscheint das von Berlusconi unterbreitete politische Angebot der Nachfrage seitens der Wählerschaft durchaus adäquat. Denn Berlusconi deckt übergreifend ein breites Spektrum der Bürger ab und konnte so Forza Italia zu einer echten Volkspartei machen. Verantwortlich hierfür ist ein gelungener Mix verschiedener Elemente.

Ideologische Ansprache. Jene Wähler, die mit dem Wegbrechen der Christdemokratie, aber auch der Sozialisten gleichsam verwaist sind, die nach fünfzigjähriger harter innenpolitischer Konfrontation einen Sieg der Linken als Erfolg der „Kommunisten“ fürchten oder die schlicht in der italienischen Linken die Partei etatistischer Lösungen sehen, sind durch Berlusconis scharfe Polemik gegen den innenpolitischen Gegner bestens bedient. Die Wahlforschung zeigt, dass dieses Motiv für große Teile der christlich-konservativen Wählerschaft vorrangig ist gegenüber einer positiven Übereinstimmung mit Berlusconi.

Interessen. Berlusconi hat es immer vermieden, seine Partei als Vertreterin spezifischer gesellschaftlicher Interessen zu profilieren. Dennoch ist zum Beispiel in seinen Vorschlägen zur Steuerpolitik oder zur Schwächung der wie die „Altparteien“ zum verkrusteten System gerechneten Gewerkschaften durchaus deutlich, wer die Nutznießer seiner Politik sein sollen. So gewann der Berlusconi-Block unter Unternehmern bei der Erststimme (Wahlkreis) im Jahr 2001 63,4 Prozent, unter Händlern und Handwerkern 54,2 Prozent (gegenüber 45,4 Prozent in der Gesamtbevölkerung) – ein kaum zu unterschätzendes Resultat angesichts der Tatsache, dass auch heute noch ca. sechs Millionen Personen und damit knapp dreißig Prozent der Erwerbsbevölkerung in Italien selbständig tätig sind.

Hoffnungen. Berlusconi setzte und setzt in seiner Wahlpropaganda einerseits auf konkrete Versprechungen einer besseren Zukunft. Hierzu gehören die in Aussicht gestellten Resultate am Arbeitsmarkt („eine Million neue Arbeitsplätze“) ebenso wie das Lockangebot für die gut sieben Millionen Rentner, die im Jahr 2001 mit weniger als 500 Euro pro Monat auskommen mussten („525 Euro Mindestrente“). So gewann das Berlusconi-Lager 2001 unter den Arbeitslosen 57 Prozent, unter den über 65-Jährigen erreichte allein Forza Italia vierzig Prozent (gegenüber 29 Prozent in der Gesamtbevölkerung). Mindestens ebenso wichtig wie die konkreten Versprechen war aber wohl die allgemeine Verheißung, mit Berlusconi gebe es das „neue italienische Wunder“. Hier spielte seine Medienmacht eine zentrale Rolle; immerhin 77 Prozent der Wähler gaben 2001 an, das Fernsehen sei im Wahlkampf ihre erste Informationsquelle gewesen. Es ist bezeichnend, dass die Stimmabgabe für Berlusconi sich direkt proportional zum TV-Konsum verhält (siebzig Prozent der Berlusconi-Wähler sehen die Nachrichten seiner Sender, RAI-Zuschauer dagegen votierten mit deutlichem Übergewicht für Mitte-Links), dass sie umgekehrt proportional zur Zeitungslektüre und zur Informiertheit über Politik ist.

Vor diesem Hintergrund gelang es dem Berlusconi-Bündnis, vor allem bei den Frauen klar zu siegen. So erhielt Forza Italia 37 Prozent der weiblichen, aber nur 27 Prozent der männlichen Proporzstimmen. Dies ist auf das Wahlverhalten der Hausfrauen zurückzuführen, bei denen Forza Italia auf fast 45 Prozent kam. Berufstätige Frauen, politisch informierte Frauen, Frauen mit TV-Konsum unter zwei Stunden täglich wählten hingegen vorwiegend Mitte-Links.

Ängste. Vor dem Hintergrund des eben Gesagten wird auch klar, warum die von Berlusconi über Jahre kontrafaktisch vorgetragene Kampagne gegen Immigration und Kriminalität so erfolgreich sein konnte. Er selbst schuf mit seiner Partei, seinen Alliierten, vorneweg aber seinen eigenen Medien bei stetig sinkenden Kriminalitätsraten jenes Bedrohungsgefühl, das Slogans wie „endlich sichere Städte!“ plausibel erscheinen ließ – und nach seinem Wahlsieg sorgt er samt seinen Medien mit teils erfundenen Erfolgen, vor allem aber mit dem plötzlichen, radikalen Verzicht auf Sensationsberichterstattung über Rumänenbanden oder die albanische Mafia dafür, dass wieder Ruhe eingekehrt ist.

 

Die Politik der Regierung Berlusconi:
Vom Konsensmodell zur Mehrheitsdemokratie „all’italiana“

Anders als 1994 gelang es Berlusconi 2001, eine über eine reine Negativ-Allianz gegen die Linke hinaus tragende Koalition zu schmieden, zu der neben den Dauerpartnern – der postfaschistischen Alleanza Nazionale und der christdemokratischen UDC – auch wieder die Lega Nord unter Umberto Bossi zählt. Ausschlaggebend hierfür war, dass Bossi eingesehen hatte, dass er nur an der Seite Berlusconis regierungsfähig werden konnte, nicht zuletzt weil das spezifische Gewicht der Lega in den letzten Jahren deutlich gesunken ist (Proporzstimmen 1996 gut zehn, 2001 knapp vier Prozent).

Berlusconi hat deshalb heute angesichts deutlicher Mehrheiten in beiden Kammern des Parlamentes alle Chancen, mit seiner italienischen Revolution Ernst zu machen – und er zeigte in den ersten zwei Amtsjahren, dass er entgegen der Vermutung vieler Protagonisten des Mitte-Links-Lagers auch in der Regierung seinen polarisierenden Kurs beizubehalten gedenkt. Berlusconi ist insofern durchaus kohärent: Er hat nie weniger versprochen als das Ende der italienischen Konsensdemokratie.

Jahrzehntelang nämlich war die nach dem II. Weltkrieg entstandene italienische Demokratie trotz – oder gerade wegen – der hohen innenpolitischen Polarisierung zwischen den Regierungsparteien einerseits, der mächtigen KPI andererseits, von einem starken Zwang zum Konsens geprägt. Proporzwahlrecht ohne Sperrklausel, starke Stellung des Parlaments (und in ihm der Opposition), schwache Stellung der Regierung (und in ihr des Ministerpräsidenten); Zersplitterung der Koalitionen sowie Präsenz starker gesellschaftlicher Gegenkräfte beginnend bei den Gewerkschaften zwangen die Exekutive zu einer kontinuierlichen Politik des Ausgleichs und des Konsenses mit der Opposition.


Auf der einen Seite gab es die schmutzige Politik korrupter Parteien, auf der anderen die saubere Zivilgesellschaft – ganz so, als hätten nicht jahrzehntelang Millionen Wähler ihrerseits von der Klientelpolitik profitiert.

Nach der Krise der Ersten Republik und dem Zusammenbruch der sie tragenden Parteien zu Beginn der neunziger Jahre hatte Italien eine höchst unvollständige politische Reform erlebt, die sich im Wesentlichen auf die Einführung eines neuen Wahlrechts beschränkte, wonach nun drei Viertel der Sitze im Parlament nach Mehrheitsmodus britischen Musters sowie ein Viertel nach Proporz mit Vier-Prozent-Sperrklausel vergeben werden. Diese Modell sorgt gewiss für Mehrheiten und schafft damit eine entscheidende Voraussetzung für Regierungsfähigkeit: Die Berlusconi-Koalition verfügt in der Abgeordnetenkammer über 370 der 630 Sitze. Italien hat jedoch sein Institutionengefüge nicht an den Übergang zur Mehrheitsdemokratie angepasst. Mit anderen Worten: Das Land ist trotz Berlusconis plebiszitär-populistischen Politikstils weiterhin vom Übergang zu einer plebiszitären Demokratie weit entfernt. Berlusconi mag zum Beispiel das Parlament als „teatrino“ – als lästiges Theater – abtun oder sich darüber beklagen, dass er gar nicht die Vollmachten eines Chirac oder Blair habe, muss er bisher doch mit den mühsamen Prozeduren des italienischen Parlamentarismus leben. Mit gutem Grund sieht er hierin einen elementaren Widerspruch zu seinem plebiszitären Modell, in dem vermittelnde Instanzen zwischen dem Willen der „überwältigenden Mehrheit“ der Wähler und dem von ihnen betrauten starken Mann nicht vorgesehen sind – und erst recht nicht Gegengewichte.

Berlusconi sucht dieses Problem auf seine Weise zu lösen: indem er alle noch bestehenden und der kompletten Machtentfaltung der Rechtskoalition entgegenstehenden Kräfte in den staatlichen Institutionen, in der Politik und der Gesellschaft schwächt und möglichst beseitigt. Immer gleich dabei ist, passend zu seinem plebiszitären Ansatz, die Argumentationslinie Berlusconis: Sie besteht in dem schlichten Hinweis, die Rechte habe schließlich die Mehrheit der Wähler hinter sich, während alle Gegenkräfte von der unabhängigen Justiz über ein kritisches Staatsfernsehen zu starken Gewerkschaften Überbleibsel der Proporz- und Konsensdemokratie seien – so als gebe es in den klassischen Mehrheitsdemokratien keine checks and balances! Justiz-, Medien- und Sozialpolitik waren bisher die Felder, auf denen die Regierung den Übergang zu einer Mehrheitsdemokratie all’italiana erprobte, um schließlich in den letzten Monaten zum zentralen Kern vorzustoßen: zur Verfassungsreform.

 

Die Justizpolitik

Eine umfassende Reform der Justiz gehört seit je zu den politischen Zielen Silvio Berlusconis. Es ist kein Geheimnis, dass hier die persönliche Betroffenheit des italienischen Ministerpräsidenten eine unmittelbare Rolle spielt: Seit Jahren verfolgt die Mailänder Staatsanwaltschaft ihn unter dem Verdacht zahlreicher Straftaten, die er als Unternehmer begangen haben soll und die von Bilanzfälschung zu Korruption und Richterbestechung reichen. Teils erhielt Berlusconi bisher Freisprüche (während jedoch enge Mitarbeiter verurteilt und von Berlusconi nicht etwa entlassen, sondern mit Parlamentssitzen belohnt wurden), teils wurden Verfahren wegen Verjährung eingestellt.

Auf die noch laufenden Verfahren reagiert Berlusconi nicht etwa in der Weise, dass er sich den Gerichten stellt und die Vorwürfe entkräftet. Stattdessen wählte er eine andere Strategie: In den Verfahren spielen seine Anwälte auf Zeit und verschleppen die Verhandlungen mit immer neuen Einsprüchen. Zugleich aber hat Berlusconi zahlreiche seiner Verteidiger auf den Listen von Forza Italia ins Parlament wählen lassen – damit sie dort per Justiz-„Reform“ ihr Werk vollenden. Schon im Jahr 2001 gelang so die Verabschiedung eines Gesetzes, das die Bilanzfälschung zum puren Bußgeldtatbestand herunterstuft; gleich drei Prozesse gegen Berlusconi stehen deshalb vor der Einstellung.

Weiterhin aber muss der Ministerpräsident sich vor einer Kammer in Mailand gegen den gravierenden Vorwurf der Richterbestechung verteidigen. Seine Anwälte beantragten wiederholt die Verlegung des Prozesses in eine andere Stadt, da in Mailand die Voraussetzungen für ein unbefangen geführtes Verfahren nicht gegeben seien. Als alle diese Anträge negativ beschieden wurden, reagierte Berlusconi auf seine Weise: indem er die Rechtslage ändern ließ. Nach monatelangen, äußerst heftigen Auseinandersetzungen im Parlament wurde ein Gesetz verabschiedet, das in Zukunft die Verlegung von Prozessen schon dann vorsieht, wenn der Angeklagte den „legitimen Verdacht“ auf fehlende Unbefangenheit am bisherigen Gerichtsstand hegt. Berlusconis Anwälte in Mailand – und in Personalunion Vertreter der Forza Italia im Rechtsausschuss des Parlaments – stellten umgehend den Antrag auf Verlegung, der aber vom Kassationsgericht abschlägig beschieden wurde.


Die von Berlusconi beklagte „Politisierung“ der Justiz soll ausgerechnet dadurch bekämpft werden, dass die Regierungsmehrheit einen umfassenden politischen Zugriff auf die Justiz erhält.

Auf diesen letzten Entscheid reagierte Berlusconi so, wie er bisher auf die Ermittlungen der Mailänder Staatsanwaltschaft geantwortet hatte: Weit entfernt davon, sich der Justiz zu beugen, ging er zum Generalangriff über und erklärte, „rote Roben“ verfolgten ihn politisch – obwohl es um sein Wirken als Unternehmer geht. Nach dem Beschluss des Kassationsgerichts wandte er sich in einer Fernsehrede an die Nation, in der er argumentierte, angesichts der Tatsache, dass er die Mehrheit der Wähler hinter sich habe, sei es ein Unding, dass die Dritte Gewalt sich anmaßen wolle, über ihn zu richten.

Es wäre jedoch verkürzt, Berlusconis Politik auf die Lösung seiner ganz persönlichen prozessualen Probleme zusammenzuziehen. Weitergehend plant nämlich die italienische Rechtskoalition Reformen, die es ein für alle Mal der Justiz verunmöglichen sollen, mit Ermittlungen und Prozessen in den Gang der Politik einzugreifen. Zu den geplanten Vorhaben gehört nicht nur die Wiedereinführung einer umfassenden Immunität der Abgeordneten – es war Usus in der Ersten Republik, deren Aufhebung so gut wie nie zu gewähren -, sondern auch die direkte Schwächung der Unabhängigkeit der Justiz. Bisher ist die gesamte Justiz dem Zugriff der Exekutive weitgehend entzogen; der mehrheitlich durch Richter und Staatsanwälte gewählte Oberste Justizrat entscheidet über Beförderungen, Versetzungen, Disziplinarverfahren, und auch die Weisungsbefugnis des Justizministers gegenüber Staatsanwälten ist in Italien unbekannt. Die Berlusconi-Koalition hat nun ein umfassendes Reformwerk vorgelegt, das an diesem Punkt ansetzt: In Zukunft sollen die Staatsanwälte von den Richtern getrennt und dem Justizministerium untergeordnet werden. Ein wichtiges Korrektiv der italienischen Politik wäre damit ausgeschaltet. Zudem erwägt die Rechtskoalition, in Zukunft die Staatsanwälte durch die (nationalen und regionalen) Parlamente wählen zu lassen. Die von Berlusconi beklagte „Politisierung“ der Justiz soll also ausgerechnet dadurch bekämpft werden, dass die Regierungsmehrheit einen umfassenden politischen Zugriff auf die Justiz erhält.

 

Die Medienpolitik

Auch auf dem Feld der Medien ist Silvio Berlusconi als Inhaber des größten Medienimeriums des Landes in besonderer Weise direkt betroffen. Berlusconi dachte - trotz des gegenteiligen Versprechens einer schnellen Regelung unmittelbar nach der Machtübernahme - aber nicht etwa daran, diesen Interessenkonflikt zwischen unternehmerischer und politischer Rolle zu lösen; der Gesetzesvorschlag hierzu wandert immer noch durch die Parlamentsausschüsse. Auch wenn er verabschiedet würde, hätte Berlusconi nichts zu befürchten: Ihm wird einzig die operative Leitung seiner Unternehmen untersagt, die er schon 1994 in die Hände vertrauter Manager gelegt hat. Statt einer befriedigenden Regelung des Interessenkonflikts jedoch widmete sich die Rechtsregierung mit umso größerem Eifer der staatlichen RAI.

Auch in dem staatlichen Sender galt bisher ein ungeschriebenes Konsensmodell: Der Regierungsmehrheit stand die – von den beiden Parlamentspräsidenten berufene – Senderspitze, die Mehrheit im Verwaltungsrat sowie der Zugriff auf die Mehrheit der Chefredaktionen zu, doch auch die Opposition wurde mit der Kontrolle über wenigstens einen Kanal und eine Nachrichtenredaktion entschädigt. Formal hielt nach dem turnusgemäßen Ausscheiden des bisherigen Verwaltungsrates im Februar 2002 auch die Rechtskoalition an diesem Arrangement fest. Der damals ernannte Präsident der RAI und zwei weitere Mitglieder des Verwaltungsrates waren dem Regierungslager zuzurechnen, zwei weitere Ratsmitglieder dagegen der Opposition.

Doch schon bei der Verteilung der weiteren Chefpositionen zeigte sich, dass die Rechte zu weit geringeren Konzessionen als bisher üblich bereit ist: Sie konzedierte den Mitte-Links-Kräften einzig die Federführung bei RAI3, dem Kanal mit den geringsten Mitteln und der geringsten Einschaltquote. Als Chef der Nachrichtenredaktion bei RAI 1 wurde ein ursprünglich aus dem Berlusconi-Imperium stammender Journalist berufen, als Wellenchef zwar ein RAI-Mann – aber einer, der Berlusconis Forza Italia zwischenzeitlich schon als Parlamentarier vertreten hatte; als Wellenchef bei RAI 2 dagegen kam ein Ex-Abgeordneter der Lega Nord zum Zuge.

Von weit größerer Bedeutung war jedoch der senderinterne Umgang mit Stimmen des Dissenses. Auf einer Pressekonferenz im April 2002 forderte Berlusconi im Namen einer „ausgewogenen Information“ unverhohlen die Verbannung zweier sehr prominenter Journalisten aus dem RAI-Programm, die vor und nach den Wahlen von 2001 mit kritischen Beiträgen über den Ministerpräsidenten aufgefallen waren und damit – so Berlusconi – das Fernsehen „in verbrecherischer Weise“ genützt hätten. Statt gegen diesen Ukas die eigenen Angestellten in Schutz zu nehmen, meldete die RAI-Spitze im September 2002 Vollzug: Die beiden Journalisten tauchten in den neuen Programmschemata nicht mehr auf. Stattdessen sorgt nun ein aus dem Berlusconi-Blatt „Il Giornale“ stammender Journalist in der politischen Magazinsendung von RAI 2 für Ausgewogenheit. Dass sein Programm – ebenso wie die Nachfolgeprogramme im Falle des zweiten geschassten Journalisten – miserable Einschaltquoten erzielt, schmerzt die Rechte nicht sonderlich. Erst recht dürfte sich Berlusconis Trauer in Grenzen halten: Er kann sich nicht nur über die exemplarische Ausschaltung zweier oppositioneller Stimmen in dem für die politische Information der Bürger zentralen Medium freuen, sondern auch darüber, dass seine eigenen Privatsender von den schwachen Quoten der RAI direkt profitieren.

Ob die Politik der praktisch vollkommenen Übernahme der RAI durch die Parteigänger der Rechten auf Dauer erfolgreich sein wird, steht dennoch dahin. Schon im November 2002 brach nach nur neun Monaten eine offene Führungskrise in der RAI aus: Nicht nur die beiden Repräsentanten der Opposition im Verwaltungsrat, sondern auch der der kleinen Christdemokratischen Partei im Berlusconi-Bündnis nahestehende Vertreter erklärten ihren Rücktritt, denn auch die zahlenmäßig schwachen Kräfte der gemäßigten Mitte in der Koalition sind mit der von Berlusconi verfolgten Usurpationsstrategie unzufrieden. Im März  dieses Jahres wurde schließlich eine der Opposition nahestehende Journalistin zur RAI-Chefin berufen – im Gegenzug aber wurde sie im Verwaltungsrat mit vier Vertretern der Rechten eingemauert. Erst die weiteren Entwicklungen werden zeigen, ob damit die Berlusconi-Offensive in der RAI zum Halten gekommen ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings verfügt Italiens Rechtskoalition neben den drei Berlusconi-Kanälen auch über die beiden ersten Kanäle der RAI – und kontrolliert damit ca. 90  Prozent der politischen TV-Information des Landes.

Zudem hat die Berlusconi-Regierung dem Parlament den Entwurf eines neuen Mediengesetzes unterbreitet, das die Machtstellung des Ministerpräsidenten auf Dauer festschreiben soll. Nach dem bisher gültigen Mediengesetz hätte Berlusconi auf  die Ausstrahlung eines seiner drei Sender über terrestrische Frequenzen mittelfristig verzichten müssen. Der neue Entwurf sieht nun vor, dass Berlusconi seine drei Sender behalten darf. Außerdem sollen die Konzentrationsvorschriften bei den Werbeeinnahmen – dort kassiert Berlusconi schon heute allein 68 Prozent des TV-Werbekuchens – weiter aufgeweicht werden. Und schließlich soll das Verbot für TV-Unternehmer fallen, auch Tageszeitungen zu kontrollieren.

Was andere „Interessenkonflikt“ nennen, behandelt Berlusconi also als Interessenkonvergenz: Er benutzt seine politische Position als Regierungschef, um seine Medienmacht auszubauen – die er wiederum in seinen Auseinandersetzungen mit der Opposition, mit der Justiz, mit den Gewerkschaften offensiv einsetzt. Italien droht damit zum Sonderfall einer europäischen Demokratie zu werden, in der die kritische Wächterrolle der Medien – vorneweg des Fernsehens – faktisch suspendiert ist.

 

Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik

Nicht zuletzt auf dem Feld der Wirtschafts- und Sozialpolitik hatte Berlusconi mit dem Versprechen eines „neuen italienischen Wunders“ die Wahlen 2001 gewonnen. Sein Wahlsieg sollte quasi von selbst neue Wachstumskräfte freisetzen und damit die Voraussetzung für die Realisierung der vollmundig gemachten Wahlversprechen einer allgemeinen Steuersenkung ebenso wie einer allgemeinen Aufstockung der Mindestrenten schaffen.

Angesichts der durch die konjunkturelle Entwicklung äußerst engen Handlungsspielräume konnte sein Kabinett jedoch kaum Zeichen einer umfassenden Wende setzen. Im Haushalt 2003 wurde eine Steuersenkung für untere und mittlere Einkommen verabschiedet, die für das Gros der Beschäftigten nur äußerst bescheidene Vorteile mit sich bringt. Einzig Niedrigsteinkommen profitieren spürbar.

Als Feld, auf dem dennoch ein Signal des Aufbruchs zu setzen war, wählte die Regierung die Arbeitsmarktreform. Die von der Rechtskoalition und dem Unternehmerverband gemeinsam verfochtene These war und ist, vor allem der zu rigide Kündigungsschutz blockiere die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Deshalb ergriff der Arbeitsminister die Initiative, die bisherige Kündigungsschutznorm – nach der Arbeitsrichter bindend die Wiedereinstellung eines zu Unrecht Gekündigten anordnen können – zu lockern und unrechtmäßig Entlassenen nur noch eine Abfindung zuzugestehen.

Bei dieser Initiative schwang die kaum verhüllte Hoffnung mit, die schon in den letzten Jahren zu verzeichnenden großen Differenzen zwischen den drei großen Gewerkschaftsbünden weiter vertiefen zu können. In der Tat trat die erhoffte Wirkung ein. Alleine die CGIL, der größte Bund, erklärte sich kompromisslos gegen das Gesetzesvorhaben, während die beiden anderen Bünde, die CISL und die UIL, sich verhandlungsbereit zeigten. Die Regierung nutzte diese Spaltungen, um im Juli 2002 mit dem Unternehmerverband, der CISL und der UIL einen „Pakt für Italien“ zu unterzeichnen, der grünes Licht für die Gesetzesänderung gab.

Unbeeindruckt zeigte sich die Regierung vom Nein der CGIL. Die Verhandlungen und die begleitenden, im April und im Oktober 2002 bis zum Generalstreik gehenden Auseinandersetzungen, nahm Berlusconi zum Anlass, auch auf dem Feld der Sozialpolitik einen Richtungswechsel deutlich zu machen. Statt der im letzten Jahrzehnt in Italien sehr erfolgreichen Politik der Konzertierung – sie erlaubte dem Land erst die Bewältigung der Sanierungsanstrengungen, die die Teilnahme am Euro ermöglichten – soll nunmehr nur noch eine Politik des „sozialen Dialogs“ stattfinden: Die Tarifparteien werden von der Regierung gehört, die dann in alleiniger Vollmacht entscheidet – und die sich die ihr genehmen Verhandlungspartner aussucht. Auch auf diesem Feld ist die Absicht unverkennbar, mit den Gewerkschaften einem seit Jahren präsenten Gegengewicht eine weit bescheidenere Rolle als bisher einzuräumen – sowie mit der CGIL den unbequemsten Bund zu isolieren.

Die CGIL zeigte sich von dieser Strategie unbeeindruckt und setzte bis heute ihre Kampagne gegen die Gesetzesänderung fort, mit überragender Resonanz bei ihrer Basis. Wohl auch vor diesem Hintergrund erklärte Berlusconi zum Jahresende 2002, eigentlich sei die angestrebte Modifikation des Kündigungsschutzes irrelevant und werde deshalb vorerst nicht weiterverfolgt. Über den vordergründigen Erfolg kann sich die CGIL aber schon deshalb nicht freuen, weil Berlusconi zumindest eines erreicht hat: Eine geeinte Bewegung aller Gewerkschaften muss er angesichts der vergifteten Atmosphäre zwischen den drei Bünden vorerst nicht befürchten.

 

Das Projekt einer Verfassungsreform

Das Projekt der italienischen Rechtskoalition, die in Politik und Gesellschaft präsenten Gegengewichte und Kontrollinstanzen zu schwächen, hat in den letzten zwei Jahren Fortschritte gemacht; doch es beschränkt sich keineswegs auf die in Angriff genommene Schwächung einer unabhängigen Justiz, auf den Ausbau der Kontrolle über die Medien, auf die Marginalisierung unbequemer Gewerkschaften. Als nächsten Schritt nahm die Berlusconi-Allianz wichtige Verfassungsänderungen in Angriff.

Berlusconi befindet sich in dieser Materie auf einem schwierigen Feld: Einerseits gehört seiner Koalition die regionalistisch-populistisch geprägte Lega Nord an, andererseits die postfaschistische, in einer nationalistischen Tradition stehende Alleanza Nazionale. Um Bossis Lega Nord entgegenzukommen, wurde kurz vor Jahresende 2002 schon in einer der beiden Kammern die sogenannte „Devolution“ verabschiedet – eine neue Verfassungsnorm, die den Regionen weitgehende Gesetzesvollmachten auf den Feldern der Schulpolitik, der Gesundheitsversorgung und der Lokalpolizeien gibt. Dieses Gesetz wird aus zweierlei Gründen von der Opposition und von Verfassungsexperten heftig kritisiert: Erstens schafft es keine saubere Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen der nationalen und der regionalen Ebene; zweitens erscheint es gerade wegen seiner Verwaschenheit – die große Interpretationsspielräume eröffnet – als erstes Signal, dass Italien sich von dem Staatsziel verabschiedet, einheitliche Lebensverhältnisse für alle Bürger auch über das große Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd hinweg herzustellen.

Gewissermaßen als Ausgleich – und als Trostpflaster für Alleanza Nazionale – setzte Berlusconi den Übergang zu einer Präsidialverfassung auf die Tagesordnung. Berlusconi selbst zeigte in den vergangenen Jahren, dass er selbst keinerlei festgefügte Ansichten über die in seinen Augen besten verfassungspolitischen Lösungen hat: Mal favorisierte er das britische, mal das französische, dann wieder das deutsche Modell. Es kann jedoch als sicher gelten, dass die Einführung der direkten Wahl des Staatspräsidenten durch das Volk bei gleichzeitiger Ausdehnung seiner Vollmachten sich perfekt in Berlusconis Politikstil fügt, der von der direkten, plebiszitären Ansprache seiner Anhängerschaft lebt.

Ob ein solcher Umbau allerdings Italien gut bekäme, ist eine andere Frage. Sicher wäre jedoch, dass mit der Verwandlung des  Staatspräsidenten in den Chef der Exekutive nach französischem Muster in Italien eine weitere Kontrollinstanz wegfiele: Bisher hat dort der Staatspräsident eine dem Parteienstreit weitgehend enthobene Wächter- und Garantenrolle. Der derzeitige Amtsinhaber Carlo Azeglio Ciampi zeigt, dass er diese Rolle ernst nimmt; so erreichte er etwa bei einigen der schon erfolgten Strafrechts- und Strafprozessordnungsänderungen Abmilderungen der noch radikaleren Absichten der Rechtskoalition – und lieferte Berlusconi ein weiteres Motiv, selbst auf die Übernahme dieses Amtes, natürlich nur bei gebührender Aufwertung, zu zielen. Nicht zuletzt schüfe dies die Möglichkeit, seine Wiederwahl – nun als direkt vom Volk bestallter Präsident statt als vom Vertrauensvotum des Parlaments abhängiger Ministerpräsident – auch formal als Plebiszit zu organisieren und dann mit neuer Machtfülle die „italienische Revolution“ zu vollenden.

Michael Braun *;

Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Italien, Rom;
michaelbraun@tiscalinet.it

 

 

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