Internationale
Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 2/2002 |
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EU-Regelungen haben den Weg für eine Europäisierung der Arbeitsbeziehungen geebnet In Randbereichen kommt diese auch voran. In den harten Tariffragen steht ihr jedoch das Desinteresse der Arbeitgeber und die Einbindung der Arbeitnehmer in nationale "Modernisierungspakte" entgegen. Transnationale Dynamik weisen allerdings die Europäischen Betriebsräte auf. |
Arbeitsbeziehungen haben sich historisch innerhalb von Nationalstaaten und staatlich konstituierten „Nationalökonomien“ herausgebildet. Seitdem ökonomische Integrationsprozesse zur „Entgrenzung“ nationalstaatlicher Politiken geführt haben, wird die „Europäisierung“ der Arbeitsbeziehungen sowohl für die etablierte Industrial Relations - Forschung als auch für die Integrationsforschung zu einem zunehmend wichtigen Thema. Vor dem Hintergrund dieser Debatte über die Europäisierung der nationalen Arbeitsbeziehungen konzentriert sich dieser Beitrag - nach einem Überblick über das Debattenspektrum - auf die Analyse jener nationalen und transnationalen Entwicklungen der Arbeitsbeziehungen, die seit Anfang der neunziger Jahre durch die Weichenstellungen des Maastrichter Vertrages ausgelöst wurden.
Auf der Ebene der Union waren bis Maastricht „alle Versuche fehlgeschlagen,
ein System prozeduraler Regeln der kollektiven Arbeitsbeziehungen (...)
zu schaffen“ (Armingeon 1994: 207). Der Maastrichter Vertrag jedoch führte
zur institutionellen Verankerung und Aufwertung des „Sozialen Dialogs“ der europäischen
Sozialpartner und zu erweiterten qualifizierten Mehrheitsentscheidungen,
die u.a. die über 20 Jahre blockierte Verabschiedung der Richtlinie über
die Einrichtung Europäischer Betriebsräte (EBR) ermöglichten. Weitere
Weichenstellungen brachte der Amsterdamer Vertrag, insbesondere im Bereich
der EU–Beschäftigungspolitik („Köln–Prozess“). Schließlich wurden Anfang
des neuen Jahrtausends mit der (gleichfalls jahrzehntelang blockierten)
Richtlinie über die Arbeitnehmermitbeteiligung in der Europäischen Aktiengesellschaft
und der Richtlinie über Information und Konsultation (auf nationaler betrieblicher
Ebene) zwei weitere Gesetzgebungsprozesse auf den Weg gebracht, die in
spezifischer Weise die künftige Europäisierung und Transnationalisierung
industrieller Beziehungen prägen werden.
Auf der Basis der neuen institutionellen und prozeduralen Grundlagen bilden
sich seit Mitte der neunziger Jahre im EU-Rahmen neue transgesellschaftliche
und überstaatliche Arbeitsbeziehungsstrukturen heraus. Die neuen Grundlagen
ermöglichen „autonome Tarifverhandlungen“ auf EU–Ebene, insbesondere aber
die Möglichkeit, dass die europäischen Sozialpartner bestimmte arbeitspolitische
Gesetzgebungsvorhaben an sich ziehen und auf dem Verhandlungswege entscheiden.
Zu diesem neuen Verfahren der „verhandelten Gesetzgebung“ tritt im Sekundärrecht
ein gleichfalls neuer Modus arbeits- und mitbestimmungspolitischer Regulierung
hinzu. Er verbindet die Festlegung rechtlicher (Mindest-)Standards und
Verfahrensprinzipien mit dem Prinzip Verhandlung (Optionalität, Flexibilität)
und kennzeichnet die Ausgestaltung der EBR–Richtlinie (1994) ebenso wie
die Richtlinie zur Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft
(2001).
Der regulatorische Paradigmenwechsel reflektiert die Erfahrungen einer
langjährigen Blockade aller Gesetzesinitiativen, die auf dem Prinzip der
„Harmonisierung“ basierten. Er ist das Ergebnis politischer Kompromissbildung
auf EU–Ebene, trägt aber auch der Vielfalt nationaler Mitbestimmungskulturen
Rechnung.
Der neue Regulierungsmodus kann analytisch mit dem Konzept der „regulierten
Selbstregulierung“ gefasst werden. Durch die Selbstregulierung der betrieblichen
und verbandlichen Akteure auf europäischer Ebene dynamisieren, erweitern
und verdichten sich die Vermittlungsmechanismen von „Europäisierung“.
Eine „horizontale“ innerstaatlich und transgesellschaftlich wirksame Europäisierungstendenz
kommt zunächst darin zum Ausdruck, dass Belegschaftsvertretungen und Management,
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sich EU–weit mit den zu schaffenden
Institutionen auseinandersetzen müssen, dies eben deshalb, weil kein fixes
EBR–Modell vorgegeben wird. Diese Prozesse „verhandelter Europäisierung“
führen auf der betrieblichen Mikroebene (Europäische Betriebsräte) wie
der verbandlichen Makroebene (Sozialer Dialog) zur Herausbildung einer
europäischen Mehrebenenstruktur industrieller Beziehungen.
(Ein EU-spezifisches Konvergenzmuster ist empirisch nicht zu beobachten.)
(Gewerkschaften mit ehemals dezidierter Anti-EU-Haltung zählen
mittlerweile zu den stärksten Promotoren einer integrativen und regulativen
Politik auf EU-Ebene.)
(Unter dem Einfluss der Währungsunion haben Branchengewerkschaften
begonnen, ihre Tarifpolitik transnational zu koordinieren. Dieser gemeinsame
Orientierungsrahmen wird jedoch durch die gewerkschaftliche Einbindung
in nationale „Modernisierungspakte“ konterkariert.)
Die vergleichende Arbeitsbeziehungsforschung analysiert die Entwicklung
nationaler „Modelle“ der Arbeitsbeziehungen
und Kollektivvertragspolitiken. Die Europäisierung kann in diesem
Kontext als Prozess der Diffusion und Institutionalisierung von Regeln,
Normen und Prozedurenbegriffen werden, „..which are first defined and
consolidated in the EU policy process and then incorporated in the logic
of domestic discource, identities, political structures and public policy“
(Radaelli 2000). Mit dieser Konzeptualisierung können die wichtigsten
Problemstellungen der aktuellen Debatte bearbeitet werden, beispielsweise
ob und inwieweit die Einbindung in ein überstaatliches politisches System
und die besonderen Mechanismen politischer Entscheidung und Interessenvermittlung
(in) der EU zu einem institutionellen Wandel nationaler Arbeitsbeziehungssysteme
führen und welche Variationsbreite nationaler Anpassungs- und Verarbeitungsformen
vorliegt, oder ob und inwieweit das Ersetzen staatlicher Steuerung durch
Wettbewerbsmechanismen in der EU die gewachsenen nationalen Regulierungsformen
kollektiver Arbeitsbeziehungen beeinflusst und inwieweit sich durch diesen
ökonomischen Integrationsmodus die Machtverhältnisse zwischen den Arbeitsmarktparteien
verändern.
Hinsichtlich der Vermittlungslogik und Reichweite der Europäisierung ist
des weiteren zu klären, ob die Ausrichtung auf und Anpassung an den EU-Kontext
graduell erfolgt oder ob Europäisierung eine signifikante Transformation
der nationalen Arbeitsbeziehungssysteme bewirkt, und schließlich, ob Europäisierung
langfristig zur Konvergenz der nationalen Arbeitsbeziehungssysteme führt.
Konvergenz
Zur Beantwortung der letzten Frage werden in der Diskussion unterschiedliche,
sich gegenseitig ausschließende Hypothesen vertreten.
International vergleichende Untersuchungen (Traxler 1995, Armingeon 1994,
Ruyssevelt/Visser 1997) stimmen weitgehend darin überein, dass weder eine
universelle Tendenz der Deformalisierung noch der durchgehenden Dezentralisierung
zu beobachten ist. Auch ein EG/EU-spezifisches Konvergenzmuster, wonach
sich die Anpassungsprozesse und Entwicklungen der Arbeitsbeziehungen innerhalb
des Integrationsverbundes angleichen bzw. signifikant von den Entwicklungen
im Nicht-EU-Bereich unterscheiden, ist empirisch nicht zu beobachten.
Inkrementale Anpassung
Eine Reihe von Phänomenen und Tendenzen inkrementaler Anpassung sind
unstrittig, z.B. die sich erweiternde Partizipation der Sozialpartner
an der Entscheidung, Implementierung und Anwendung gemeinschaftlicher
arbeitspolitischer Rechtsakte (Arbeitnehmerfreizügigkeit und Entsenderichtlinie;
Lohngleichheit und Gleichstellung; Richtlinien zur Verbesserung der Arbeitsumwelt,
zur Massenentlassung und zum Betriebsübergang, etc.), die verstärkte Einbindung
der arbeitspolitischen Akteure in die Umsetzung der Regional- und Strukturpolitik
der EU oder die neuen Verfahren der koordinierten EU-Beschäftigungspolitik.
Durch diese Vorgaben der EU sind zudem in einzelnen Ländern spezifische
Anpassungseffekte zu beobachten, etwa eine zunehmend koordinierte Vorgehensweise
konkurrierender Richtungsgewerkschaften oder eine neue Qualität der Zusammenarbeit
zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden bei Regionalentwicklungs–
und Beschäftigungsprojekten.
Hinzu kommt die organisationspolitische Europäisierung im Bereich der
nationalen Dach- und Branchenorganisationen (Reorganisation und EU-Ausrichtung
der Arbeitsabläufe; Intensivierung
bi- und multilateraler Außenbeziehungen, Ausbau der Einflussschienen auf
EU–Ebene etc.). Diese Entwicklung wäre für die Frage der „Europäisierung“
ohne besondere Signifikanz, wenn sich nicht im Zuge dieses Prozesses,
vor allem bei den Gewerkschaften, eine weitreichende Konvergenz in den
strategischen EU-Orientierungen herausgebildet hätte, die über eine inkrementale
Anpassung hinausreicht: Gewerkschaften mit ehemals dezidierter anti-EG/EU–Haltung
in den romanischen Ländern und Großbritannien zählen mittlerweile zu den
stärksten Promotoren einer integrativen und regulativen Politik auf EU-Ebene,
und in Ländern mit starker Fragmentierung und Pluralisierung der Interessenorganisationen
hat sich seit den neunziger Jahren ein EU-bezogenes zwischengewerkschaftliches
Kooperationsverhalten deutlich verstärkt.
Transformation durch Europäisierung
Transformatorische Entwicklungen in den unterschiedlichen Feldern der
nationalen Arbeitsbeziehungen sind schwer zu fassen, sie entziehen sich
einer Erklärung im Rahmen des traditionellen Konvergenz-Divergenz-Paradigmas
der vergleichenden Arbeitsbeziehungsforschung. Zudem ist eine kausale
Zuordnung der Transformationstendenzen zur Integrationslogik schwierig,
weil auch andere Wirkkräfte (spezifische Folgen der Globalisierung, gesellschaftliche
Prozesse der Individualisierung etc.) den Wandel beeinflussen (können).
Jüngere Arbeiten diagnostizieren einen Strukturwandel der europäischen
Integration in Richtung einer „wettbewerbsstaatlichen Integrationsweise“
und sehen die EU auf dem Weg zum „Schumpeterianischen Leistungsregime“
(Ziltener 1999, Bieling/Steinhilber 2000). In diesem Kontext wird in einzelnen
Untersuchungen ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen EU-Integration
und (nationalen) Arbeitsbeziehungen hergestellt. Nach dieser Sicht sind
weder in der Einheitlichen Europäischen Akte noch im Maastrichter oder
Amsterdamer Vertrag auf der EU-Ebene Kompetenzen und Institutionen geschaffen
worden, welche die aus der Marktlogik resultierende nationalstaatliche
Schwächung sozial-, arbeits- und tarifpolitischer Steuerungsfähigkeit
auffangen könnten. Vor allem makroökonomische Steuerungsdefizite der Währungsunion
und der Wegfall der Zins- und Wechselkurselastizitäten wirken sich danach
negativ auf die nationalen Gestaltungsspielräume der Arbeits- und Tarifpolitik
und die Lohnfindungssysteme aus (Busch 1994). Prognostisch wird eine weitreichende
Transformation erwartet, geprägt durch Lohndifferenzierung „nach unten“,
tendenzielle Erosion des Normalarbeitsvertrages und eine weitergehende
Deformalisierung der Arbeitsbeziehungen (Altvater/Mahnkopf 1993).
Andere Untersuchungen sehen als wesentliches Entwicklungsmerkmal der Arbeitsbeziehungen
in den 90er Jahren die Etablierung bzw. (Re-)Vitalisierung von Sozialpakten,
(Wettbewerbs-)Korporatismen oder Modernisierungsbündnissen zwischen den
nationalen Regierungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden (Hassel
1998; Grote/Schmitter 1999). Diesen Entwicklungen wird die Bedeutung eines
neuen makrokorporatistischen Zyklus beigemessen. Die gemeinsamen Funktionsmerkmale
dieses neuen Wettbewerbskorporatismus werden darin gesehen, dass in komplexen
Verhandlungskonstellationen mehrere Reformprojekte (u. a. in den Bereichen
der Sozial-, Beschäftigungs– und Bildungspolitik) bearbeitet werden, wobei
die lohn- und einkommenspolitischen Weichenstellungen vor allem auf die
Angebotsseite des Arbeitsmarktes zielen.
Trotz der weitreichenden und gleichgerichteten Veränderungen in den Arbeitsbeziehungsstrukturen
bleibt es schwierig zu klären, ob und inwieweit diese Entwicklungen „unintended
side effects of European Economic and Monetary Union or calculated response
to the absence of European Social Policy?“ (Grote/Schmitter 1999) sind
bzw. Ausdruck und Folge eines aus der EU–Integrationslogik resultierenden,
verstärkten „europäischen Regimewettbewerbs“ (Hassel 2000).
So zeigt das italienische Beispiel, dass sich das Arbeitsbeziehungssystem
in der Tat weitreichend transformiert hat, von einem traditionell konfliktbetonten
System industrieller Beziehungen hin zu einem durch verbindliche Regeln
gekennzeichneten System institutionalisierter Arbeitsbeziehungen auf betrieblicher,
sektoraler und gesamtstaatlicher Ebene (Telljohann 1998). Diese Entwicklung
steht in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Konvergenzprozess zur Währungsunion
und folgt dem gemeinsamen strategischen Ziel von Gewerkschaften, Arbeitgebern
und Regierung, bereits in der ersten Runde an der Wirtschafts- und Währungsunion
teilzunehmen. Dieser insoweit eindeutigen „Europäisierung“ steht jedoch
gegenüber, dass wesentliche Ursachen dieses Wandels rein innenpolitischer
Natur waren, auf die Umbrüche im politischen System Italiens und die Erosion
der alten parteipolitischen Konfliktlinien, die auch das Gewerkschaftssystem
prägten, zurückzuführen sind.
Zur empirischen Varianz nationaler Entwicklungen gehören schließlich Länder
wie Frankreich und Großbritannien, in denen keine vergleichbaren tripartistischen
Konzertierungsstrukturen entwickelt wurden, oder das belgische Beispiel,
wo die Regierung nach dem Scheitern tripartistischer Sozialpaktverhandlungen
ein Gesetz erließ, nach welchem ein maximaler Lohnzuwachs die durchschnittliche
Lohnentwicklung in den drei wichtigsten Handelpartnerländern (Deutschland,
Niederlande, Frankreich) nicht übersteigen darf.
Was die komplexen und widersprüchlichen Zusammenhänge der Entwicklungen
auf nationaler und europäischer Ebene anbetrifft, bietet die Tarifpolitik
empirisches Anschauungsmaterial: Unter dem Druck und Einfluss der Währungsunion
haben Branchengewerkschaften begonnen, ihre Tarifpolitik transnational
zu koordinieren und – so der Vorreiter dieser Entwicklung, der Europäische
Metallgewerkschaftsbund (EMB) – verbindliche Leitlinien für eine transnational
koordinierte, an der Produktivitätsentwicklung orientierte Lohnpolitik
festgelegt. Dieser gemeinsame Orientierungsrahmen wird jedoch durch die
gewerkschaftliche Einbindung in nationale „Modernisierungspakte“ mit ihren
komplexen Tauschprozessen, die vielfach auch Lohnzurückhaltung beinhalten,
konterkariert, so dass der strategische Ansatz einer EU–weiten, transnational
abgestimmten Tarifpolitik bislang nicht oder nur räumlich eng begrenzt
zum Tragen kommt.
(Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände können sozial- und arbeitspolitische
Vereinbarungen treffen, die dann qua Ministerratsbeschluss in die gemeinschaftliche
Sozialgesetzgebung übergehen.)
(Auf Arbeitgeberseite besteht kein Interesse, die Wettbewerbsdynamik
des Binnenmarktes und der Währungsunion durch Kollektivvereinbarungen
auf EU-Ebene zu begrenzen.)
(Bei einer hohen Zahl von Europäischen Betriebsräten ist eine bemerkenswerte
Entwicklungsdynamik zu beobachten, hin zu einer neuen europäischen Ebene
betrieblicher Arbeitsbeziehungen.)
Aus integrationsanalytischer Perspektive kreist die gegenwärtige Europäisierungsdebatte im Bereich der Arbeitsbeziehungen
um die Frage, wie auf den verschiedenen Ebenen der Arbeitsbeziehungen
– Konzern, Sektor, Dachverbände – die Entwicklung transnationaler Strukturen
und supranationaler Regulierungsansätze und deren Rückwirkungen auf die
nationalen Systeme empirisch-analytisch zu qualifizieren sind.
Der Soziale Dialog: der lange Weg von der verhandelten
Gesetzgebung zum Euro–Korporatismus
Im Vergleich zu dem in den 70er und Anfang der 80er Jahre nur schwach
entwickelten „Europäischen Tripartismus“, also den dreigliedrigen Konferenzen
zwischen den Europäischen Sozialpartnern, Kommission und Rat und dem zunächst
rein konsultativen „Sozialen Dialog“, der Mitte der 80er Jahre begann,
markiert der „Neue Soziale Dialog“ seit Maastricht einen qualitativen
Sprung. Den europäischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden steht
nunmehr die vertraglich verankerte Option autonomer Kollektivverhandlungen
auf europäischer Ebene offen. Zudem können sie als „Entscheidungsträger“
agieren, indem sie in bestimmten, vertraglich definierten Bereichen sozial–
und arbeitspolitische Vereinbarungen treffen, die dann qua Ministerratsbeschluss
in die gemeinschaftliche Sozialgesetzgebung übergehen. Nach letzterem
Verfahren sind bislang mehrer Materien verhandelt worden. Während Verhandlungen
über das stark politisierte Projekt „Europäische Betriebsräte“ scheiterten,
wurden Rahmenvereinbarungen zum Elternurlaub (1995), zur Teilzeitarbeit
(1997) und zu befristeten Arbeitsverträgen (1999) erfolgreich abgeschlossen.
Betrachtet man die Figurationsdynamik dieser neuen „zweiten Säule“ unter
dem Gesichtspunkt der Europäisierung, so zeigen sich folgende Entwicklungen.
Die tarifautonome Option einer supranationalen „Selbstregulierung“ arbeits-
und tarifpolitischer Gegenstände kam nahezu ein Jahrzehnt nicht zum tragen,
und die Erwartung, der „Soziale Dialog“ könne als Sprungbrett dafür dienen,
hat sich bislang nicht erfüllt. Während die Gewerkschaften ein Interesse
an europäischen Kollektivvertragsbeziehungen und (Rahmen-)Vereinbarungen
haben, ist die Arbeitgeberseite meist nur dann zu Verhandlungen bereit,
wenn eine EU–Gesetzgebung „droht“ und Verhandlungen eine bessere Interessendurchsetzung
erwarten lassen. Somit ist die bisherige Praxis des neuen Sozialen Dialogs
durch das Prinzip „regulierter Selbstregulierung“ gekennzeichnet. Diese
Erfahrungen lassen erwarten, dass die weitere Entwicklung dieses Regulierungsmodus
entscheidend davon abhängen wird, ob und inwieweit entsprechende sozialpolitische
Gesetzgebungsinitiativen der Kommission und (Mehrheits-) Konstellationen
im Rat für die Sozialpartner Verhandlungsanreize bzw. - zwänge schaffen
Ob ein Einstieg in eine „Selbstregulierung“ mit einer „europäisch–tarifautonomen“
Qualität gelingt, bleibt abzuwarten. Immerhin haben sich die europäischen
Sozialpartner Ende 2001 auf einen Verhandlungsgegenstand (Telearbeit)
verständigt, über den im Laufe des Jahres 2002 verhandelt werden soll.
Die bisherige Entwicklung des Sozialen Dialogs weist allenfalls in einem
begrenzten Segment der EU-Sozialpolitik Merkmale eines „EU corporatist
policy regime“ (Falkner 1999, Dolvik 1999) auf. Die regulative Reichweite
und Steuerungsqualität eines makro-korporatistischen EU-Regimes wäre dann
gegeben, wenn die Europäischen Sozialpartner, etwa im Rahmen der EU-Beschäftigungspolitik,
in die Rolle konzertierungs- und verpflichtungsfähiger Akteure hineinwüchsen.
Zwar befördern die Mechanismen der EU-Beschäftigungspolitik (gemeinschaftliche
Leitlinien, verstärkte Einbindung der nationalen Sozialpartner in die
Formulierung und Umsetzung der „nationalen Aktionspläne“ usw.) auch gleichgerichtete
Handlungsmuster auf mitgliedstaatlicher Ebene. Darüber hinaus ist die
Mitwirkung der europäischen Dachverbände an der makroökonomischen, beschäftigungspolitischen
Querschnittskoordination („Köln–Prozess“) seit 1999 institutionalisiert.
Ob sich diese auf nationaler und europäischer Ebene erweiterte Partizipation
der Sozialpartner in den Bereichen der Arbeitsmarkt– und Beschäftigungspolitik
mit den sozialregulativen Verfahren und Optionen des neuen (Maastrichter)
„Sozialdialogs“ verbinden und auf längere Sicht zu einem korporatistischen
EU-Regime verdichten werden, ist schwer vorherzusagen. Die Logik nationaler
„Wettbewerbskorporatismen“ und „Modernisierungbündnisse“ wirkt einem solchen
Szenario - derzeit jedenfalls - eher entgegen. Es könnte mittel- und längerfristig
relevant werden, wenn die bislang etablierten wirtschafts-, währungs-
und fiskalpolitischen Koordinierungsverfahren zwischen den Regierungen
enger verzahnt und in Richtung einer „EU–Wirtschaftsregierung“ weiter
entwickelt würden.
Gleichwohl ist der (multisektorale) Soziale Dialog inzwischen ein institutionalisierter
Kristallisationspunkt für „vertikal“ erweiterte und „horizontal“ intensivierte
Kommunikations- und Verhandlungsbeziehungen innerhalb und zwischen den
Sozialpartnerorganisationen. Er hat bei den europäischen Organisationen
EGB und UNICE zu teilweise weitreichenden Statutenänderungen (z. B. Mehrheitsentscheidungen)
und zur Aufwertung ihrer Rolle als transnationale Akteure geführt. Auch
im Verhältnis der Dachverbände zu „ihren“ jeweiligen Branchenorganisationen
haben sich infolge dieser Entwicklung neue Vernetzungen und Kooperationsstrukturen
herausgebildet, wie z.B. das unter der Regie der UNICE etablierte „European
Employer Network“.
Auf der Meso-Ebene der Branchen, die in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten
noch immer die wichtigste tarifpolitische Ebene ist, sind die transnationalen
Handlungsarenen und die Rolle des jeweiligen „Sektoralen Dialogs“ sehr
uneinheitlich, tendenziell jedoch schwächer ausgeprägt als auf der multi-sektoralen
Ebene. Während die EU-Kommission in der Rolle eines „Prozessmanagers“
den sektoralen Sozialdialog zu fördern versucht und die derzeit 14 europäischen
Branchengewerkschaften eine europäisch–sektorale Vereinbarungspolitik
anstreben, verhalten sich die unternehmerischen Branchenverbände gegenüber
verbindlichen Abkommen weitgehend defensiv. Somit bewegen sich die Ergebnisse
der sektoralen Sozialdialoge in der Mehrzahl aller (Sub-)Branchen auf
der Ebene „gemeinsamer Erklärungen“ (zu konsensuellen arbeitspolitischen
Themen wie Gesundheitsschutz, Berufsausbildung oder zu gemeinsamen industriepolitischen
Interessensbereichen).
Rahmenvereinbarungen (in der politischen Qualität von „codes of conduct“)
wurden zur Beruflichen Bildung im Bereich
des europäischen Einzelhandels und der Versicherungen sowie in der Textilindustrie
über die Bereiche Zwangsarbeit, Kinderarbeit, Nichtdiskriminierung und
Koalitionsfreiheit abgeschlossen. Verbindliche Vereinbarungen wurden Ende
der 90er Jahre im See- und Schienenverkehrssektor geschlossen. Diese können
dem Modus „regulierter Selbstregulierung“ zugeordnet werden, insofern
diese Vereinbarungen arbeitsrechtlichen Bestimmungen der EU gelten, von
denen diese Sektoren zuvor ausgenommen waren und die im Rahmen des Sektoralen
Dialogs „nachverhandelt“ wurden. Eine erste „tarifautonome“ Vereinbarung
über Arbeitszeiten und damit über ein „hartes“ tarifpolitisches Thema
wurde 1997 auf europäischer Ebene für den Agrarsektor abgeschlossen.
Insgesamt lassen sich die bisherigen sektoralen Entwicklungen wie folgt
resümieren: „Sowohl der institutionelle Rahmen des Sozialprotokolls als
auch die bestehenden Verbände sind zu schwach zum Aufbau korporatistischer
Strukturen sowie zur Einleitung eines quid-pro-quo–bargaining, das eine
grundlegende und notwendige Voraussetzung für diese spezifische Form der
Interessenvermittlung wäre“ (Keller/Sörries 1999:234). Entgegen der Annahme
zahlreicher Autoren, wonach für das Entstehen staatenübergreifender Arbeitsbeziehungen
in der EU die Branchenebene die entscheidende sei, sind die Entwicklungen
auf dieser Ebene aus mehreren Gründen kaum vorangekommen. Soweit arbeitsrechtliche
oder sozialpolitische Materien unter den oben beschriebenen Bedingungen
der „regulierten Selbstregulierung“ überhaupt zu einer EU-Agenda werden,
sind diese Regelungsgegenstände in der Mehrzahl der Fälle multi–sektoraler
bzw. branchenübergreifender Natur und damit an den Sozialen Dialog der
Dachverbände verwiesen. Insbesondere bei „harten Materien“ (Lohn–Zeit–Strukturen),
besteht in der Mehrzahl der Branchen auf Arbeitgeberseite kein Interesse,
die Wettbewerbslogik und -dynamik des Binnenmarktes und der Währungsunion
im Bereich der Arbeitsmärkte durch Kollektivvereinbarungen auf EU–Ebene
zu begrenzen. Somit sind die Gewerkschaften zur Verhinderung eines „Lohndumpings“
auf eine „Ausweichstrategie“ verwiesen, nämlich auf die eingangs beschriebene
transnationale Tarifkoordinierung, deren zukünftige Tragfähigkeit sich
erst noch erweisen muss.
Europäische Betriebsräte: der dynamischste Pol der
Europäisierung
Den in mehrfacher Hinsicht dynamischsten Pol der Europäisierung der Arbeitsbeziehungen
bilden die Europäischen Betriebsräte (EBR). Die Richtlinie zur Einrichtung
Europäischer Betriebsräte vom September 1994 schuf erstmals eine Institution
des kollektiven Arbeitsrechts auf europäischer Ebene. Ihr Geltungsbereich
erstreckt sich auf die EU -Staaten sowie auf Island, Liechtenstein und
Norwegen. Frühere Gesetzgebungsversuche waren stets gescheitert, wofür
vor allem zwei Faktoren ursächlich waren: der Einstimmigkeitszwang, der
erst im Maastrichter Sozialprotokoll durch die qualifizierte Mehrheitsentscheidung
aufgehoben wurde, und die Rechtskonstruktion selbst, insbesondere das
relativ höhere Harmonisierungsniveau, das vor allem den Widerstand der
Arbeitgeber hervorrief, und die Orientierung am deutsch – niederländischen
Modell, welche Vorbehalte einzelner Regierungen und Gewerkschaften hervorrief.
Diese Erfahrungen haben die politischen Kompromissbildungen bei der EBR-Gesetzgebung
und die mehrstufige Ausgestaltung des Implementierungsprozesses beeinflusst.
Sie sind in der besonderen Orchestrierung des Gesetzgebungsverfahrens
durch die Kommission produktiv verarbeitet worden. Beispielsweise richtete
die Kommission im Jahre 1990 eine Haushaltslinie ein, die noch vor Verabschiedung
der Richtlinie Hunderte von Betriebsrätekonferenzen ermöglichte und
zu ersten freiwilligen Vereinbarungen führte. Damit wurde - supranational
politisch gesteuert - ein auf die Schaffung von Legitimation durch Präzedenzfälle
zielender Prozess weitergetrieben, der Mitte der 80er mit „Pionierprojekten“
auf nationaler Ebene begonnen hatte; und zwar zunächst in französischen
(Staats-)Konzernen, dann – auf der Basis eines Rahmenabkommens der Tarifverbände
- in deutschen Chemiekonzernen. Die Ausgestaltung der EBR–Richtlinie reflektiert
diese historischen Erfahrungen. Sie nimmt (harmonisierte) materielle Regelungen
zurück und öffnet Verhandlungsspielräume, die allerdings rechtlich flankiert
bzw. prozedural strukturiert sind. Dieses „Verhandlungsprior“ (Weiss 1999)
ist das Ergebnis der Kompromisssuche auf politischer Ebene, wobei neben
der politischen Prozesslogik - in Anbetracht der Vielfalt nationaler (betrieblicher)
Arbeitsbeziehungssysteme in Europa – auch sachlogische Gründe („management
of diversity“) die Ausgestaltung der Richtlinie erklären.
Mit der Richtlinie setzt sich somit gleichfalls das Prinzip „regulierter
Selbstregulierung“ durch. Dieser Regulierungsmodus markiert im Blick auf
die Palette gemeinschaftlicher Regulierungsformen (kompetitive Deregulierung
und Angleichung über Marktprozesse, wechselseitige Anerkennung, Harmonisierung
etc.) einen Paradigmenwechsel. Charakteristikum der Richtlinie und ihrer
Implementierung ist ein mehrstufiger, durch Stichtage terminierter und
durch Verfahrensregeln strukturierter Prozess. Dieses Stufenmodell „sanft
ansteigenden rechtlichen Drucks“ (Blanke 1999) eröffnete in einer ersten
Phase, die vom Zeitpunkt der Verabschiedung der Richtlinie bis September
1996 (dem Stichtag der nationalen Implementierung) reichte , die Option
„freiwilliger“ Vereinbarungen mit Bestandschutzgarantie, sog. „Art.-13-Vereinbarungen“.
In dieser Phase wurden europaweit ca. 450 EBR eingerichtet. Das Zuckerbrot–und-Peitsche–Prinzip
der Richtlinie bewirkte in dieser Phase, dass Unternehmen diese Option
nutzten, um durch ein „going early“ spezifische Interessen zu realisieren
(Imagegewinn, flexible, maßgeschneiderte Ausgestaltung des Gremiums etc.),
während es Interesse der Belegschaften und Gewerkschaften war, möglichst
früh und in möglichst großer Zahl Europäische Betriebsräte zu etablieren.
Seit September 1996 gilt das Normalverfahren, das eine verbindliche Prozedur
für erzwingbare Verhandlungen vorgibt. Nach diesem Verfahren wurden bis
Anfang 2002 rund 180 EBR eingerichtet, in weiteren ca. 150 Konzernen laufen
zur Zeit Verhandlungen. Diese nach den
sogenannten „Art.-6-Vereinbarungen“ gebildeten EBR weisen hinsichtlich
Ressourcen, Infrastruktur, multinationaler Zusammensetzung und Verfahrensregeln
ein im Vergleich zu „Art.-13–Vereinbarungen“ insgesamt höheres Abschlussniveau
auf. Quantitativ betrachtet sind mit den rund 600 EBR, die bis Ende des
Jahres 2000 etabliert waren, weniger als die Hälfte der nach den Kriterien
der Richtlinie „möglichen Fälle“ abgedeckt, die eingerichteten EBR erreichen
jedoch, in Belegschaftszahlen gerechnet, bereits einen Repräsentationsgrad
von über sechzig Prozent.
Die Konstituierung Europäischer Betriebsräte erweist sich für die Frage
der Vermittlungsmechanismen, Dimensionen und Wirkungen von Europäisierung
als ein aufschlussreiches soziales Laboratorium. Gerade weil die Richtlinie
kein verbindliches „Modell“ vorgibt, zwingt der Modus ihrer Implementierung
europaweit die betroffenen Unternehmensleitungen und Belegschaftsvertretungen,
die Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften, sich mit diesem „Projekt“
auseinander zu setzen. Hierdurch entstehen neue Anforderungen an die Kommunikation,
Verhaltenskoordination und Verhandlungsvorbereitung der beteiligten Akteure,
die jedoch über eine rein „inkrementale Europäisierung“ hinausgehen, weil
sie zugleich transnational abgestimmt, strategisch koordiniert und verhandelt
werden müssen
Die entscheidende und analytisch strittige Frage ist, wie der EBR, dessen
Funktion nach der Richtlinie auf Information und Konsultation („betrieblicher
sozialer Dialog“) festgelegt ist, hinsichtlich seiner Akteursrolle und
Handlungsfähigkeit zu beurteilen ist. Die Bandbreite reicht vom Befund
„weder Betriebsrat noch europäisch“ (Streeck 1997) über Prognosen eines
möglichen transnationalen „Konzernsyndikalismus“ (Schulten 1997) bis zu
Diagnosen einer dynamischen, aber uneinheitlichen Entwicklung von EBR,
die zur Ausprägung unterschiedlicher EBR–Typen führt, die sich hinsichtlich
Entwicklungshorizont, Akteursqualität und Handlungsorientierung unterscheiden
(Lecher et al. 1999; Platzer/Rüb 1999). Der zuletzt genannte typologische
Erklärungsansatz kommt zu dem Ergebnis, dass sich folgende Entwicklungsmuster
und –tendenzen erkennen lassen: Dem passiven, „symbolischen“ EBR, einem
etablierten aber faktisch nicht arbeitenden Gremium, stehen drei „aktive
Typen“ gegenüber: der „dienstleistende“, der „projektorientierte“ und
der „beteiligungsorientierte“ EBR. Bei den aktiven Typen zeigen sich,
in jeweils aufsteigender Tendenz, folgende Entwicklungs- und Handlungsmuster:
Eine zunehmende Formalisierung und Effektivierung der Arbeitsprozesse,
die allmähliche Überwindung der je nationalen „Mutterdominanz“ und die
Herausbildung einer transnationalen Handlungsorientierung bei sich tendenziell
erweiternden Interaktionsqualitäten entlang der Achse Information, Konsultation
und Verhandlung.
Der bisherige Forschungsstand gibt hinsichtlich der Frage der Europäisierung
folgendes Bild: Es ist damit zu rechnen, dass in zahlreichen Fällen aufgrund
konzernspezifischer Konstellationen die Entwicklung des EBR hin zu einem
Europäischen Gremium der Information und Konsultation dauerhaft blockiert
bleibt. Bei einer hohen Zahl von EBR ist aber, gemessen am vergleichsweise
kurzen Entwicklungszeitraum und den „natürlichen“ strukturellen Barrieren
(Sprachenvielfalt, unterschiedliche Arbeitsbeziehungskulturen, konkurrierende
Standortinteressen etc.), eine bemerkenswerte Entwicklungsdynamik zu beobachten,
hin zu einem europäisch–transnationalen Gremium der Interessenvermittlung
und zur Herausbildung einer neuen europäischen Ebene betrieblicher Arbeitsbeziehungen.
Eine in der Tendenz supranationale Verhandlungsqualität und transnationale
Wirkung der Ergebnisse zeigen z.B. Rahmenvereinbarungen, die bereits in
mehreren Konzernen geschlossen wurden; darunter Rahmenvereinbarungen über
Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, Chancengleichheit und Gewerkschaftsrechte
(Danone), Sozial–Charta–Vereinbarungen (u.a. in den Konzernen Cardo, Hartman,
Vivendi), vor allem aber jüngste, in ihrer betriebspolitischen Substanz
weitreichende Abkommen, die im Jahr 2000 die Europäischen Betriebsräte
von Ford und Opel mit dem jeweiligen (US-amerikanischen) Konzernmanagement
zur Sicherung von Standorten, Arbeitsplätzen und Tarifansprüchen im Zuge
von Restrukturierungen ausgehandelt haben.
Schließlich sind mit dem EBR–Prozess Wirkungen verbunden, die in einer
übergreifenden Perspektive der „Europäisierung“ der Arbeitsbeziehungen
analytisch relevant sind: So hat der EBR–Prozess zu einer signifikanten
Aufwertung der europäischen Gewerkschaftsbünde geführt, die erstmals ein
weitreichendes und genuin europäisches Projekt zu bearbeiten hatten. Spezifische
Effekte einer transnationalen Politikproliferation zeigen die folgenden
Entwicklungen: In britischen Konzernen wurden bis 1996 trotz des damaligen
„opting out“ und gegen den Widerstand der konservativen Regierung und
der Arbeitgeberverbände ca. sechzig EBR etabliert, wodurch Großbritannien
absolut und relativ in der Spitzengruppe der EU–Länder mit EBR nach Art.
13 der Richtlinie lag. Going–early–Kalküle der Unternehmen einerseits
und eine strategisch angelegte Politik der britischen Gewerkschaften andererseits
erklären diese Entwicklung. Auch in der Schweiz wurden in rund einem Drittel
der ca. sechzig „EBR–pflichtigen“ Mutterkonzerne freiwillige Vereinbarungen
abgeschlossen. Schließlich sind durch (Nach-)Verhandlungen zwischen EBR
und Konzernmanagement inzwischen in rund 80 Fällen Arbeitnehmervertreter
aus mittel– und osteuropäischen Tochterunternehmen europäischer Konzerne
(dies entspricht etwa einem Fünftel aller in Frage kommender Konzerne
mit Niederlassungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten) als Vollmitglieder
bzw. mit Beobachterstatus in die EBR–Arbeit einbezogen.
(Der Soziale Dialog vermag im Vergleich zu nationalen Korporatismen
bislang keine verbindliche Koordinierung und Konzertation auf den Feldern
der EU-Wirtschafs-, Sozial- und Beschäftigungspolitik zu leisten.)
Noch immer gibt es auf der Ebene der EU kein kohärentes tarifpolitisches
Regelwerk. Das Arbeitsentgelt sowie das Koalitions-, Streik- und Aussperrungsrecht
bleiben im sozial -und arbeitspolitischen Kompetenzkatalog der EU seit
Maastricht explizit ausgeschlossen und waren auch in den Vertragsverhandlungen
von Amsterdam und Nizza kein Thema. Die Entwicklungen, die seit Mitte
der 90er Jahre auf der Ebene der
EU in Gang gekommen sind, weisen gleichwohl eine Europäisierungsdynamik
auf, welche sich von den vorausgegangenen Integrationsetappen deutlich
abhebt; die transgesellschaftlichen Interaktionen zwischen den Akteuren
kollektiver Arbeitsbeziehungen haben sich signifikant verdichtet, neue
trans- und supranationale Arenen, Institutionen und Regulierungsformen
haben sich herausgebildet.
Somit lassen sich mit Blick auf die akademische wie politische Debatte
folgende Schlussfolgerungen ziehen:
Der euro-skeptische „Mainstream“ der Arbeitsbeziehungsforschung hatte
diagnostiziert und prognostiziert, dass vor allem drei Faktoren die Herausbildung
transnationaler Arbeitsbeziehungen oder gar eines genuinen supranationalen
Kollektivvertragssystems blockieren:
Diese Sicht erweist sich mittlerweile
als zu statisch, um die Veränderungen im Gesamtgefüge der transgesellschaftlichen
und staatenübergreifenden Arbeitsbeziehungen in der EU seit Mitte der
90er Jahre zu erfassen.
Selbst europessimistische Beobachter sprechen "von einem horizontalen
Europäisierungsprozess (...), bei dem der Wahrnehmungs- und Handlungshorizont
nach wie vor nationaler Akteure ebenso über die nationalen Grenzen hinauswächst
wie ihre sozialen Beziehungen („Netzwerke“) und Handlungsmöglichkeiten.“
(Streeck 1999: 17). Über diesen Befund hinaus gewinnen trans- und supranationale
Struktur - und Prozesselemente an Gewicht und bilden analytisch
für die Frage der „Europäisierung“ eine insoweit
„eigenständige“ Dimension. Auf der Konzernebene der Arbeitsbeziehungen
treibt die Entwicklung der EBR über eine rein „horizontale Europäisierung“
hinaus. In dem Maße, in dem der EBR Akteursstatus in den transnationalen
betrieblichen Arbeitsbeziehungen erlangt, entsteht eine neue europäische
Handlungsebene. Neben die „horizontal -grenzüberschreitende“ Dimension
tritt ein „vertikal - überstaatliches“ Strukturelement.
Auch auf der europäischen Makroebene und (deutlich abgeschwächt) auf der
Mesoebene der Arbeitsbeziehungen ist das Steuerungsprinzip der „regulierten
Selbstregulierung“ ein Hauptmerkmal der post–Maastricht–Entwicklungen.
Hierbei entsteht insgesamt eine neue Qualität der Europäisierung im Sinne
transnational verdichteter Interaktionen zwischen den Arbeitsmarktparteien.
Die supranationalen Kollektivvertragsbeziehungen bleiben allerdings sowohl
hinsichtlich der Verhandlungsgegenstände als auch der materiellen Substanz
der Vereinbarungen begrenzt, so dass die Rückkopplungseffekte und Auswirkungen
auf die jeweils nationalen Arbeitsbeziehungssysteme (noch) punktueller
und gradueller Natur sind. Der Soziale Dialog vermag im Vergleich zu nationalen
Korporatismen bislang keine verbindliche Koordination und Konzertation
auf den interdependenten Feldern der EU– Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik
zu leisten.
Vor dem Erfahrungshintergrund der neunziger Jahre werden für die zukünftige
Entwicklung des Gesamtgefüges nationaler, transgesellschaftlicher und
staatenübergreifender Arbeitsbeziehungen die folgenden Parameter entscheidend
sein:
Die im Laufe der 90er Jahre neu entstandenen transnationalen arbeitspolitischen
Institutionen und Arenen bleiben auf weitere Sicht „soziale Laboratorien“,
in denen experimentiert werden wird, um auf vielfältig verflochtene Problemlagen
und neue internationale Herausforderungen zu reagieren.
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