Internationale Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/2002

 

 
 
 

 


Die politische Lage im Nahen Osten und Nordafrika nach dem 11. September 2001


Andrä Gärber*

Die autoritären, anti-islamistischen Präsidialregimes der Region werden gestärkt. Gleichzeitig deuten sich politische Gewichtsverschiebungen an. Saudi-Arabien erweist sich als Teil des Terrorismusproblems, Syrien und Iran könnten Teil der Lösung sein. Neue US-Impulse für den Nahost-"Friedensprozess" erscheinen möglich. Ebenso ein Aufbruch der arabischen Welt aus ihrer langen gesellschaftspolitischen Stagnation.

Im Nahen und Mittleren Osten (Mashrek) und Nordafrika (Maghreb) hat sich die Fassungslosigkeit über das, was der einzigen Supermacht, den USA, am 11. September 2001 widerfahren ist, gelegt. Mittlerweile erkennt man die Konturen der neuen politischen Lage sowohl in der Arabischen Welt als auch in den Ländern, die deren Stabilität entscheidend mitprägen: im Iran, der Türkei und Israel.

Schon vor dem 11. September haben die Länder dieser Region immer wieder die Titelseiten der internationalen Presse bestimmt. Kaum eine andere Region ist so sehr von Konflikten geprägt: zwei weltpolitisch bedeutsamen Hauptkonflikten – dem nahöstlichen Territorialkonflikt um Palästina und dem Hegemoniekonflikt am Persischen Golf – sowie einer Vielzahl nationaler und zwischenstaatlicher Subkonflikte. Bereits nach dem zweiten Golfkrieg waren sich die Analysten weitgehend einig gewesen, dass die Araber und der islamische Neo-Fundamentalismus – besser der (gewaltbereite) Islamismus[1] – die Russen und den Kommunismus als Feindbilder des Westens abgelöst hatten.[2] Und nach dem 11. September ist die arabisch-islamische Welt wieder einmal das Feindbild en vogue.

Prima vista scheinen diese Länder sprachlich, kulturell und religiös sehr homogen zu sein. Sie sind zweifelsohne historisch eng miteinander verflochten und laden förmlich zu einer stereotypen Beschreibung ein. Dennoch verbieten die Einkommens-, Vermögens- und Entwicklungsdifferenzen innerhalb der arabisch-islamischen Welt  Region stereotype Erklärungsansätze. Die äußerst heterogenen politischen  Systeme dieser vergleichsweise konfliktautonomen und unzureichend integrierten Region zwingen vielmehr zu einer differenzierten Beschreibung der politischen Lage.

Stimmungslage in der Region: Gemeinsamkeiten...

Von Mitgefühl...

Allen Staaten in der Region – bis auf den Irak – war gemeinsam, dass sie die Terroranschläge vom 11. September scharf verurteilten und ihr Mitgefühl für die unschuldigen Opfer dieser verheerenden Attentate schockiert, fassungslos und mit Entsetzen zum Ausdruck brachten. Allen Staaten – bis auf den Irak – war gemeinsam, dass es keine Massendemonstrationen gab, die die Terroranschläge befürworteten oder feierten.

...über Ohnmacht und Hass...

In allen Staaten der Region – bis auf Israel – gibt die große Mehrheit der Menschen, „auf der Straße“ wie unter den säkularen Intellektuellen, zu bedenken, dass die amerikanische Nahostpolitik ein wesentlicher auslösender Faktor der Terroranschläge in New York und Washington war. Dabei zielt die Kritik im Kern auf zwei Punkte: zum einen die pro-israelische Politik der USA und zum anderen auf die Tatsache, dass die westliche Öffentlichkeit sowohl auf die palästinensischen Opfer des israelischen „Staatsterrorismus“ als auch auf die irakischen Opfer der Sanktionen indifferent reagiert. Der „Westen“ provoziere mit seinem „double standard“ Frustration, Ohnmacht und Hass und schaffe damit auch den Nährboden für eine ständige Radikalisierung der Massen. Die Präsenz von bis zu siebentausend amerikanischen Soldaten in Saudi-Arabien dagegen, die vor allem dem Umfeld von Osama bin Laden ein Dorn im Auge ist, wird als ein hauptsächlich saudisches Sonderproblem wahrgenommen. 

...zur Schadenfreude...

In allen Staaten – bis auf das jüdische Israel – gab es heimliche und auch offen zur Schau getragene Schadenfreude über die Verwundbarkeit des amerikanischen Goliaths.[3] Die Strategie der westlichen Medien – der Verzicht, die Bilder der Opfer von New York und Washington zu zeigen, der quasi einer internationalen Zensur gleichkam, während die Bilder der zusammenbrechenden Twin Towers, die in der arabisch-islamischen Welt keine Assoziationen hervorrufen und mithin keine Emotionen erregen, immer wieder präsentiert wurden – haben die Ausbreitung der Schadenfreude nicht unbedingt verhindert. 

Zweifelsohne gab es kleinere Kundgebungen (wie in den palästinensischen Gebieten), auf denen gefeiert wurde, dass dem arroganten Weltpolizisten nun im eigenen Land widerfuhr, was man vor Ort täglich erdulden muss: Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber der Willkür des Stärkeren. Viele zeigten Ungläubigkeit, dass Araber und Muslime zu solch einer technischen und logistischen Präzision in der Lage seien. Und natürlich gab es die in der arabisch-islamischen Welt weit verbreiteten und bekannten Verschwörungstheorien, die wohl dazu dienten, die Fassungslosigkeit über ein im Namen des Islam verübtes Verbrechen zu verarbeiten.[4] In allen Staaten – bis auf Israel – grassiert aber auch die Angst, dass die sicht- und fühlbare anti-arabische und anti-muslimische Stimmung in Europa und Nordamerika zu weiteren Übergriffen gegen die Immigranten aus der arabisch-islamischen Welt führen wird.

...aber ohne wirkliche Selbstkritik

In allen Staaten der Region – bis auf Israel – fehlt eine breite interne gesellschaftliche Auseinandersetzung,[5] die das offensichtliche Legitimitätsdefizit der politischen Regime in weiten Teilen der arabisch-islamischen Welt thematisiert. Es mangelt an einer breiten internen Auseinandersetzung, die sich mit dem Nährboden des Islamismus und des islamistischen Terrors befasst – einer Bewegung, die sich mittlerweile auf fast alle Länder der arabisch-islamischen Welt ausgebreitet und weltweit vernetzt hat. Und nicht zuletzt fehlt die gesellschaftliche Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen Islam und Moderne.[6]

In keinem Staat – bis auf den Iran – haben die Angriffe der USA auf das islamische Afghanistan Massenproteste ausgelöst. In den Ländern, in denen man weit verbreitete Sympathien für Osama bin Laden vermuten kann, also in Saudi-Arabien, im Sudan oder im Jemen, liegt dies zweifelsohne an einem funktionierenden Repressionsapparat, der größere Demonstrationen gegebenenfalls unterbinden kann. Weitaus wichtiger ist aber, dass Afghanistan ganz einfach geographisch und kulturell zu weit vom Maghreb und Mashrek entfernt ist, um in den Strassen der arabischen Welt Massenproteste hervorzurufen, die mit den Großkundgebungen während des zweiten Golfkrieges vergleichbar wären.

 

...aber auch tiefgreifende Unterschiede

Hinter den Gemeinsamkeiten verbergen sich aber tiefgreifende Unterschiede, vor allem was den Umgang der einzelnen Länder mit dem (gewaltbereiten) Islamismus betrifft.

 Bitterkeit und Genugtuung in den autoritären Präsidialregimes

In einer ersten Gruppe von Staaten, den autoritären Präsidialregimes Algerien, Tunesien, Ägypten und Syrien, empfindet die politische Elite tiefe Genugtuung über die späte Bestätigung ihrer Politik gegenüber dem gewaltbereiten Islamismus. In Algerien fühlen sich auf jeden Fall die Hardliner an der Regierung – die „Eradicateurs“ –, die schon immer der Auffassung waren, dieser Art politischer Bewegung könne nur mit der eisernen Faust der Garaus gemacht werden, bestärkt. Jeder Ansatz zum Dialog mit den Islamisten wird als Schwäche ausgelegt und abgelehnt, ohne dass die eigene undemokratische Politik auch nur im Ansatz hinterfragt würde. Auch ist Bitterkeit darüber zu spüren, dass in der westlichen Welt keine Gedenkminuten für die in die Zehntausende gehenden Opfer der „Afghanen“[7] in Algerien eingelegt wurden.

Im gleichgeschalteten Tunesien gab es weder öffentliche Sympathie- noch Antipathiekundgebungen. Der tunesische Präsident wies in einer offiziellen Erklärung lediglich darauf hin, sein Land habe schon sehr früh die Gefahren des islamistischen Terrors erkannt und rechtzeitig darauf reagiert. Um seine Aussagen zu unterstreichen, wurden in der Presse ausführliche Auszüge eines Interviews abgedruckt, das er im Jahre 1994 der französischen Zeitung Le Figaro gewährt hatte. In Algerien und Tunesien erinnerte man durchaus auch mit Genugtuung den “Westen" an seinen Teil der Verantwortung für die Ereignisse vom 11. September: Die europäischen Länder und die USA hätten - unter dem Deckmantel des Asylrechts – den Islamisten in den letzten Jahren Unterschlupf gewährt und sie von ihrem Terrain aus ihre Tätigkeiten fortführen lassen.[8]

Mit großer Befriedigung wird auch in Ägypten die veränderte Haltung der europäischen Staaten gegenüber ägyptischen Staatsbürgern wahrgenommen. Eine Reihe europäischer Staaten ist nun endlich bereit, massive Maßnahmen – jetzt bis hin zur Auslieferung an die ägyptischen Behörden – gegen in Ägypten angeklagte mutmaßliche Terroristen zu ergreifen, die im Ausland politisches Asyl genießen. Diese Befriedigung macht deutlich, wie sehr die ägyptische Führungsschicht in der Vergangenheit unter den Verurteilungen seitens der USA und der europäischen Länder in der Menschenrechtsfrage und wegen ihres Vorgehens gegen einheimische "Terroristen" gelitten und dieses Verhalten als Ausdruck des Mangels an Respekt und der ausländischen Arroganz erlebt hat.[9] Gleichzeitig drängt Ägypten – wie bereits seit zehn Jahren – mit aller Kraft darauf, die internationale Auseinandersetzung und Kriegsführung gegen den Terrorismus unter die Ägide der Vereinten Nationen zu stellen, die Definition von Terrorismus und das Vorgehen gegen den Terrorismus zum Thema einer großen internationalen Konferenz zu machen.

Nach den Terrorattacken auf New York und Washington am 11.9.2001 hat sich Syrien ebenfalls sofort bereit erklärt, in einer Antiterrorallianz mitzuwirken. Auch die syrische Regierung hat bereits 1982 in Hama die islamistischen Gruppierungen mit der ganzen Härte des staatlichen Gewaltmonopols zerschlagen und auch das libanesische Militär bei der Niederschlagung der Aufstände in Dinnieh im Libanon 1999/2000 unterstützt.

Brisant an diesem Angebot ist nicht nur, dass Syrien wegen seiner Verbindungen zur libanesischen Hizbullah und den palästinensischen Gruppierungen, die den Oslo- Friedensprozess auch mit Gewalt ablehnen (die Damaskus-Gruppe der Zehn), auf der US-Liste der "Terrorismus unterstützenden Staaten" steht. Ebenso brisant ist es, dass Syrien seinen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Januar 2002 übernehmen wird. Der syrische Balanceakt wird darauf abzielen, den Widerstand gegen Israel aufrechtzuerhalten und die von Damaskus betonte Unterscheidung zwischen Terrorismus" und "legitimem Widerstand', hinter der natürlich wesentliche Beweggründe[10] stehen, international durchzusetzen. Gleichzeitig wird Syrien alles daran setzen, ein glaubhafter Partner in der Antiterrorallianz zu sein.

Bestätigung und Ermutigung in den offenen, kapitalarmen Monarchien

Im Gegensatz zu den autoritären Präsidialregimes ist es der offenen, reformorientierten, aber kapitalarmen Monarchie Jordanien durchaus gelungen, die islamistische Bewegung in den politischen Prozess zu integrieren und nicht zu stigmatisieren oder gar zu marginalisieren. König Hussein setzte schon früh darauf, die islamistische Bewegung durch die Mitarbeit in der jordanischen Regierung und die Teilnahme an der parlamentarischen Arbeit einzubinden und damit zu entzaubern.  Auch dem gewaltbereiten Zweig der islamistischen Bewegungen wurde dadurch die Legitimationsbasis erfolgreich entzogen. Diese Politik wird auch von seinem Nachfolger, König Abdallah II, fortgesetzt. Der junge König Mohammed VI scheint diese Politik auch in seinem ebenfalls kapitalarmen, aber reformorientierten Marokko verfolgen zu wollen. Beide Königshäuser bieten den Islamisten wegen ihrer direkten Abstammungslinie bis zum Propheten Mohammad natürlich nur wenig Angriffsfläche.

Entsetzen und Scham in den Erdölmonarchien

(Vermeintliche strategische Partner der Anti-Terror-Koalition (vor allem Saudi-Arabien) erweisen sich nun als Teil des Problems. Vermeintliche „Schurken“ (vor allem Syrien und der Iran) könnten Teil der Lösung werden.)

Ganz anders stellt sich die Situation auf der arabischen Halbinsel für die kapitalreichen Erdölmonarchien, die sich im Golfkooperationsrat zusammengeschlossen haben, dar. Die auf dem Reißbrett der britischen Kolonialmacht kreierten Zwergstaaten Bahrain, Katar, Kuwait, Vereinigte Arabische Emirate und Oman fühlen sich nach dem Zweiten Golfkrieg nur durch bilaterale Schutzverträge mit den westlichen Mächten - vor allem mit Frankreich und den Vereinigten Staaten - sicher und zogen es vor, auf den arabischen Beistand durch Ägypten und Syrien, wie er in der Damaskus-Deklaration von 1991 vorgesehen war, zu verzichten.

Ähnliches gilt für Saudi-Arabien. Dennoch ist in Saudi-Arabien aber vieles anders. Seit 1945 stehen die Saudis mit den Amerikanern in einer "unheiligen" symbiotischen Beziehung: Die Saudis verkaufen Öl an die Amerikaner und lassen amerikanische Militärstützpunkte auf saudischem Boden zu. Dafür verkaufen die Amerikaner den Saudis Waffen, schützen sie militärisch und sehen über die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien nonchalant hinweg. Jetzt stellt sich heraus, dass Riad ein wesentlicher Teil des islamistischen Terrorproblems ist und nicht Teil seiner Lösung. Schon seit Jahrzehnten ist bekannt, dass Saudi-Arabien den Export von religiösen Schriften, die mit seiner Islam-Auffassung in Übereinstimmung stehen, und den Ausbau der religiösen, materiellen Infrastruktur –  in Form von Moscheen –  finanziert. Ebenfalls seit Jahrzehnten ist bekannt, dass die Wahhabiten-Bewegung,[11] die auch heute noch die Grundlagen der Staatsreligion in Saudi-Arabien bildet, aufgrund ihrer intoleranten Haltung gegenüber ihren muslimischen Glaubensbrüdern und ihrer gemeinhin als geistesfeindlich bekannten Auffassungen unter dem Verdacht der Häresie stand und erst durch ihren mit Petrodollars erkauften politischen Erfolg allgemein als orthodox anerkannt ist. Nicht genug: Saudi-Arabien ist auch noch Hüterin der zwei heiligen Stätten des Islam (Mekka und Medina), Sitz der 57 Staaten zählenden Organisation der Islamischen Konferenz (OIC), der Islamischen Weltliga und der Islamischen Entwicklungsbank. Saudi-Arabien hat sich so zum international wichtigsten Repräsentanten der konservativen Strömung des Islamismus gemacht.[12] Folgerichtig hat auch Saudi-Arabien neben den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan als einziger Staat das Taliban-Regime bis zu den Ereignissen vom 11. September diplomatisch anerkannt. Ein Regime, dessen Islam-Auffassung der der Wahhabiten-Bewegung mehr als ähnelt.    Jetzt stellt sich ferner heraus, dass mindestens zwölf der bislang identifizierten Selbstmordattentäter aus Saudi-Arabien stammen und nicht etwa unter den „usual suspects“ islamistischer Selbstmordattentäter, Iranern oder Palästinensern, zu finden waren. Der engste Verbündete der Amerikaner hat zwar die Anschläge vom 11. September scharf verurteilt, zeigt aber bislang nur sehr wenig Bereitschaft, mit den amerikanischen Sicherheitsdiensten zu kooperieren oder den Luftwaffenstützpunkt "Prinz Sultan" für Militäraktionen der Anti-Terror-Koalition freizugeben.

Pure Angst in den „Schurkenstaaten“[13]

Im Gegensatz zu dem vermeintlich starken Frontstaat Syrien und dem nur scheinbar „in disguise“ agierenden „Schurkenstaat“ Saudi-Arabien herrscht in den anderen schwachen oder auf internationalen Druck geschwächten arabischen und islamischen  „Schurkenstaaten“ - Jemen, Libanon, Libyen, Sudan, Irak und Iran - nicht nur physische Angst vor möglichen amerikanischen Vergeltungsschlägen, sondern auch die politische Angst, als die Staaten in der Region, die den Terrorismus nach US-Definition unterstützen, erneut gebrandmarkt zu werden und die Chancen auf eine Reintegration in die Weltgemeinschaft auf Dauer zu verlieren.

Der Jemen, wiedervereinigt zwar, aber äußerst verarmt, ist  der einzige Staat auf der arabischen Halbinsel, der nicht in den feudalen Golfkooperationsrat darf, und muss sich trotz der seit langem bestehenden Zusammenarbeit zwischen der jemenitischen Führung und den im Jemen stationierten amerikanischen Sicherheitsdiensten als potenzielles Ziel amerikanischer Vergeltungsanschläge ansehen. Das amerikanische Militärschiff „U.S.S. Cole“ wurde vor Aden am 12.Oktober 2000 von Selbstmordbombenattentätern in die Luft gejagt. Al Qa’eda soll darüber hinaus Ausbildungslager im Jemen haben. Nicht nur deswegen herrscht im Jemen Angst. Der Jemen ist marginalisiert: als "potenziell demokratischer" Gegenpol zu den feudalen Erdölmonarchien des Golfkooperationsrates, und als der - wegen seiner Bevölkerungszahl – einzige potenzielle Rivale Saudi-Arabiens um die Vorherrschaft auf der arabischen Halbinsel.

Im Libanon herrscht Angst, wegen der Militäroperationen der Hizbullah zum direkten Ziel der (militärischen) Antiterrorkampagne zu werden. Eine Angst, die von allen Konfessionen und Gruppierungen - angeführt von der Troika an der Spitze des Staates: dem christlichen Staatspräsidenten Emil Lahoud, dem sunnitischen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri und dem schiitischen Parlamentspräsidenten Nabih Berri - geteilt wird. Vor dem Hintergrund des israelisch-palästinensischen Konflikts betont Beirut daher wie Syrien die notwendige Unterscheidung zwischen „Terrorismus" und „legitimem Widerstand".[14] Angesichts des konfessionellen Balanceakts im Libanon sorgt man sich, dass eine Antiterrorkampagne, die als eine gegen die Muslime im Libanon gerichtete Aktion wahrgenommen wird, das fragile politische System nachhaltig aus dem Gleichgewicht bringen könnte.

Obwohl die Vereinigten Staaten  die Sanktionen gegen Libyen bereits im Juli 2001 um weitere fünf Jahre verlängert haben, verurteile Muammar Al Ghaddafi die Anschläge scharf und betonte das Recht der Vereinigten Staaten, sich zu rächen. Ghaddafis neu entdeckte „Amerikanophilie“ wird sich angesichts der im La-Belle-Prozess in Berlin vorgelegten Indizien, die nachdrücklich auf einen libyschen „Staatsterrorismus“ in der Vergangenheit hinweisen, wohl doch nicht positiv auf das bestehende Sanktionsregime auswirken.[15]

Das islamistische Regime Bashars im vom Bürgerkrieg zerrissenen Sudan, das von 1991 bis 1996 Osama bin Laden Unterschlupf gewährte, verurteilte die Anschläge scharf, hat aber gleichzeitig auch Angst. Die breite Bevölkerung befürchtet, dass die Vereinigten Staaten den Sudan wieder militärisch angreifen könnten. Zu gegenwärtig sind die Erinnerungen an die US-Angriffe auf Khartum im August 1998 als Antwort auf die Terroranschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam, die (mutmaßlich) von bin Laden orchestriert wurden. Die Angst des Regimes, dass die seit 1996  auf dem Sudan lastenden Sanktionen der Vereinten Nationen (VN) wegen der Ereignisse des 11. Septembers nun doch nicht aufgehoben würden, hat sich aber als unbegründet erwiesen. Mit seiner Resolution 1372 vom 28.September 2001 hob der VN-Sicherheitsrat diese Sanktionen mit sofortiger Wirkung auf. Die enge Zusammenarbeit des Regimes mit amerikanischen Sicherheitsexperten, die sich seit einem Jahr im Sudan aufhalten, die Festnahme von mehr als 150 Anhängern bin Ladens kurz nach den Anschlägen vom 11. September und nicht zuletzt der durch die in jüngster Zeit entdeckten, großen Erdölvorkommen deutlich gestiegene „sex appeal“ des Sudan für westliche Investoren haben sich doch ausgezahlt.

Der Irak - und das ist nun wirklich nicht  überraschend - hat die Terroranschläge vom 11. September nicht verurteilt. Nach offizieller irakischer Lesart zahlen die Vereinigten Staaten nun den Preis für ihre Verbrechen gegen die Menschheit, insbesondere für ihre einseitige und verfehlte Politik gegenüber der arabisch-islamischen Welt. Der Irak hat vielmehr die arabischen Staaten, die diese Terroranschläge angesichts des Leidens der irakischen Bevölkerung "schamlos" verurteilt haben, scharf kritisiert und ihnen nahegelegt, in der Zukunft besser zu schweigen. Diese Drohgebärden verdeutlichen natürlich auch die Angst des irakischen Regimes, ad infinitum dem rigiden internationalen Sanktionsregime ausgesetzt zu bleiben.

Der Iran steckt in einem tiefen Dilemma. Auf der einen Seite hat er sein tiefes Mitgefühl mit den Opfern der Terroranschläge vom 11. September zum Ausdruck gebracht. Auf der anderen Seite bleiben die Vereinigten Staaten der ideologische Feind, der "große Satan", und die drei größten Terroristen sind laut Teheran Times Bush, Blair und Sharon. Zu allem Überfluss kämpft der schiitische Iran plötzlich Schulter an Schulter mit den USA gegen die sunnitischen Taliban, die seit ihrem Blutbad vor allem unter den schiitischen Hazara und der Ermordung von acht iranischen Diplomaten im afghanischen Mazar i Sharif im Jahre 1998 zu Irans Hauptfeinden in der islamischen Welt zählen.

Für die  palästinensische Autonomieregierung unter Führung von Jasser Arafat sah es zunächst so aus, als ob sie in ihren Bemühungen, Eigenstaatlichkeit zu erlangen, auf Jahre zurückgeworfen würde und Israel den größtmöglichen Nutzen aus den verheerenden Terroranschlägen ziehen könnte.

Tiefe Verunsicherung in Israel

Auch die offizielle Politik in Israel glaubte zunächst, dass die Vereinigten Staaten und der Rest der Welt endlich verstehen würden, was Israel durchmacht und schlossen (vorschnell) daraus, dass Null-Toleranz gegenüber dem Weltterror gleichzusetzen ist mit Null-Toleranz gegenüber einem – nicht näher definierten – palästinensischen Terror. Im Windschatten der Anti-Terror-Koalition glaubte Ariel Sharon nun noch härter den palästinensischen Terror  bekämpfen zu können als je zuvor. Sehr schnell wurde es Scharon aber  klar, dass seine Schlussfolgerung aus den Ereignissen vom 11. September nicht uneingeschränkt von den Vereinigten Staaten geteilt wurden. Als er auch noch sagte, Israel sei nicht bereit, wie die Tschechoslowakei, die im Rahmen einer verfehlten britischen  Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland 1938 geopfert wurde, als „Morgengabe“ für die Araber im amerikanischen Kampf gegen den Terror zu dienen, kam es zu ernsthaften Verstimmungen zwischen Jerusalem und Washington. Vor diesem Hintergrund befürchten nun dieselben israelischen Offiziellen einen amerikanischen Paradigmenwechsel. Amerika könnte die israelische Politik gegenüber den Palästinensern, insbesondere  die israelische Siedlungs- und Absperrungspolitik als Teil des amerikanischen Terror-Problems betrachten.[16]

Ungeteilte Solidarität in der Türkei

Die Türkei, als einziger nahöstlicher Staat auch NATO-Mitglied, hat nicht nur die Terroranschläge vom 11. September scharf verurteilt, sondern auch als einziges muslimisches Land bereits Einheiten zur Unterstützung der Nordallianz gegen die Taliban nach Afghanistan entsandt. Die türkische Regierung hat damit wieder ein klares Votum nach außen für ihre West-Orientierung abgegeben, die nach innen und in der Region aber überwiegend negativ ausstrahlt. Die Türkei, ohnehin als Rechtsnachfolger des Osmanischen Reiches historisch in der Region vorbelastet, verstrickt in einem Machtkampf mit dem Iran um die Hegemonie über die islamischen Türk-Republiken der ehemaligen Sowjet-Union, hat auch durch ihre strategische Allianz mit Israel, ihre Wasserpolitik (Staudamm-Projekte) gegenüber Syrien und dem Irak sowie ihre Kurden-Politik arabischen Missmut auf sich gezogen.

(Un)wahrscheinliche Verhaltensmustern

Boomende Sicherheitskonjunktur

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die autoritären Regime in der Region die blühende Sicherheitskonjunktur auch in ihrem Sinne nützen werden. Die Ereignisse des 11. September waren Wasser auf die Mühlen der autoritären Präsidialregime, die schon seit langer Zeit ein hartes Vorgehen gegen die Islamisten predigen. Sie sehen sich in ihrer Position gestärkt und profitieren von der gegenwärtigen "Sicherheitskonjunktur“. Die Zeiten, in denen die Kritik der europäischen Regierungen wegen der Menschenrechtsfragen im Vordergrund stand, scheinen bis auf weiteres vorüber zu sein.

Ein zentrales, wenn nicht sogar das wesentliche Ziel der autoritären Präsidialregime nach dem 11. September besteht in der Aufrechterhaltung der innenpolitischen Stabilität. Im Inland wird versucht werden, mit allen - auch repressiven - Mitteln Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, nicht zuletzt, um den bereits schon jetzt feststellbaren deutlichen Rückgang der Einnahmen aus dem Tourismus, der in diesen Staaten eine der wichtigsten Devisenquellen darstellt, nicht ins Bodenlose fallen zu lassen.

Ähnliches gilt auch für die offenen, aber kapitalarmen Monarchien Jordanien und Marokko, aber aus anderen Gründen. Seit Juli diesen Jahres, als das Parlament aufgelöst wurde,  wird Jordanien mit Notverordnungen (Temporary Laws) regiert. Wegen der anhaltenden Intifada al Aqsa kam es in der Vergangenheit schon zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen pro-palästinensischen Demonstranten und der von Transjordaniern dominierten Polizei. Das haschemitische Königreich von Jordanien, dessen Bevölkerungsmehrheit palästinensischen Ursprungs ist,  bleibt vorerst gefangen in einem gefährlichen und fragilen Balanceakt zwischen den guten Beziehungen zum Westen und seiner Einbettung  in der arabischen Welt bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Friedensvertrages mit Israel.

Der marokkanische König, der auch Vorsitzender des Jerusalem-Komitees der Organisation der Islamischen Konferenz ist, ist in einer etwas entspannteren Situation. Durch die geographische Distanz ist es Marokko trotz der anhaltenden Krise im Nahen Osten möglich, den gesellschaftlichen Öffnungsprozess voranzutreiben und sogar bisher geltende Tabu-Themen: wie Sahara-Konflikt, Monarchie und Islam peu à peu aufzubrechen.

Es ist wahrscheinlich, dass Syrien die Ereignisse vom 11.September bezüglich seiner Rolle im Libanon nützen wird. Die Notwendigkeit der syrischen Präsenz im Libanon könnte sicherheitspolitisch  begründet werden mit der Kontrolle von Hizbullah und anderen libanesischen islamistischen Gruppen, radikalen Palästinensergruppen und potenziellen konfessionellen Spannungen. Insbesondere nach den großangelegten Angriffen auf die Shebaa-Farmen am 22. Oktober hat sich der indirekte Druck der USA auf Syrien verstärkt, Ruhe an der Grenze zu Israel zu gewährleisten.  Und die Notwendigkeit syrischer Kontrolle im Libanon würde sich natürlich noch steigern, sollte es tatsächlich eine Spaltung zwischen einem pro-iranischen und einem pro-syrischen Flügel innerhalb der Hizbullah geben. Darüber hinaus hat Syrien ein gewisses Einflusspotenzial auf radikale Palästinensergruppen in den Flüchtlingslagern im Libanon, denen von den USA Verbindungen zum bin-Laden-Netzwerk nachgesagt werden. Eine dritte Dimension könnte darüber hinaus das potentielle Aufflackern konfessioneller Spannungen darstellen, wie sie sich in den Angriffen auf zwei Kirchen in Sidon und eine Moschee in Batroun angedeutet haben.

Zahnloser arabisch-islamischer Mulitilateralismus

Auch die multilaterale arabische Sicherheitszusammenarbeit wird sich vermutlich weiter verstärken.  Schon seit Beginn der 90er Jahre arbeiten die Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga erfolgreich im Feld der inneren Sicherheit zusammen. 1998 wurde sogar ein Abkommen zur Bekämpfung des Terrorismus geschlossen. Der Rat der arabischen Innenminister ist immer noch der einzige, der sich nach dem Zweiten Golfkrieg – auch mit großer Beitragsdisziplin – regelmäßig trifft.[17] Dennoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich die arabisch-islamische Welt in ihren multilateralen Foren auf eine gemeinsame arabisch-islamische Reaktion gegen eine äußere Bedrohung in der nahen Zukunft einigen kann.

 Die arabisch-islamische Welt ist in einer komplexen Situation gefangen. Es geht nun nicht mehr einfach darum, die Terroranschläge in den Vereinigten Staaten zu verurteilen. Es geht nun vor allem darum, zwischen dem richtigen und dem falschen Islam zu differenzieren, den Unterschied zwischen Freiheitskämpfer und Terroristen zu definieren. Es geht auch darum, die islamischen Bruderstaaten wegen ihrer Beherbergung terroristischer Organisationen zu kritisieren, andere islamische Staaten für ihre aktive Unterstützung der amerikanischen und britischen Luftangriffe auf Afghanistan wiederum nicht zu verurteilen. Nicht zuletzt geht es darum, die restlichen islamischen Staaten gegen einen Angriff des Westens „ohne hinreichenden Grund“ zu schützen.

Bislang scheint es unmöglich, auf multilateraler Ebene gemeinsame Antworten auf diese Fragen zu finden, wie es das jüngste Treffen der Organisation der Islamischen Konferenz und das erste Treffen des Central Office for the Boycott of Israel seit 1993 gezeigt haben.

Der Vergleich zwischen der Abschlusserklärung der neunten außerordentlichen Sitzung der Außenminister der OIC, die in Doha (Katar) stattfand, vom 10.Oktober 2001 und dem letzten Entwurf dieser Abschlusserklärung ist in dieser Hinsicht vielsagend. Im inoffiziellen Entwurf konnten sich die Länder – so schien es –  noch darauf einigen, Angriffe auf islamische oder arabische Staaten unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus abzulehnen.[18]  In der offiziellen Abschlusserklärung ist dieser Satz aber nicht mehr zu finden. Wenn schon kein Konsens über die Ablehnung von derartigen Angriffen erreicht werden kann, muss ein Konsens über eine gemeinsame Reaktion der arabisch-islamischen Welt auf potenzielle Angriffe der Vereinigten Staaten auf ein arabisches Land als illusorisch erscheinen.

Genauso ergebnislos verlief das erste Treffen des Central Office for the Boycott of Israel, das im Oktober in dessen Hauptsitz in Damaskus stattfand. Bei Abwesenheit der arabischen Staaten, die mit Israel bereits einen Friedensvertrag (Ägypten und Jordanien) haben oder weiterhin – trotz der seit einem Jahr andauernden Intifada Al Aqsa und des Aufrufs der Arabischen Liga, die Beziehungen mit Israel einzufrieren – diplomatische Beziehungen mit Israel (Mauretanien) aufrechterhalten, konnten sich die anwesenden Staaten nicht auf die Wiederaufnahme des indirekten Wirtschaftsboykotts gegen Israel einigen.

Der Flächenbrand bleibt vorerst aus

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Bevölkerung in den Staaten der arabisch-islamischen Welt – trotz der zu erwartenden Radikalisierung der offiziellen Rhetorik – ruhig bleibt, solange sich die Vergeltungsangriffe gezielt und mit großer Treffsicherheit gegen die Taliban in Afghanistan und Al Qa'eda weltweit richten. Selbst selektive Angriffe gegen die Al Qa’eda in der arabischen Welt – und hier sind natürlich vor allem der Jemen, Saudi-Arabien, der Sudan und der Irak betroffen – werden nicht zu Massenprotesten der „arabischen Strasse“ führen. Zu deutlich ist die Verstrickung dieses Netzwerks in den internationalen Terrorismus auch in der arabischen Welt dokumentiert worden.

Wenn sich aber die Angriffe der Anti-Terror-Koalition gegen Organisationen richten sollten, die nach arabisch-islamischer Überzeugung den legitimen Widerstand gegen die israelische Besatzung unterstützen, wie die Hamas,[19] den Jihad Islami (Heiliger islamischer Krieg) und die Hizbullah (Partei Gottes) oder die säkulare  Palästinensische Befreiungsfront, werden die Regimes große Mühe haben, ihre bislang dezidiert pro-amerikanische Position gegenüber einer zunehmend anti-westlichen Stimmung in der Bevölkerung zu behaupten.  

Ähnliches würde bei einem umfassenden und massiven Militärschlag gegen den Irak[20] gelten, der ohne absehbare Ergebnisse über längere Zeit andauern und zunehmend zivile, unschuldige Opfer, „Kollateralschäden“, fordern würde.

Notwendiger Politikwechsel

Glaubwürdigkeit schaffen - bei der Lösung des arabisch-israelischen Konflikts

(Der Zeitpunkt ist günstig. Aus dieser großen Krise können große Möglichkeiten erwachsen.)

Als direkte Folge des 11. September hat die Bush-Regierung ihren bisherigen „benign neglect“ des laufenden Nahost-Friedensprozesses zwischen Israel und seinem arabischen Nachbarn eingestehen müssen. Bereits am 24. September, so heißt es jetzt, wollte Präsident Bush vor den Vereinten Nationen die neue Nahost-Politik der Vereinigten Staaten vorstellen und die amerikanische Unterstützung für die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates explizit erwähnen. Aus dieser Absichtserklärung kann aber nur ein glaubwürdiger Strategie- bzw. Paradigmenwechsel in der amerikanischen Nahost-Politik werden, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt werden.

Grundsätzlich müssen die bestehenden Einschätzungen der Länder in der Region als "moderate" arabische Partner der USA bzw. des Westens (Algerien, Tunesien, Ägypten), als dezidiert pro-amerikanische arabische Freunde (Jordanien und Marokko), als arabische Schutzbefohlene (die Staaten des Golf-Kooperationsrates), als arabisch-islamische "Schurkenstaaten" (Libyen, Sudan, Jemen, Libanon, Syrien, Irak und Iran) und als nicht-arabische strategische Alliierte (Israel und die Türkei) auf den Prüfstand gestellt werden. Vermeintliche strategische Partner der Anti-Terror-Koalition (vor allem Saudi-Arabien) erweisen sich nun als Teil des Problems. Vermeintliche „Schurken“ (vor allem Syrien und der Iran) könnten dagegen Teil der Lösung des Problems werden.

Bislang ist der laufende Friedensprozess ein regionaler Friedensprozess unter der de jure gemeinsamen Führung der USA und Russlands, dem Rechtsnachfolger der UdSSR, aber de facto  unter alleiniger amerikanischer Führung und kein internationaler Friedensprozess unter Leitung der Vereinten Nationen, da  Israel den Vereinten Nationen – nicht unberechtigt – einen anti-israelischen „Bias“ unterstellt . Auch die EU ist in diesem Prozess weitestgehend marginalisiert, nicht nur weil sie wegen ihrer noch nicht ausgereiften Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik den regionalen Konfliktparteien keine hinreichenden Garantien über die Sicherung von Friedensabkommen geben kann, sondern auch weil einige Mitgliedsländer der EU als zu pro-arabisch – nach israelischer Lesart – gelten.

Um die breite Unterstützung der arabisch-islamischen Welt im Kampf gegen den internationalen Terror zu gewinnen und die Legitimierung des Antiterrorfeldzugs durch die Vereinten Nationen zu erhalten, müssen die Vereinigten Staaten aber ihr bisheriges Monopol und ihren Unilateralismus  aufgeben und den Friedensprozess internationalisieren. Die Chancen dafür sind nicht schlecht. Die Ausgangslage ist mit der von 1991 vergleichbar. Damals kam es sehr schnell nach dem Ende des Zweiten Golfkrieges auf Druck der USA zu einer Nahost-Friedenskonferenz. Auch damals befanden sich die Konfliktparteien in einer Sackgasse. Israel hatte seine Bedeutung als westliches Bollwerk gegen den Sowjetimperialismus im Nahen Osten verloren. Darüber hinaus minimierte die arabisch-amerikanische Anti-Irak-Koalition Israels strategische Bedeutung für die USA im Zweiten Golfkrieg. Auch heute brauchen die Vereinigten Staaten die arabisch-islamischen Staaten, dieses Mal für ihre internationale Anti-Terror-Koalition. Um den Aufbau dieser Koalition nicht zu gefährden, spielt Israel daher nur indirekt einen Part in ihr.

Damals musste der Libanon, der seit dem Taif-Abkommen der Arabischen Liga im Jahre 1989 (das in der gleichnamigen Stadt in Saudi-Arabien geschlossen wurde) unter syrischer Kontrolle steht, seinem “Bruder” folgen. Jordanien versprach sich von seiner Teilnahme an der Madrider Nahost-Friedenskonferenz am 30. September 1991 einen Ausbruch aus der politischen Isolation und ausländische Hilfe für seine am Boden liegende Wirtschaft - ebenso die Palästinenser. Auch heute wird der Libanon seinem syrischen Bruder folgen müssen. Jordanien braucht, um die innere Stabilität aufrechtzuerhalten, ein Ende der Intifada al Aqsa. Ebenso die Palästinenser, die vor einer innenpolitischen Zerreißprobe angesichts der friedenspolitischen Sackgasse stehen.

Neue Wege suchen – bei der Integration der Türkei und des Iran in die Region

Der laufende arabisch-israelische Friedensprozess kann aber nicht isoliert von dem anderen Hauptkonflikt um die Vorherrschaft am Golf  in der Region betrachtet und muss als grundlegender Teil eines umfassenderen regionalen Friedensprozesses begriffen werden, der neben Israel auch die Türkei und vor allem den Iran miteinschließt. Nur dann sind die Befürchtungen des Iran, in einer neuen regionalen Arbeitsteilung, die aus dem arabisch-israelischen Friedensprozess resultiert, keine Rolle zu spielen, zu entkräften. Nur dann können die weiter oben diskutierten Probleme der Region mit der Türkei gelöst werden.

Alte Denkansätze aufbrechen – bei der Lösung des Irak-Problems

Seit über zehn Jahren ist das starre Sanktionsregime der Vereinten Nationen gegen den Irak in Kraft. Es ist wohl eines der härtesten Regime, das jemals gegen einen Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen verhängt wurde. In mehreren Punkten müssen die Sanktionen, misst man sie an ihren ursprünglichen Zielen, als gescheitert angesehen werden. Die humanitären Folgen der zehnjährigen Blockade, die vom Regime Saddam Husseins zweifelsohne auch propagandistisch ausgenützt werden, sind als katastrophal einzustufen. Durch das fortgesetzte Leiden der irakischen Zivilbevölkerung besteht dauernd die Gefahr einer erneuten Solidarisierung arabischer Staaten mit dem Irak, die durch die anhaltende Intifada Al Aqsa noch weiter erhöht worden ist. Darüber hinaus haben die Sanktionen nicht zur Schwächung des Regimes von Saddam Hussein im Irak geführt, sondern wesentlich zu seiner Stärkung beigetragen: Der aus den Sanktionen resultierende Schmuggel hat neue Einnahmequellen für das Regime eröffnet. Das Regime hat sich auch über sein Verteilungsmonopol neue Legitimität  in der irakischen Mängelwirtschaft[21] verschafft und nicht zuletzt konnte sich Saddam Hussein mit Erfolg als Salah Al Din (Saladdin) der Neuzeit gegen die modernen Kreuzritter, die Vereinigten Staaten, positionieren.

Die bisherige undurchsichtige Arbeit der UN-Entschädigungskommission (UNCC), deren Ziel es sein soll, die betroffenen Länder mit Mitteln aus den irakischen Erdöleinnahmen (derzeit 30 Prozent) für Kriegsfolgen zu entschädigen und die unmittelbaren Kriegskosten der Golfkriegsallianz zu kompensieren, verstärkt den Eindruck auf Seiten der arabischen Öffentlichkeit, dass es sich bei dem gesamten Sanktionsregime um eine Art Siegerjustiz handelt.[22]

Gleichzeitig besteht aber ohne jeden Zweifel weiterhin die Notwendigkeit, dem aggressiven Regime Einhalt zu gebieten. Die neue US-Administration, die ursprünglich die gegen den Irak eingesetzten Mittel zwar überprüfen, insgesamt aber mit einer weiterhin konfrontativen und eher noch verhärteten Haltung gegenüber dem Irak vorgehen wollte, muss nach dem 11. September auch ihre bisherige Irak-Politik erneut auf den Prüfstand stellen.

Mehr Demokratie wagen

Eine glaubwürdigere, ausgewogenere Nahost-Politik der Vereinigten Staaten reicht natürlich bei weitem nicht aus, den Nährboden des (gewaltbereiten) Islamismus auszutrocknen. Algerische islamische Extremisten schneiden nicht die Hälse ihrer Landsleute wegen der pro-israelischen US-Nahost-Politik auf. Genau so wenig wie islamische Radikale auf den Philippinen ihre Geiseln wegen der amerikanischen Irak-Politik töten.

Die Staaten in der arabisch-islamischen Welt müssen sich auch selbstkritisch fragen, warum sie hinsichtlich einer Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsindikatoren im internationalen Vergleich ausgesprochen schlecht abschneiden.[23] Die derzeit boomende Sicherheitskonjunktur in vielen Ländern der Region wird die gesamtgesellschaftliche Suche nach Antworten auf diese Fragen nicht aufhalten, höchstens verzögern können. Sie wissen und haben es bereits durch den arabischen CNN – Al Gazeera – in aller Deutlichkeit erfahren, dass die ständig wachsende weltweite Informationsdichte die politische Liberalisierung mittel- und langfristig erzwingt.

Die Länder in dieser Region müssen sich zwischen Repression, Stagnation und Marginalisierung, die die politischen Spannungen weiter erhöhen und den Extremismus – nicht nur den gewaltbereiten Islamismus – schüren, einerseits und politischer Öffnung, nachhaltigem Wachstum und Integration in die Weltwirtschaft andererseits entscheiden. Auf jeden Fall müssen sie handeln. Die Länder dieser Region müssen sich der breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung stellen. Sie müssen sich öffnen, Islam, Säkularismus und Moderne vereinen[24] und mehr Demokratie wagen. Der Zeitpunkt ist günstig. Aus dieser großen Krise können große Möglichkeiten erwachsen.


[1] Der Islamismus ist eine sozioökonomische und politische Bewegung, die „unislamische“ bzw. importierte Regierungs-, Wirtschafts- und Gesellschaftsformen ablehnt und deren Ersatz  durch eine islamische Ordnung fordert. Die Dynamik des Islamismus – aber auch seine Gefährdung – liegt darin begründet, dass das weltanschauliche Konstrukt von seinen  Verfechtern nicht als synkretistisch, sondern als organisch und islamisch verstanden wird.  Beim Islamismus handelt es sich nicht nur um eine religiöse Erneuerung, sondern auch um den Versuch, vor allem politische Ordnungsvorstellungen religiös zu legitimieren. Der Islamismus ist keineswegs monolithisch, sondern sehr heterogen und spaltet sich seit der Islamischen Revolution im Iran in konservative und sozialrevolutionäre Richtungen auf. Die konservative Strömung des Islamismus, eher ein Mitläufer,  instrumentalisiert den Islam als Mittel zur Systemstabilisierung und zur politischen Einflussnahme auf andere muslimische Länder. Die ihrerseits heterogene sozialrevolutionäre Strömung des Islamismus versucht hingegen, gewaltfrei durch politische Partizipation oder gewaltsam durch militant-radikale Gruppierungen das politische System zu verändern. Sie versteht sich als genuin islamische Opposition zu den säkularen Parteien. Vgl. hierzu auch Detlev Khalid, Reislamisierung und Entwicklungspolitik, München, 1982, S.34ff

[2] Vgl. hierzu auch das Vorwort von Alfred Mechtersheimer in: Ramsey Clark, Wüstensturm, US- Kriegverbrechen am Golf, Göttingen, 1993, S. 11f

[3] Vgl. auch Ridha Kefi, «Les Arabes dans la tourmente», in: J.A./L'Intelligent, N° 2123, du 18 au 24 Septembre 2001, S.26f

[4] In der arabischen Welt glaubt man vornehmlich an eine zionistische Verschwörung gegen die Araber, im Iran eher an eine Verschwörung der Vereinigten Staaten, die mit der militärischen Präsenz in Afghanistan und Zentralasien den Iran strategisch einzukreisen und den Islam zu schwächen versuchen. Vgl. hierzu Atieh Bahar Consulting, Post 11 September 2001: Determinants of Iran’s Political and Strategic Response, Teheran, 9 October 2001, S.9

[5] Vgl. auch als eine der vielen kritischen Stimmen in der arabischen Welt Taieb Zahar, „De la justice et du terrorisme“, in: Realités, N° 825, Tunis, du 18 au 24/10/2001, S.9

[6] Hazem Saghiyeh, “lt's not all America's fault”, in TIME, October 15, 2001, S.39

[7] Von vielen der in Algerien tätigen islamistischen Terroristen ist bekannt, dass sie in Afghanistan ausgebildet wurden  und ihre ersten militärischen Erfahrungen in den Reihen der afghanischen Opposition gegen die Sowjetunion machten. Nach der Niederlage der Sowjets sind sie in ihr Ursprungsland zurückgekehrt, wo sie unter dem Namen „Afghanen“ die Kernzelle terroristischer Banden bildeten.

[8] Vgl. FranVois Soudan, Védrine: «Pourquoi le Maghreb est inquiet», in: J.A./L’Intelligent, N° 2126, du 9 au 15 Octobre 2001, S.8

[9] Vgl. hierzu M. Ali lbrahim, “Tell me more ... About terrorism à la Ayman al-Zawahri, how the USA is somehow responsible“, in: Egyptian Gazette, October 29, 2001, der nachzeichnet, wie es amerikanische Sicherheitsdienste versäumt haben, ägyptische Warnungen vor einem der taktischen Drahtzieher des Al Qa’eda (Basis) Netzwerkes rechtzeitig ernst zu nehmen.

[10] Zunächst ist in diesem Zusammenhang das vitale Interesse Syriens zu nennen, die Hizbullah im Libanon nicht als indirektes Druckmittel im Rahmen der syrischen Nadelstichpolitik gegen Israel zu verlieren. Natürlich ist auch die Legitimierung des palästinensischen Befreiungskampfes von strategischer Bedeutung für den einzig verbliebenen, militärisch potenten Frontstaat.

[11] Vgl. umfassend zu den Wurzeln des Wahhabismus die immer noch  lesenswerte Darstellung von Richard Hartmann, „Die Wahhabiten“, in: Zeitschrift der morgenländischen Gesellschaft, Band 78, Heft 2, 1924, S. 176ff

[12] Saudi-Arabien unterstützt mehrere islamistische Bewegungen in anderen Ländern und wird von diesen – aus Überzeugung oder aus pragmatischen Gründen – als legitim im Sinne des Islam  anerkannt, während andere islamistische Bewegungen  - wie dies schon die Moscheebesetzungen in Mekka 1979 und 1987 deutlich dokumentierten und die jüngsten Bombenanschläge in Saudi-Arabien bestätigten – sie als unislamisch und illegitim attackieren.

[13] Der gängige Begriff „Schurkenstaat“ (rogue state) wurde unlängst von der amerikanischen Administration durch den Begriff „Terrorismus unterstützender“ Staat ersetzt.

[14] Vgl. hierzu Cilina Nasser, “US “unfit” to lead war on terrorism”, in: Daily Star, Beirut, October 3, 2001, S.1

[15] Vgl. FranVois Soudan, «Les Arabes face à la guerre», in: J.A./L'Intelligent, N° 2125, du 2 au 8 Octobre 2001, S.15 und Georg Mascolo, «Allerhand Ärger», Der Spiegel, 46/2001, S.88

[16] Vgl. Leslie Susser, “A whole new world”, in: The Jerusalem Report, October 22, 2001,S.12f.

[17] Vgl. hierzu Volker Perthes, Vom Krieg zur Konkurrenz, Baden-Baden, 2000, S.182

[18] Vgl. hierzu Draft Final Communiqué of the Ninth Extra-Ordinary Session of the Islamic Conference of Foreign Ministers, Doha, State of Qatar, 23 Rajab 1422H (10 October), S. 4

[19] Hamas bedeutet als Abkürzung Eifer. Gleichzeitig verbirgt sich hinter diesem Kürzel der Begriff arabische islamische Widerstandsbewegung.

[20] So gehen die nadelstichartigen Luftangriffe gegen militärische Einrichtungen im Irak natürlich weiter, auch wenn sie schon längst nicht mehr den Weg in die täglichen Abendnachrichten finden.

[21] Vgl. ausführlich zur wirtschaftlichen Situation im Irak Kadhim A. Habib, „Das irakische Volk zwischen dem Hammer des despotischen Regimes und dem Amboss der einzigen Supermacht“, in: epd-Dokumentation, UN-Sanktionen ohne Ende? Chancen zivilgesellschaftlicher Interventionen am Beispiel Irak, Frankfurt am Main, Nr. 18/01, 30. April 2001, S.5ff 

[22] Vgl. hierzu ausführlich Alain Gresh, „Der Irak wird zahlen“, in: Le Monde diplomatique, Deutsche Ausgabe, Berlin, Okober 2000, S.1 und S.6f.

[23] Vgl. hierzu ausführlich Andrä Gärber, MENA-Region: „Der Nahe Osten und Nordafrika, Zwischen Bilateralismus, Regionalismus, und Globalisierung“, FES-Analyse, Bonn, September 1999

[24] Das Argument, Islam und Säkularismus würden sich gegenseitig ausschließen, lässt sich bestenfalls durch die künstliche Aufwertung des Rechts-Islam (Scharia-Islam) gegenüber dem Volks-Islam (Tariqa-Islam) aufrechterhalten. Vgl. hierzu auch die grundlegende Arbeit von Bassam Tibi, Die Krise des Islams – eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, München 1981, S.89f

Andrä Gärber

*1961; Volkswirt, Romanist und Arabist; Leiter des Referates Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn;
gaerbera@fes.de


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