Internationale
Politik und Gesellschaft Online International Politics and Society 1/2002 |
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Die autoritären, anti-islamistischen Präsidialregimes der Region werden gestärkt. Gleichzeitig deuten sich politische Gewichtsverschiebungen an. Saudi-Arabien erweist sich als Teil des Terrorismusproblems, Syrien und Iran könnten Teil der Lösung sein. Neue US-Impulse für den Nahost-"Friedensprozess" erscheinen möglich. Ebenso ein Aufbruch der arabischen Welt aus ihrer langen gesellschaftspolitischen Stagnation. |
Im Nahen und
Mittleren Osten (Mashrek) und Nordafrika (Maghreb) hat sich die Fassungslosigkeit
über das, was der einzigen Supermacht, den USA, am 11. September 2001
widerfahren ist, gelegt. Mittlerweile erkennt man die Konturen der neuen
politischen Lage sowohl in der Arabischen Welt als auch in den Ländern,
die deren Stabilität entscheidend mitprägen: im Iran, der Türkei und
Israel.
Schon vor dem
11. September haben die Länder dieser Region immer wieder die Titelseiten
der internationalen Presse bestimmt. Kaum eine andere Region ist so
sehr von Konflikten geprägt: zwei weltpolitisch bedeutsamen Hauptkonflikten
– dem nahöstlichen Territorialkonflikt um Palästina und dem Hegemoniekonflikt
am Persischen Golf – sowie einer Vielzahl nationaler und zwischenstaatlicher
Subkonflikte. Bereits nach dem zweiten Golfkrieg waren sich die Analysten
weitgehend einig gewesen, dass die Araber und der islamische Neo-Fundamentalismus
– besser der (gewaltbereite) Islamismus[1]
– die Russen und den Kommunismus als Feindbilder des Westens abgelöst
hatten.[2]
Und nach dem 11. September ist die arabisch-islamische Welt wieder einmal
das Feindbild en vogue.
Prima vista
scheinen diese Länder sprachlich, kulturell und religiös sehr homogen
zu sein. Sie sind zweifelsohne historisch eng miteinander verflochten
und laden förmlich zu einer stereotypen Beschreibung ein. Dennoch verbieten
die Einkommens-, Vermögens- und Entwicklungsdifferenzen innerhalb der
arabisch-islamischen Welt Region
stereotype Erklärungsansätze. Die äußerst heterogenen politischen Systeme dieser vergleichsweise konfliktautonomen
und unzureichend integrierten Region zwingen vielmehr zu einer differenzierten
Beschreibung der politischen Lage.
Von Mitgefühl...
Allen Staaten
in der Region – bis auf den Irak – war gemeinsam, dass sie die Terroranschläge
vom 11. September scharf verurteilten und ihr Mitgefühl für die unschuldigen
Opfer dieser verheerenden Attentate schockiert, fassungslos und mit
Entsetzen zum Ausdruck brachten. Allen Staaten – bis auf den Irak –
war gemeinsam, dass es keine Massendemonstrationen gab, die die Terroranschläge
befürworteten oder feierten.
...über Ohnmacht
und Hass...
In allen Staaten
der Region – bis auf Israel – gibt die große Mehrheit der Menschen,
„auf der Straße“ wie unter den säkularen Intellektuellen, zu bedenken,
dass die amerikanische Nahostpolitik ein wesentlicher auslösender Faktor
der Terroranschläge in New York und Washington war. Dabei zielt die
Kritik im Kern auf zwei Punkte: zum einen die pro-israelische Politik
der USA und zum anderen auf die Tatsache, dass die westliche Öffentlichkeit
sowohl auf die palästinensischen Opfer des israelischen „Staatsterrorismus“
als auch auf die irakischen Opfer der Sanktionen indifferent reagiert.
Der „Westen“ provoziere mit seinem „double standard“ Frustration, Ohnmacht
und Hass und schaffe damit auch den Nährboden für eine ständige Radikalisierung
der Massen. Die Präsenz von bis zu siebentausend amerikanischen Soldaten
in Saudi-Arabien dagegen, die vor allem dem Umfeld von Osama bin Laden
ein Dorn im Auge ist, wird als ein hauptsächlich saudisches Sonderproblem
wahrgenommen.
...zur Schadenfreude...
In allen Staaten
– bis auf das jüdische Israel – gab es heimliche und auch offen zur
Schau getragene Schadenfreude über die Verwundbarkeit des amerikanischen
Goliaths.[3]
Die Strategie der westlichen Medien – der Verzicht, die Bilder der Opfer
von New York und Washington zu zeigen, der quasi einer internationalen
Zensur gleichkam, während die Bilder der zusammenbrechenden Twin Towers,
die in der arabisch-islamischen Welt keine Assoziationen hervorrufen
und mithin keine Emotionen erregen, immer wieder präsentiert wurden
– haben die Ausbreitung der Schadenfreude nicht unbedingt verhindert.
Zweifelsohne
gab es kleinere Kundgebungen (wie in den palästinensischen Gebieten),
auf denen gefeiert wurde, dass dem arroganten Weltpolizisten nun im
eigenen Land widerfuhr, was man vor Ort täglich erdulden muss: Ohnmacht
und Hilflosigkeit gegenüber der Willkür des Stärkeren. Viele zeigten
Ungläubigkeit, dass Araber und Muslime zu solch einer technischen und
logistischen Präzision in der Lage seien. Und natürlich gab es die in
der arabisch-islamischen Welt weit verbreiteten und bekannten Verschwörungstheorien,
die wohl dazu dienten, die Fassungslosigkeit über ein im Namen des Islam
verübtes Verbrechen zu verarbeiten.[4]
In allen Staaten – bis auf Israel – grassiert aber auch die Angst, dass
die sicht- und fühlbare anti-arabische und anti-muslimische Stimmung
in Europa und Nordamerika zu weiteren Übergriffen gegen die Immigranten
aus der arabisch-islamischen Welt führen wird.
...aber ohne
wirkliche Selbstkritik
In allen Staaten
der Region – bis auf Israel – fehlt eine breite interne gesellschaftliche
Auseinandersetzung,[5]
die das offensichtliche Legitimitätsdefizit der politischen Regime in
weiten Teilen der arabisch-islamischen Welt thematisiert. Es mangelt
an einer breiten internen Auseinandersetzung, die sich mit dem Nährboden
des Islamismus und des islamistischen Terrors befasst – einer Bewegung,
die sich mittlerweile auf fast alle Länder der arabisch-islamischen
Welt ausgebreitet und weltweit vernetzt hat. Und nicht zuletzt fehlt
die gesellschaftliche Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen
Islam und Moderne.[6]
In keinem Staat
– bis auf den Iran – haben die Angriffe der USA auf das islamische Afghanistan
Massenproteste ausgelöst. In den Ländern, in denen man weit verbreitete
Sympathien für Osama bin Laden vermuten kann, also in Saudi-Arabien,
im Sudan oder im Jemen, liegt dies zweifelsohne an einem funktionierenden
Repressionsapparat, der größere Demonstrationen gegebenenfalls unterbinden
kann. Weitaus wichtiger ist aber, dass Afghanistan ganz einfach geographisch
und kulturell zu weit vom Maghreb und Mashrek entfernt ist, um in den
Strassen der arabischen Welt Massenproteste hervorzurufen, die mit den
Großkundgebungen während des zweiten Golfkrieges vergleichbar wären.
...aber auch
tiefgreifende Unterschiede
Hinter den
Gemeinsamkeiten verbergen sich aber tiefgreifende Unterschiede, vor
allem was den Umgang der einzelnen Länder mit dem (gewaltbereiten) Islamismus
betrifft.
In einer ersten
Gruppe von Staaten, den autoritären Präsidialregimes Algerien, Tunesien,
Ägypten und Syrien, empfindet die politische Elite tiefe Genugtuung
über die späte Bestätigung ihrer Politik gegenüber dem gewaltbereiten
Islamismus. In Algerien fühlen sich auf jeden Fall die Hardliner
an der Regierung – die „Eradicateurs“ –, die schon immer der Auffassung
waren, dieser Art politischer Bewegung könne nur mit der eisernen Faust
der Garaus gemacht werden, bestärkt. Jeder Ansatz zum Dialog mit den
Islamisten wird als Schwäche ausgelegt und abgelehnt, ohne dass die
eigene undemokratische Politik auch nur im Ansatz hinterfragt würde.
Auch ist Bitterkeit darüber zu spüren, dass in der westlichen Welt keine
Gedenkminuten für die in die Zehntausende gehenden Opfer der „Afghanen“[7]
in Algerien eingelegt wurden.
Im gleichgeschalteten
Tunesien gab es weder öffentliche Sympathie- noch Antipathiekundgebungen.
Der tunesische Präsident wies in einer offiziellen Erklärung lediglich
darauf hin, sein Land habe schon sehr früh die Gefahren des islamistischen
Terrors erkannt und rechtzeitig darauf reagiert. Um seine Aussagen zu
unterstreichen, wurden in der Presse ausführliche Auszüge eines Interviews
abgedruckt, das er im Jahre 1994 der französischen Zeitung Le Figaro
gewährt hatte. In Algerien und Tunesien erinnerte man durchaus auch
mit Genugtuung den “Westen" an seinen Teil der Verantwortung für
die Ereignisse vom 11. September: Die europäischen Länder und die USA
hätten - unter dem Deckmantel des Asylrechts – den Islamisten in den
letzten Jahren Unterschlupf gewährt und sie von ihrem Terrain aus ihre
Tätigkeiten fortführen lassen.[8]
Mit großer
Befriedigung wird auch in Ägypten die veränderte Haltung der
europäischen Staaten gegenüber ägyptischen Staatsbürgern wahrgenommen.
Eine Reihe europäischer Staaten ist nun endlich bereit, massive Maßnahmen
– jetzt bis hin zur Auslieferung an die ägyptischen Behörden – gegen
in Ägypten angeklagte mutmaßliche Terroristen zu ergreifen, die im Ausland
politisches Asyl genießen. Diese Befriedigung macht deutlich, wie sehr
die ägyptische Führungsschicht in der Vergangenheit unter den Verurteilungen
seitens der USA und der europäischen Länder in der Menschenrechtsfrage
und wegen ihres Vorgehens gegen einheimische "Terroristen"
gelitten und dieses Verhalten als Ausdruck des Mangels an Respekt und
der ausländischen Arroganz erlebt hat.[9]
Gleichzeitig drängt Ägypten – wie bereits seit zehn Jahren – mit aller
Kraft darauf, die internationale Auseinandersetzung und Kriegsführung
gegen den Terrorismus unter die Ägide der Vereinten Nationen zu stellen,
die Definition von Terrorismus und das Vorgehen gegen den Terrorismus
zum Thema einer großen internationalen Konferenz zu machen.
Nach den Terrorattacken
auf New York und Washington am 11.9.2001 hat sich Syrien ebenfalls
sofort bereit erklärt, in einer Antiterrorallianz mitzuwirken. Auch
die syrische Regierung hat bereits 1982 in Hama die islamistischen Gruppierungen
mit der ganzen Härte des staatlichen Gewaltmonopols zerschlagen und
auch das libanesische Militär bei der Niederschlagung der Aufstände
in Dinnieh im Libanon 1999/2000 unterstützt.
Brisant an
diesem Angebot ist nicht nur, dass Syrien wegen seiner Verbindungen
zur libanesischen Hizbullah und den palästinensischen Gruppierungen,
die den Oslo- Friedensprozess auch mit Gewalt ablehnen (die Damaskus-Gruppe
der Zehn), auf der US-Liste der "Terrorismus unterstützenden Staaten"
steht. Ebenso brisant ist es, dass Syrien seinen Sitz im Sicherheitsrat
der Vereinten Nationen im Januar 2002 übernehmen wird. Der syrische
Balanceakt wird darauf abzielen, den Widerstand gegen Israel aufrechtzuerhalten
und die von Damaskus betonte Unterscheidung zwischen Terrorismus"
und "legitimem Widerstand', hinter der natürlich wesentliche Beweggründe[10]
stehen, international durchzusetzen. Gleichzeitig wird Syrien alles
daran setzen, ein glaubhafter Partner in der Antiterrorallianz zu sein.
Bestätigung
und Ermutigung in den offenen, kapitalarmen Monarchien
Im Gegensatz
zu den autoritären Präsidialregimes ist es der offenen, reformorientierten,
aber kapitalarmen Monarchie Jordanien durchaus gelungen, die
islamistische Bewegung in den politischen Prozess zu integrieren und
nicht zu stigmatisieren oder gar zu marginalisieren. König Hussein setzte
schon früh darauf, die islamistische Bewegung durch die Mitarbeit in
der jordanischen Regierung und die Teilnahme an der parlamentarischen
Arbeit einzubinden und damit zu entzaubern.
Auch dem gewaltbereiten Zweig der islamistischen Bewegungen wurde
dadurch die Legitimationsbasis erfolgreich entzogen. Diese Politik wird
auch von seinem Nachfolger, König Abdallah II, fortgesetzt. Der
junge König Mohammed VI scheint diese Politik auch in seinem ebenfalls
kapitalarmen, aber reformorientierten Marokko verfolgen zu wollen.
Beide Königshäuser bieten den Islamisten wegen ihrer direkten Abstammungslinie
bis zum Propheten Mohammad natürlich nur wenig Angriffsfläche.
Entsetzen
und Scham in den Erdölmonarchien
(Vermeintliche
strategische Partner der Anti-Terror-Koalition (vor allem Saudi-Arabien)
erweisen sich nun als Teil des Problems. Vermeintliche „Schurken“ (vor
allem Syrien und der Iran) könnten Teil der Lösung werden.)
Ganz anders
stellt sich die Situation auf der arabischen Halbinsel für die kapitalreichen
Erdölmonarchien, die sich im Golfkooperationsrat zusammengeschlossen
haben, dar. Die auf dem Reißbrett der britischen Kolonialmacht kreierten
Zwergstaaten Bahrain, Katar, Kuwait, Vereinigte Arabische Emirate und
Oman fühlen sich nach dem Zweiten Golfkrieg nur durch bilaterale Schutzverträge
mit den westlichen Mächten - vor allem mit Frankreich und den Vereinigten
Staaten - sicher und zogen es vor, auf den arabischen Beistand durch
Ägypten und Syrien, wie er in der Damaskus-Deklaration von 1991 vorgesehen
war, zu verzichten.
Ähnliches gilt
für Saudi-Arabien. Dennoch ist in Saudi-Arabien aber vieles anders.
Seit 1945 stehen die Saudis mit den Amerikanern in einer "unheiligen"
symbiotischen Beziehung: Die Saudis verkaufen Öl an die Amerikaner und
lassen amerikanische Militärstützpunkte auf saudischem Boden zu. Dafür
verkaufen die Amerikaner den Saudis Waffen, schützen sie militärisch
und sehen über die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien
nonchalant hinweg. Jetzt stellt sich heraus, dass Riad ein wesentlicher
Teil des islamistischen Terrorproblems ist und nicht Teil seiner Lösung.
Schon seit Jahrzehnten ist bekannt, dass Saudi-Arabien den Export von
religiösen Schriften, die mit seiner Islam-Auffassung in Übereinstimmung
stehen, und den Ausbau der religiösen, materiellen Infrastruktur –
in Form von Moscheen – finanziert.
Ebenfalls seit Jahrzehnten ist bekannt, dass die Wahhabiten-Bewegung,[11]
die auch heute noch die Grundlagen der Staatsreligion in Saudi-Arabien
bildet, aufgrund ihrer intoleranten Haltung gegenüber ihren muslimischen
Glaubensbrüdern und ihrer gemeinhin als geistesfeindlich bekannten Auffassungen
unter dem Verdacht der Häresie stand und erst durch ihren mit Petrodollars
erkauften politischen Erfolg allgemein als orthodox anerkannt ist. Nicht
genug: Saudi-Arabien ist auch noch Hüterin der zwei heiligen Stätten
des Islam (Mekka und Medina), Sitz der 57 Staaten zählenden Organisation
der Islamischen Konferenz (OIC), der Islamischen Weltliga und der Islamischen
Entwicklungsbank. Saudi-Arabien hat sich so zum international wichtigsten
Repräsentanten der konservativen Strömung des Islamismus gemacht.[12]
Folgerichtig hat auch Saudi-Arabien neben den Vereinigten Arabischen
Emiraten und Pakistan als einziger Staat das Taliban-Regime bis zu den
Ereignissen vom 11. September diplomatisch anerkannt. Ein Regime, dessen
Islam-Auffassung der der Wahhabiten-Bewegung mehr als ähnelt.
Jetzt stellt sich ferner heraus, dass mindestens zwölf der bislang
identifizierten Selbstmordattentäter aus Saudi-Arabien stammen und nicht
etwa unter den „usual suspects“ islamistischer Selbstmordattentäter,
Iranern oder Palästinensern, zu finden waren. Der engste Verbündete
der Amerikaner hat zwar die Anschläge vom 11. September scharf verurteilt,
zeigt aber bislang nur sehr wenig Bereitschaft, mit den amerikanischen
Sicherheitsdiensten zu kooperieren oder den Luftwaffenstützpunkt "Prinz
Sultan" für Militäraktionen der Anti-Terror-Koalition freizugeben.
Pure
Angst in den „Schurkenstaaten“[13]
Im Gegensatz
zu dem vermeintlich starken Frontstaat Syrien und dem nur scheinbar
„in disguise“ agierenden „Schurkenstaat“ Saudi-Arabien herrscht in den
anderen schwachen oder auf internationalen Druck geschwächten arabischen
und islamischen „Schurkenstaaten“
- Jemen, Libanon, Libyen, Sudan, Irak und Iran - nicht nur physische
Angst vor möglichen amerikanischen Vergeltungsschlägen, sondern auch
die politische Angst, als die Staaten in der Region, die den Terrorismus
nach US-Definition unterstützen, erneut gebrandmarkt zu werden und die
Chancen auf eine Reintegration in die Weltgemeinschaft auf Dauer zu
verlieren.
Der Jemen,
wiedervereinigt zwar, aber äußerst verarmt, ist der einzige Staat auf der arabischen Halbinsel, der nicht in den
feudalen Golfkooperationsrat darf, und muss sich trotz der seit langem
bestehenden Zusammenarbeit zwischen der jemenitischen Führung und den
im Jemen stationierten amerikanischen Sicherheitsdiensten als potenzielles
Ziel amerikanischer Vergeltungsanschläge ansehen. Das amerikanische
Militärschiff „U.S.S. Cole“ wurde vor Aden am 12.Oktober 2000 von Selbstmordbombenattentätern
in die Luft gejagt. Al Qa’eda soll darüber hinaus Ausbildungslager im
Jemen haben. Nicht nur deswegen herrscht im Jemen Angst. Der Jemen ist
marginalisiert: als "potenziell demokratischer" Gegenpol zu
den feudalen Erdölmonarchien des Golfkooperationsrates, und als der
- wegen seiner Bevölkerungszahl – einzige potenzielle Rivale Saudi-Arabiens
um die Vorherrschaft auf der arabischen Halbinsel.
Im Libanon
herrscht Angst, wegen der Militäroperationen der Hizbullah zum direkten
Ziel der (militärischen) Antiterrorkampagne zu werden. Eine Angst, die
von allen Konfessionen und Gruppierungen - angeführt von der Troika
an der Spitze des Staates: dem christlichen Staatspräsidenten Emil Lahoud,
dem sunnitischen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri und dem schiitischen
Parlamentspräsidenten Nabih Berri - geteilt wird. Vor dem Hintergrund
des israelisch-palästinensischen Konflikts betont Beirut daher wie Syrien
die notwendige Unterscheidung zwischen „Terrorismus" und „legitimem
Widerstand".[14]
Angesichts des konfessionellen Balanceakts im Libanon sorgt man sich,
dass eine Antiterrorkampagne, die als eine gegen die Muslime im Libanon
gerichtete Aktion wahrgenommen wird, das fragile politische System nachhaltig
aus dem Gleichgewicht bringen könnte.
Obwohl die
Vereinigten Staaten die Sanktionen
gegen Libyen bereits im Juli 2001 um weitere fünf Jahre verlängert
haben, verurteile Muammar Al Ghaddafi die Anschläge scharf und betonte
das Recht der Vereinigten Staaten, sich zu rächen. Ghaddafis neu entdeckte
„Amerikanophilie“ wird sich angesichts der im La-Belle-Prozess in Berlin
vorgelegten Indizien, die nachdrücklich auf einen libyschen „Staatsterrorismus“
in der Vergangenheit hinweisen, wohl doch nicht positiv auf das bestehende
Sanktionsregime auswirken.[15]
Das islamistische
Regime Bashars im vom Bürgerkrieg zerrissenen Sudan, das von
1991 bis 1996 Osama bin Laden Unterschlupf gewährte, verurteilte die
Anschläge scharf, hat aber gleichzeitig auch Angst. Die breite Bevölkerung
befürchtet, dass die Vereinigten Staaten den Sudan wieder militärisch
angreifen könnten. Zu gegenwärtig sind die Erinnerungen an die US-Angriffe
auf Khartum im August 1998 als Antwort auf die Terroranschläge auf die
US-Botschaften in Nairobi und Daressalam, die (mutmaßlich) von bin Laden
orchestriert wurden. Die Angst des Regimes, dass die seit 1996
auf dem Sudan lastenden Sanktionen der Vereinten Nationen (VN)
wegen der Ereignisse des 11. Septembers nun doch nicht aufgehoben würden,
hat sich aber als unbegründet erwiesen. Mit seiner Resolution 1372 vom
28.September 2001 hob der VN-Sicherheitsrat diese Sanktionen mit sofortiger
Wirkung auf. Die enge Zusammenarbeit des Regimes mit amerikanischen
Sicherheitsexperten, die sich seit einem Jahr im Sudan aufhalten, die
Festnahme von mehr als 150 Anhängern bin Ladens kurz nach den Anschlägen
vom 11. September und nicht zuletzt der durch die in jüngster Zeit entdeckten,
großen Erdölvorkommen deutlich gestiegene „sex appeal“ des Sudan für
westliche Investoren haben sich doch ausgezahlt.
Der Irak
- und das ist nun wirklich nicht überraschend
- hat die Terroranschläge vom 11. September nicht verurteilt. Nach offizieller
irakischer Lesart zahlen die Vereinigten Staaten nun den Preis für ihre
Verbrechen gegen die Menschheit, insbesondere für ihre einseitige und
verfehlte Politik gegenüber der arabisch-islamischen Welt. Der Irak
hat vielmehr die arabischen Staaten, die diese Terroranschläge angesichts
des Leidens der irakischen Bevölkerung "schamlos" verurteilt
haben, scharf kritisiert und ihnen nahegelegt, in der Zukunft besser
zu schweigen. Diese Drohgebärden verdeutlichen natürlich auch die Angst
des irakischen Regimes, ad infinitum dem rigiden internationalen
Sanktionsregime ausgesetzt zu bleiben.
Der Iran
steckt in einem tiefen Dilemma. Auf der einen Seite hat er sein tiefes
Mitgefühl mit den Opfern der Terroranschläge vom 11. September zum Ausdruck
gebracht. Auf der anderen Seite bleiben die Vereinigten Staaten der
ideologische Feind, der "große Satan", und die drei größten
Terroristen sind laut Teheran Times Bush, Blair und Sharon. Zu allem
Überfluss kämpft der schiitische Iran plötzlich Schulter an Schulter
mit den USA gegen die sunnitischen Taliban, die seit ihrem Blutbad vor
allem unter den schiitischen Hazara und der Ermordung von acht iranischen
Diplomaten im afghanischen Mazar i Sharif im Jahre 1998 zu Irans Hauptfeinden
in der islamischen Welt zählen.
Für die palästinensische Autonomieregierung unter
Führung von Jasser Arafat sah es zunächst so aus, als ob sie in ihren
Bemühungen, Eigenstaatlichkeit zu erlangen, auf Jahre zurückgeworfen
würde und Israel den größtmöglichen Nutzen aus den verheerenden
Terroranschlägen ziehen könnte.
Tiefe
Verunsicherung in Israel
Auch die offizielle
Politik in Israel glaubte zunächst, dass die Vereinigten Staaten und
der Rest der Welt endlich verstehen würden, was Israel durchmacht und
schlossen (vorschnell) daraus, dass Null-Toleranz gegenüber dem Weltterror
gleichzusetzen ist mit Null-Toleranz gegenüber einem – nicht näher definierten
– palästinensischen Terror. Im Windschatten der Anti-Terror-Koalition
glaubte Ariel Sharon nun noch härter den palästinensischen Terror bekämpfen zu können als je zuvor. Sehr schnell
wurde es Scharon aber klar,
dass seine Schlussfolgerung aus den Ereignissen vom 11. September nicht
uneingeschränkt von den Vereinigten Staaten geteilt wurden. Als er auch
noch sagte, Israel sei nicht bereit, wie die Tschechoslowakei, die im
Rahmen einer verfehlten britischen
Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland 1938 geopfert
wurde, als „Morgengabe“ für die Araber im amerikanischen Kampf gegen
den Terror zu dienen, kam es zu ernsthaften Verstimmungen zwischen Jerusalem
und Washington. Vor diesem Hintergrund befürchten nun dieselben israelischen
Offiziellen einen amerikanischen Paradigmenwechsel. Amerika könnte die
israelische Politik gegenüber den Palästinensern, insbesondere
die israelische Siedlungs- und Absperrungspolitik als Teil des
amerikanischen Terror-Problems betrachten.[16]
Ungeteilte
Solidarität in der Türkei
Die Türkei,
als einziger nahöstlicher Staat auch NATO-Mitglied, hat nicht nur die
Terroranschläge vom 11. September scharf verurteilt, sondern auch als
einziges muslimisches Land bereits Einheiten zur Unterstützung der Nordallianz
gegen die Taliban nach Afghanistan entsandt. Die türkische Regierung
hat damit wieder ein klares Votum nach außen für ihre West-Orientierung
abgegeben, die nach innen und in der Region aber überwiegend negativ
ausstrahlt. Die Türkei, ohnehin als Rechtsnachfolger des Osmanischen
Reiches historisch in der Region vorbelastet, verstrickt in einem Machtkampf
mit dem Iran um die Hegemonie über die islamischen Türk-Republiken der
ehemaligen Sowjet-Union, hat auch durch ihre strategische Allianz mit
Israel, ihre Wasserpolitik (Staudamm-Projekte) gegenüber Syrien und
dem Irak sowie ihre Kurden-Politik arabischen Missmut auf sich gezogen.
(Un)wahrscheinliche
Verhaltensmustern
Boomende
Sicherheitskonjunktur
Es ist sehr
wahrscheinlich, dass die autoritären Regime in der Region die blühende
Sicherheitskonjunktur auch in ihrem Sinne nützen werden. Die Ereignisse
des 11. September waren Wasser auf die Mühlen der autoritären Präsidialregime,
die schon seit langer Zeit ein hartes Vorgehen gegen die Islamisten
predigen. Sie sehen sich in ihrer Position gestärkt und profitieren
von der gegenwärtigen "Sicherheitskonjunktur“. Die Zeiten, in denen
die Kritik der europäischen Regierungen wegen der Menschenrechtsfragen
im Vordergrund stand, scheinen bis auf weiteres vorüber zu sein.
Ein zentrales,
wenn nicht sogar das wesentliche Ziel der autoritären Präsidialregime
nach dem 11. September besteht in der Aufrechterhaltung der innenpolitischen
Stabilität. Im Inland wird versucht werden, mit allen - auch repressiven
- Mitteln Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, nicht zuletzt, um den
bereits schon jetzt feststellbaren deutlichen Rückgang der Einnahmen
aus dem Tourismus, der in diesen Staaten eine der wichtigsten Devisenquellen
darstellt, nicht ins Bodenlose fallen zu lassen.
Ähnliches gilt
auch für die offenen, aber kapitalarmen Monarchien Jordanien und Marokko,
aber aus anderen Gründen. Seit Juli diesen Jahres, als das Parlament
aufgelöst wurde, wird Jordanien
mit Notverordnungen (Temporary Laws) regiert. Wegen der anhaltenden
Intifada al Aqsa kam es in der Vergangenheit schon zu gewaltsamen Zusammenstößen
zwischen pro-palästinensischen Demonstranten und der von Transjordaniern
dominierten Polizei. Das haschemitische Königreich von Jordanien, dessen
Bevölkerungsmehrheit palästinensischen Ursprungs ist, bleibt vorerst gefangen in einem gefährlichen und fragilen Balanceakt
zwischen den guten Beziehungen zum Westen und seiner Einbettung in der arabischen Welt bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung
des Friedensvertrages mit Israel.
Der marokkanische
König, der auch Vorsitzender des Jerusalem-Komitees der Organisation
der Islamischen Konferenz ist, ist in einer etwas entspannteren Situation.
Durch die geographische Distanz ist es Marokko trotz der anhaltenden
Krise im Nahen Osten möglich, den gesellschaftlichen Öffnungsprozess
voranzutreiben und sogar bisher geltende Tabu-Themen: wie Sahara-Konflikt,
Monarchie und Islam peu à peu aufzubrechen.
Es ist wahrscheinlich,
dass Syrien die Ereignisse vom 11.September bezüglich seiner Rolle im
Libanon nützen wird. Die Notwendigkeit der syrischen Präsenz im Libanon
könnte sicherheitspolitisch begründet
werden mit der Kontrolle von Hizbullah und anderen libanesischen islamistischen
Gruppen, radikalen Palästinensergruppen und potenziellen konfessionellen
Spannungen. Insbesondere nach den großangelegten Angriffen auf die Shebaa-Farmen
am 22. Oktober hat sich der indirekte Druck der USA auf Syrien verstärkt,
Ruhe an der Grenze zu Israel zu gewährleisten. Und die Notwendigkeit syrischer Kontrolle im
Libanon würde sich natürlich noch steigern, sollte es tatsächlich eine
Spaltung zwischen einem pro-iranischen und einem pro-syrischen Flügel
innerhalb der Hizbullah geben. Darüber hinaus hat Syrien ein gewisses
Einflusspotenzial auf radikale Palästinensergruppen in den Flüchtlingslagern
im Libanon, denen von den USA Verbindungen zum bin-Laden-Netzwerk nachgesagt
werden. Eine dritte Dimension könnte darüber hinaus das potentielle
Aufflackern konfessioneller Spannungen darstellen, wie sie sich in den
Angriffen auf zwei Kirchen in Sidon und eine Moschee in Batroun angedeutet
haben.
Zahnloser
arabisch-islamischer Mulitilateralismus
Auch die multilaterale
arabische Sicherheitszusammenarbeit wird sich vermutlich weiter verstärken.
Schon seit Beginn der 90er Jahre arbeiten die Mitgliedsstaaten
der Arabischen Liga erfolgreich im Feld der inneren Sicherheit zusammen.
1998 wurde sogar ein Abkommen zur Bekämpfung des Terrorismus geschlossen.
Der Rat der arabischen Innenminister ist immer noch der einzige, der
sich nach dem Zweiten Golfkrieg – auch mit großer Beitragsdisziplin
– regelmäßig trifft.[17]
Dennoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich die arabisch-islamische
Welt in ihren multilateralen Foren auf eine gemeinsame arabisch-islamische
Reaktion gegen eine äußere Bedrohung in der nahen Zukunft einigen kann.
Bislang scheint
es unmöglich, auf multilateraler Ebene gemeinsame Antworten auf diese
Fragen zu finden, wie es das jüngste Treffen der Organisation der Islamischen
Konferenz und das erste Treffen des Central Office for the Boycott of
Israel seit 1993 gezeigt haben.
Der Vergleich
zwischen der Abschlusserklärung der neunten außerordentlichen Sitzung
der Außenminister der OIC, die in Doha (Katar) stattfand, vom 10.Oktober
2001 und dem letzten Entwurf dieser Abschlusserklärung ist in dieser
Hinsicht vielsagend. Im inoffiziellen Entwurf konnten sich die Länder
– so schien es – noch darauf
einigen, Angriffe auf islamische oder arabische Staaten unter dem Vorwand
des Kampfes gegen den Terrorismus abzulehnen.[18] In der offiziellen Abschlusserklärung ist dieser
Satz aber nicht mehr zu finden. Wenn schon kein Konsens über die Ablehnung
von derartigen Angriffen erreicht werden kann, muss ein Konsens über
eine gemeinsame Reaktion der arabisch-islamischen Welt auf potenzielle
Angriffe der Vereinigten Staaten auf ein arabisches Land als illusorisch
erscheinen.
Genauso ergebnislos
verlief das erste Treffen des Central Office for the Boycott of Israel,
das im Oktober in dessen Hauptsitz in Damaskus stattfand. Bei Abwesenheit
der arabischen Staaten, die mit Israel bereits einen Friedensvertrag
(Ägypten und Jordanien) haben oder weiterhin – trotz der seit einem
Jahr andauernden Intifada Al Aqsa und des Aufrufs der Arabischen Liga,
die Beziehungen mit Israel einzufrieren – diplomatische Beziehungen
mit Israel (Mauretanien) aufrechterhalten, konnten sich die anwesenden
Staaten nicht auf die Wiederaufnahme des indirekten Wirtschaftsboykotts
gegen Israel einigen.
Der
Flächenbrand bleibt vorerst aus
Es ist sehr
wahrscheinlich, dass die Bevölkerung in den Staaten der arabisch-islamischen
Welt – trotz der zu erwartenden Radikalisierung der offiziellen Rhetorik
– ruhig bleibt, solange sich die Vergeltungsangriffe gezielt und mit
großer Treffsicherheit gegen die Taliban in Afghanistan und Al Qa'eda
weltweit richten. Selbst selektive Angriffe gegen die Al Qa’eda in der
arabischen Welt – und hier sind natürlich vor allem der Jemen, Saudi-Arabien,
der Sudan und der Irak betroffen – werden nicht zu Massenprotesten der
„arabischen Strasse“ führen. Zu deutlich ist die Verstrickung dieses
Netzwerks in den internationalen Terrorismus auch in der arabischen
Welt dokumentiert worden.
Wenn sich aber
die Angriffe der Anti-Terror-Koalition gegen Organisationen richten
sollten, die nach arabisch-islamischer Überzeugung den legitimen Widerstand
gegen die israelische Besatzung unterstützen, wie die Hamas,[19]
den Jihad Islami (Heiliger islamischer Krieg) und die Hizbullah (Partei
Gottes) oder die säkulare Palästinensische
Befreiungsfront, werden die Regimes große Mühe haben, ihre bislang dezidiert
pro-amerikanische Position gegenüber einer zunehmend anti-westlichen
Stimmung in der Bevölkerung zu behaupten.
Ähnliches würde
bei einem umfassenden und massiven Militärschlag gegen den Irak[20]
gelten, der ohne absehbare Ergebnisse über längere Zeit andauern und
zunehmend zivile, unschuldige Opfer, „Kollateralschäden“, fordern würde.
Notwendiger
Politikwechsel
Glaubwürdigkeit
schaffen - bei der Lösung des arabisch-israelischen Konflikts
(Der
Zeitpunkt ist günstig. Aus dieser großen Krise können große Möglichkeiten
erwachsen.)
Als direkte
Folge des 11. September hat die Bush-Regierung ihren bisherigen „benign
neglect“ des laufenden Nahost-Friedensprozesses zwischen Israel und
seinem arabischen Nachbarn eingestehen müssen. Bereits am 24. September,
so heißt es jetzt, wollte Präsident Bush vor den Vereinten Nationen
die neue Nahost-Politik der Vereinigten Staaten vorstellen und die amerikanische
Unterstützung für die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen
Staates explizit erwähnen. Aus dieser Absichtserklärung kann aber nur
ein glaubwürdiger Strategie- bzw. Paradigmenwechsel in der amerikanischen
Nahost-Politik werden, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt werden.
Grundsätzlich
müssen die bestehenden Einschätzungen der Länder in der Region als "moderate"
arabische Partner der USA bzw. des Westens (Algerien, Tunesien, Ägypten),
als dezidiert pro-amerikanische arabische Freunde (Jordanien und Marokko),
als arabische Schutzbefohlene (die Staaten des Golf-Kooperationsrates),
als arabisch-islamische "Schurkenstaaten" (Libyen, Sudan,
Jemen, Libanon, Syrien, Irak und Iran) und als nicht-arabische strategische
Alliierte (Israel und die Türkei) auf den Prüfstand gestellt werden.
Vermeintliche strategische Partner der Anti-Terror-Koalition (vor allem
Saudi-Arabien) erweisen sich nun als Teil des Problems. Vermeintliche
„Schurken“ (vor allem Syrien und der Iran) könnten dagegen Teil der
Lösung des Problems werden.
Bislang ist der laufende
Friedensprozess ein regionaler Friedensprozess unter der de jure gemeinsamen
Führung der USA und Russlands, dem Rechtsnachfolger der UdSSR, aber
de facto unter alleiniger amerikanischer
Führung und kein internationaler Friedensprozess unter Leitung der Vereinten
Nationen, da Israel den Vereinten
Nationen – nicht unberechtigt – einen anti-israelischen „Bias“ unterstellt
. Auch die EU ist in diesem Prozess weitestgehend marginalisiert, nicht
nur weil sie wegen ihrer noch nicht ausgereiften Gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik den regionalen Konfliktparteien keine hinreichenden
Garantien über die Sicherung von Friedensabkommen geben kann, sondern
auch weil einige Mitgliedsländer der EU als zu pro-arabisch – nach israelischer
Lesart – gelten.
Um
die breite Unterstützung der arabisch-islamischen Welt im Kampf gegen
den internationalen Terror zu gewinnen und die Legitimierung des Antiterrorfeldzugs
durch die Vereinten Nationen zu erhalten, müssen die Vereinigten Staaten
aber ihr bisheriges Monopol und ihren Unilateralismus aufgeben und den Friedensprozess internationalisieren. Die Chancen
dafür sind nicht schlecht. Die Ausgangslage ist mit der von 1991 vergleichbar.
Damals kam es sehr schnell nach dem Ende des Zweiten Golfkrieges auf
Druck der USA zu einer Nahost-Friedenskonferenz. Auch damals befanden
sich die Konfliktparteien in einer Sackgasse. Israel hatte seine Bedeutung
als westliches Bollwerk gegen den Sowjetimperialismus im Nahen Osten
verloren. Darüber hinaus minimierte die arabisch-amerikanische Anti-Irak-Koalition
Israels strategische Bedeutung für die USA im Zweiten Golfkrieg. Auch
heute brauchen die Vereinigten Staaten die arabisch-islamischen Staaten,
dieses Mal für ihre internationale Anti-Terror-Koalition. Um den Aufbau
dieser Koalition nicht zu gefährden, spielt Israel daher nur indirekt
einen Part in ihr.
Damals
musste der Libanon, der seit dem Taif-Abkommen der Arabischen Liga im
Jahre 1989 (das in der gleichnamigen Stadt in Saudi-Arabien geschlossen
wurde) unter syrischer Kontrolle steht, seinem “Bruder” folgen. Jordanien
versprach sich von seiner Teilnahme an der Madrider Nahost-Friedenskonferenz
am 30. September 1991 einen Ausbruch aus der politischen Isolation und
ausländische Hilfe für seine am Boden liegende Wirtschaft - ebenso die
Palästinenser. Auch heute wird der Libanon seinem syrischen Bruder folgen
müssen. Jordanien braucht, um die innere Stabilität aufrechtzuerhalten,
ein Ende der Intifada al Aqsa. Ebenso die Palästinenser, die vor einer
innenpolitischen Zerreißprobe angesichts der friedenspolitischen Sackgasse
stehen.
Neue
Wege suchen – bei der Integration der Türkei und des Iran in die Region
Der laufende arabisch-israelische Friedensprozess
kann aber nicht isoliert von dem anderen Hauptkonflikt um die Vorherrschaft
am Golf in der Region betrachtet
und muss als grundlegender Teil eines umfassenderen regionalen Friedensprozesses
begriffen werden, der neben Israel auch die Türkei und vor allem den
Iran miteinschließt. Nur dann sind die Befürchtungen des Iran, in einer
neuen regionalen Arbeitsteilung, die aus dem arabisch-israelischen Friedensprozess
resultiert, keine Rolle zu spielen, zu entkräften. Nur dann können die
weiter oben diskutierten Probleme der Region mit der Türkei gelöst werden.
Alte
Denkansätze aufbrechen – bei der Lösung des Irak-Problems
Seit
über zehn Jahren ist das starre Sanktionsregime der Vereinten Nationen
gegen den Irak in Kraft. Es ist wohl eines der härtesten Regime, das
jemals gegen einen Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen verhängt wurde.
In mehreren Punkten müssen die Sanktionen, misst man sie an ihren ursprünglichen
Zielen, als gescheitert angesehen werden. Die humanitären Folgen der
zehnjährigen Blockade, die vom Regime Saddam Husseins zweifelsohne auch
propagandistisch ausgenützt werden, sind als katastrophal einzustufen.
Durch das fortgesetzte Leiden der irakischen Zivilbevölkerung besteht
dauernd die Gefahr einer erneuten Solidarisierung arabischer Staaten
mit dem Irak, die durch die anhaltende Intifada Al Aqsa noch weiter
erhöht worden ist. Darüber hinaus haben die Sanktionen nicht zur Schwächung
des Regimes von Saddam Hussein im Irak geführt, sondern wesentlich zu
seiner Stärkung beigetragen: Der aus den Sanktionen resultierende Schmuggel
hat neue Einnahmequellen für das Regime eröffnet. Das Regime hat sich
auch über sein Verteilungsmonopol neue Legitimität in der irakischen Mängelwirtschaft[21]
verschafft und nicht zuletzt konnte sich Saddam Hussein mit Erfolg als
Salah Al Din (Saladdin) der Neuzeit gegen die modernen Kreuzritter,
die Vereinigten Staaten, positionieren.
Die bisherige
undurchsichtige Arbeit der UN-Entschädigungskommission (UNCC), deren
Ziel es sein soll, die betroffenen Länder mit Mitteln aus den irakischen
Erdöleinnahmen (derzeit 30 Prozent) für Kriegsfolgen zu entschädigen
und die unmittelbaren Kriegskosten der Golfkriegsallianz zu kompensieren,
verstärkt den Eindruck auf Seiten der arabischen Öffentlichkeit, dass
es sich bei dem gesamten Sanktionsregime um eine Art Siegerjustiz handelt.[22]
Gleichzeitig
besteht aber ohne jeden Zweifel weiterhin die Notwendigkeit, dem aggressiven
Regime Einhalt zu gebieten. Die neue US-Administration, die ursprünglich
die gegen den Irak eingesetzten Mittel zwar überprüfen, insgesamt aber
mit einer weiterhin konfrontativen und eher noch verhärteten Haltung
gegenüber dem Irak vorgehen wollte, muss nach dem 11. September auch
ihre bisherige Irak-Politik erneut auf den Prüfstand stellen.
Mehr
Demokratie wagen
Eine glaubwürdigere,
ausgewogenere Nahost-Politik der Vereinigten Staaten reicht natürlich
bei weitem nicht aus, den Nährboden des (gewaltbereiten) Islamismus
auszutrocknen. Algerische islamische Extremisten schneiden nicht die
Hälse ihrer Landsleute wegen der pro-israelischen US-Nahost-Politik
auf. Genau so wenig wie islamische Radikale auf den Philippinen ihre
Geiseln wegen der amerikanischen Irak-Politik töten.
Die Staaten
in der arabisch-islamischen Welt müssen sich auch selbstkritisch fragen,
warum sie hinsichtlich einer Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Entwicklungsindikatoren im internationalen Vergleich ausgesprochen
schlecht abschneiden.[23] Die derzeit
boomende Sicherheitskonjunktur in vielen Ländern der Region wird die
gesamtgesellschaftliche Suche nach Antworten auf diese Fragen nicht
aufhalten, höchstens verzögern können. Sie wissen und haben es bereits
durch den arabischen CNN – Al Gazeera – in aller Deutlichkeit erfahren,
dass die ständig wachsende weltweite Informationsdichte die politische
Liberalisierung mittel- und langfristig erzwingt.
Die Länder
in dieser Region müssen sich zwischen Repression, Stagnation und Marginalisierung,
die die politischen Spannungen weiter erhöhen und den Extremismus –
nicht nur den gewaltbereiten Islamismus – schüren, einerseits und politischer
Öffnung, nachhaltigem Wachstum und Integration in die Weltwirtschaft
andererseits entscheiden. Auf jeden Fall müssen sie handeln. Die Länder
dieser Region müssen sich der breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung
stellen. Sie müssen sich öffnen, Islam, Säkularismus und Moderne vereinen[24] und mehr Demokratie
wagen. Der Zeitpunkt ist günstig. Aus dieser großen Krise können große
Möglichkeiten erwachsen.
[1] Der Islamismus ist eine sozioökonomische
und politische Bewegung, die „unislamische“ bzw. importierte Regierungs-,
Wirtschafts- und Gesellschaftsformen ablehnt und deren Ersatz durch eine islamische Ordnung fordert. Die
Dynamik des Islamismus – aber auch seine Gefährdung – liegt darin
begründet, dass das weltanschauliche Konstrukt von seinen
Verfechtern nicht als synkretistisch, sondern als organisch
und islamisch verstanden wird. Beim
Islamismus handelt es sich nicht nur um eine religiöse Erneuerung,
sondern auch um den Versuch, vor allem politische Ordnungsvorstellungen
religiös zu legitimieren. Der Islamismus ist keineswegs monolithisch,
sondern sehr heterogen und spaltet sich seit der Islamischen Revolution
im Iran in konservative und sozialrevolutionäre Richtungen auf. Die
konservative Strömung des Islamismus, eher ein Mitläufer,
instrumentalisiert den Islam als Mittel zur Systemstabilisierung
und zur politischen Einflussnahme auf andere muslimische Länder. Die
ihrerseits heterogene sozialrevolutionäre Strömung des Islamismus
versucht hingegen, gewaltfrei durch politische Partizipation oder
gewaltsam durch militant-radikale Gruppierungen das politische System
zu verändern. Sie versteht sich als genuin islamische Opposition zu
den säkularen Parteien. Vgl. hierzu auch Detlev Khalid, Reislamisierung
und Entwicklungspolitik, München, 1982, S.34ff
[2] Vgl. hierzu auch das Vorwort von Alfred Mechtersheimer
in: Ramsey Clark, Wüstensturm, US- Kriegverbrechen am Golf,
Göttingen, 1993, S. 11f
[3] Vgl. auch Ridha Kefi, «Les Arabes dans la tourmente», in:
J.A./L'Intelligent, N° 2123, du 18 au 24 Septembre
2001, S.26f
[4] In der arabischen Welt glaubt
man vornehmlich an eine zionistische Verschwörung gegen die Araber,
im Iran eher an eine Verschwörung der Vereinigten Staaten, die mit
der militärischen Präsenz in Afghanistan und Zentralasien den Iran
strategisch einzukreisen und den Islam zu schwächen versuchen. Vgl.
hierzu Atieh Bahar Consulting, Post 11 September 2001: Determinants
of Iran’s Political and Strategic Response, Teheran, 9 October 2001,
S.9
[5]
Vgl. auch als eine der
vielen kritischen Stimmen in der arabischen Welt Taieb Zahar, „De
la justice et du terrorisme“, in: Realités, N° 825, Tunis, du 18 au 24/10/2001, S.9
[6] Hazem Saghiyeh, “lt's not all America's fault”,
in TIME, October 15, 2001, S.39
[7]
Von vielen der in Algerien
tätigen islamistischen Terroristen ist bekannt, dass sie in Afghanistan
ausgebildet wurden und ihre
ersten militärischen Erfahrungen in den Reihen der afghanischen Opposition
gegen die Sowjetunion machten. Nach der Niederlage der Sowjets sind
sie in ihr Ursprungsland zurückgekehrt, wo sie unter dem Namen „Afghanen“
die Kernzelle terroristischer Banden bildeten.
[8] Vgl. FranVois Soudan, Védrine: «Pourquoi le Maghreb est inquiet», in: J.A./L’Intelligent,
N° 2126, du 9 au 15 Octobre 2001, S.8
[9] Vgl. hierzu M. Ali lbrahim, “Tell me more
... About terrorism à la Ayman al-Zawahri, how the USA is somehow responsible“,
in: Egyptian Gazette, October 29, 2001, der nachzeichnet, wie
es amerikanische Sicherheitsdienste versäumt haben, ägyptische Warnungen
vor einem der taktischen Drahtzieher des Al Qa’eda (Basis)
Netzwerkes rechtzeitig ernst zu nehmen.
[10] Zunächst
ist in diesem Zusammenhang das vitale Interesse Syriens zu nennen,
die Hizbullah im Libanon nicht als indirektes Druckmittel im Rahmen
der syrischen Nadelstichpolitik gegen Israel zu verlieren. Natürlich
ist auch die Legitimierung des palästinensischen Befreiungskampfes
von strategischer Bedeutung für den einzig verbliebenen, militärisch
potenten Frontstaat.
[11]
Vgl. umfassend zu den Wurzeln
des Wahhabismus die immer noch lesenswerte
Darstellung von Richard Hartmann, „Die Wahhabiten“, in: Zeitschrift
der morgenländischen Gesellschaft, Band 78, Heft 2, 1924, S. 176ff
[12] Saudi-Arabien unterstützt
mehrere islamistische Bewegungen in anderen Ländern und wird von diesen
– aus Überzeugung oder aus pragmatischen Gründen – als legitim im
Sinne des Islam anerkannt,
während andere islamistische Bewegungen
- wie dies schon die Moscheebesetzungen in Mekka 1979 und 1987
deutlich dokumentierten und die jüngsten Bombenanschläge in Saudi-Arabien
bestätigten – sie als unislamisch und illegitim attackieren.
[13] Der gängige Begriff „Schurkenstaat“
(rogue state) wurde unlängst von der amerikanischen Administration
durch den Begriff „Terrorismus unterstützender“ Staat ersetzt.
[14] Vgl. hierzu Cilina Nasser, “US “unfit” to
lead war on terrorism”, in: Daily Star, Beirut, October 3,
2001, S.1
[15] Vgl. FranVois Soudan, «Les Arabes face à la guerre», in:
J.A./L'Intelligent, N° 2125, du 2 au 8 Octobre
2001, S.15 und Georg Mascolo, «Allerhand Ärger», Der Spiegel,
46/2001, S.88
[16] Vgl. Leslie Susser,
“A whole new world”, in: The Jerusalem Report, October 22,
2001,S.12f.
[17] Vgl. hierzu Volker Perthes,
Vom Krieg zur Konkurrenz, Baden-Baden, 2000, S.182
[18] Vgl. hierzu Draft Final Communiqué of the Ninth Extra-Ordinary Session
of the Islamic Conference of Foreign Ministers, Doha, State of Qatar,
23 Rajab 1422H (10 October), S. 4
[19] Hamas bedeutet als Abkürzung
Eifer. Gleichzeitig verbirgt sich hinter diesem Kürzel der Begriff
arabische islamische Widerstandsbewegung.
[20] So gehen die nadelstichartigen
Luftangriffe gegen militärische Einrichtungen im Irak natürlich weiter,
auch wenn sie schon längst nicht mehr den Weg in die täglichen Abendnachrichten
finden.
[21] Vgl. ausführlich zur wirtschaftlichen
Situation im Irak Kadhim A. Habib, „Das irakische Volk zwischen dem
Hammer des despotischen Regimes und dem Amboss der einzigen Supermacht“,
in: epd-Dokumentation, UN-Sanktionen ohne Ende? Chancen zivilgesellschaftlicher
Interventionen am Beispiel Irak, Frankfurt am Main, Nr. 18/01, 30.
April 2001, S.5ff
[22] Vgl. hierzu ausführlich Alain
Gresh, „Der Irak wird zahlen“, in: Le Monde diplomatique, Deutsche
Ausgabe, Berlin, Okober 2000, S.1 und S.6f.
[23] Vgl. hierzu ausführlich Andrä
Gärber, MENA-Region: „Der Nahe Osten und Nordafrika, Zwischen Bilateralismus,
Regionalismus, und Globalisierung“, FES-Analyse, Bonn, September
1999
[24] Das Argument, Islam und Säkularismus
würden sich gegenseitig ausschließen, lässt sich bestenfalls durch
die künstliche Aufwertung des Rechts-Islam (Scharia-Islam) gegenüber
dem Volks-Islam (Tariqa-Islam) aufrechterhalten. Vgl. hierzu auch
die grundlegende Arbeit von Bassam Tibi, Die Krise des Islams –
eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter,
München 1981, S.89f