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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 1/2002

Andrä Gärber
Die politische Lage im Nahen Osten und Nordafrika nach dem 11. September 2001

Paul S. Hewitt
Depopulation and Ageing in Europe and Japan: The Hazardous Transition to a Labor Shortage Economy

Alfred Pfaller / Lother Witte
Wie sichern wir unsere Renten? Plädoyer für eine globale Strategie

Robert Christian van Ooyen
Die neue Welt des Krieges und das Recht Out-of-area-Einsätze der Bundeswehr im verfassungsfreien Raum

 

Andrä Gärber

Die politische Lage im Nahen Osten und Nordafrika nach dem 11. September 2001

Der Nahe und Mittlere Osten und Nordafrika (Mashrek und Maghreb) werden oft als homogene Region betrachtet. Dabei werden notwendige Differenzierungen übersehen. Dies gilt auch für Reaktionen auf die Terroranschläge vom 11. Dezember. Zwar gibt es auch hier Gemeinsamkeiten: Fast überall in der Region wurden die Anschläge verurteilt; Massendemonstrationen blieben aus - auch nach dem Kriegsbeginn in Afghanistan; fast überall wurden aber auch die "double standards" des Westens bei der Bewertung der Entwicklungen im Nahen Osten kritisiert; und fast überall mangelt es an einer breiten gesellschaftlichen Debatte über die Ursachen des Islamismus. Doch neben den Gemeinsamkeiten stehen die Unterschiede: Die autoritären Präsidialregime (Algerien, Ägypten, Tunesien, Syrien) sahen ihre Politik der harten Repression islamistischer Bewegungen durch die Ereignisse des 11. September bestärkt. Die reformbereiten, kapitalarmen Monarchien (Jordanien, Marokko) dagegen sahen ihre Politik der Einbindung islamistischer Kräfte in den politischen Prozess bestätigt. Saudi-Arabien, enger Verbündeter der USA und gleichzeitig als Finanzier einer fundamentalistischen Version des Islam am Entstehen des Islamismus nicht unbeteiligt, hat auf die Terroranschläge mit Entsetzen reagiert. Die von den USA so titulierten "Schurkenstaaten" (Jemen, Libanon, Libyen, Irak, Sudan, Iran) befürchten, dass sie selbst zu Zielen militärischer Angriffe werden könnten bzw. weiterhin internationaler Isolation und - wie Libyen und der Irak - internationalen Sanktionen unterliegen werden. In Palästina und Israel haben die Anschläge zu tiefer Verunsicherung geführt, während die Türkei eine weitere Chance sieht, ihre uneingeschränkt prowestliche Position herauszustellen. Wenn mit dem 11. September auch eine Chance für den Nahen und Mittleren Osten verbunden sein soll, müssen sowohl die externen Akteure - in erster Linie die USA und die EU - als auch die lokalen Regimes einen Politikwechsel vornehmen. Die USA müssten sowohl ihre Palästina- als ihre Irakpolitik überdenken und die schematische Einordnung der nahöstlichen Staaten in Verbündete und Schurken revidieren. In den Ländern der Region kann die Antwort auf die gesellschaftliche Krise nur in mehr Demokratie liegen.

Paul S. Hewitt

Depopulation and Ageing in Europe and Japan: The Hazardous Transition to a Labor Shortage Economy

Das 21. Jahrhunderts wird in Europa und Japan von einem Rückgang der Bevölkerung bei gleichzeitiger Alterung geprägt sein. Diese Entwicklung birgt die Gefahr von lang anhaltenden Rezessionen in sich: Mit weniger Arbeitskräften werden niedrigere Wachstumsraten zu erzielen sein. Mit einer schrumpfenden Bevölkerung wird die Nachfrage sinken, der sich dadurch verstärkende Wettbewerb wird die Profite schmälern. Die Nachfrage nach Wohnraum wird zurückgehen, das bestehende Immobilienvermögen wird entwertet. Die Sparquoten werden sinken, mit negativen Auswirkungen auf Investitionen und Wachstum. Aufgrund des Rückgangs der Erwerbstätigen werden auch die Steuereinnahmen sinken, bei gleichzeitig höheren Ausgaben für die soziale Sicherung der Rentner; dies führt zu Haushaltsdefiziten, die Staatsverschuldung oder Steuererhöhungen zur Folge haben. Die notwendigen Produktivitätssteigerungen, um die genannten Effekte zu konterkarieren, werden nur schwer zu realisieren sein, denn die europäischen und japanischen Unternehmer werden angesichts permanenter Rezessionserwartungen verstärkt in anderen Regionen investieren. Der Wohlfahrtsstaat, dessen Einführung im Wesentlichen eine Reaktion auf die Arbeitslosigkeit war, wird damit grundsätzlich in Frage gestellt. Die gesellschaftlichen Eliten müssen die neuen Herausforderungen der labor shortage economy erkennen. Dies bedeutet einen Abschied von liebgewonnenen Denkschemata und Politikempfehlungen. Erforderlich ist nun eine prinzipielle Umorientierung der Wirtschafts-, Bildungs- und Sozialpolitik, wobei neben einer positiveren Einstellung zur Einwanderung die Spezialisierung Europas und Japans auf qualitativ hochwertige Produktionsprozesse von zentraler Bedeutung ist.

 

Johannes Kandel

Islam und Muslime in Deutschland

Nach dem 11. September 2001 standen Muslime in der westlichen Welt unter besonderem Druck. Die Reaktionsmuster lassen sich wie folgt unterscheiden: "der Islam ist an allem schuld", "das hat mit Religion nichts zu tun", "das ist eine Perversion des Islam" und "Religion führt generell zu Gewalt". 3,2 Millionen Muslime leben dauerhaft in Deutschland: Sunniten, Schiiten, Aleviten und Ahmadis. Sie werden als Minderheit in den letzten Jahren verstärkt wahrgenommen, weil sie ihre religiösen Bedürfnisse - u.a. islamischer Religionsunterricht - in der Öffentlichkeit offensiv vertreten. Der säkulare deutsche Staat stellt für die hier lebenden Muslime eine Herausforderung dar. Während wenig darüber bekannt ist, wie die nicht organisierte Mehrheit mit dieser Herausforderung umgeht, lassen sich im organisierten Islam zwei Grundpositionen erkennen. Eine lehnt den säkularen Staat und die Integration in ihn ab. Sie betreibt aktive islamische Identitätspolitik und strebt weitgehende Autonomie für eine nach eigenen Normen lebende islamische Gemeinde in Deutschland an. Andersdenkende setzt sie unter Druck. Die zweite Position stellt die Religionsfreiheit in den Vordergrund, die dieser Staat u.a. den Muslimen gewährt. Aber auch den konservativen Vertretern dieser Mehrheitsposition ist der säkulare Staat innerlich fremd. Sie bejahen ihn nicht, sondern sehen ihn als Fakt an, mit dem man als Muslim leben kann. In der Tat setzen die in der Verfassung verbrieften bürgerlichen Freiheiten dem Schutz religiöser Gefühle Grenzen. Außerdem können Minderheiten nicht nur Toleranz einfordern, sondern sind ihrerseits gefordert, auf die Gefühle der Mehrheiten Rücksicht zu nehmen. Dies berührt auch das öffentliche Praktizieren religiöser Riten. Die Prinzipien des Zusammenlebens unterschiedlicher kultureller Gruppen, die ihre jeweilige Identität nicht aufgeben möchten, sind derzeit nicht klar, sie müssen öffentlich diskutiert werden. Das Leitbild einer "multikulturellen Gesellschaft" mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten für unterschiedliche Gruppen ist abzulehnen, weil es zu eskalierenden Konflikten führt. Zu begrüßen ist dagegen eine Politik der Anerkennung kultureller Differenz, wenn sie auf universalistischen, für alle geltenden Normen fußt. Unser Modell sollte die ethnisch differenzierte, religiös und kulturell pluralistische Gesellschaft auf Basis der Werte des Grundgesetzes sein.

Alfred Pfaller / Lother Witte

Wie sichern wir unsere Renten? Plädoyer für eine globale Strategie

Die hoch entwickelten Industrieländer werden in den kommenden Jahrzehnten dramatisch altern. Besonders stark betroffen werden u.a. Japan, Italien und Deutschland sein. Der Anteil der über Sechzigjährigen wird hier von gegenwärtig etwa 20 Prozent auf über vierzig Prozent im Jahre 2050 steigen. Die Zahl der Einwohner wird - bei Fortschreibung der derzeit beobachtbaren Einwanderungsquoten - auch absolut deutlich schrumpfen. Unter diesen Umständen lässt sich der sogenannte Generationenvertrag in der heutigen Form nicht mehr aufrechterhalten. Entweder müssen sich die Beiträge zur Rentenversicherung nahezu verdoppeln oder die Standardrente muss auf etwa dreißig Prozent des Lohneinkommens sinken oder das durchschnittliche (!) Verrentungsalter muss auf über siebzig Jahre angehoben werden. Jede einzelne dieser "Grausamkeiten" lässt sich nur dadurch abmildern, dass man etwas mehr von den anderen Grausamkeiten akzeptiert. Auch ein kapitalgedecktes Rentensystem entschärft die Problematik nicht, sondern verpackt sie nur anders. Theoretisch könnten höhere Geburtenraten und ein höherer Zustrom an Einwanderern einen Ausweg weisen. Aber die dazu auf Dauer notwendigen Größenordnungen sind derart, dass man sie schlicht als nicht machbar bezeichnen muss. Man kann den Generationenvertrag allerdings nicht nur dadurch "internationalisieren", dass man sich ausländische Produzenten (und Beitragszahler) ins Land holt, sonder auch dadurch, dass man zunehmend ausländische Produkte importiert. Es sind dann nicht nur die einheimischen Produzenten, die für den Konsum der wachsenden Rentnerschar aufkommen und deshalb ihren eigenen Konsum immer stärker einschränken müssen. Die Nettoimporte sorgen dafür, dass für den Gesamtkonsum der alten Gesellschaft mehr zur Verfügung steht, als diese selbst produziert. Hierzu müssten die Rentenfonds zunächst verstärkt im Ausland investieren und ausländische Vermögenstitel erwerben. Dadurch erwirbt man sich Ansprüche auf das ausländische Sozialprodukt, die später, wenn die eigene Gesellschaft immer stärker altert, eingelöst werden. Der Haken an der Strategie ist, dass fast alle "wirtschaftlich relevanten" Länder vor dem gleichen Problem stehen. Als Partner in dem hier angedachten "globalen Generationenvertrag" kommen nur die noch jungen Gesellschaften Süd- und Westasiens, Afrikas und zum Teil Lateinamerikas in Frage. Damit deren "demographisches Potenzial" aber tatsächlich in eine globale Rentenlösung eingebaut werden kann, muss dort ein anhaltender Prozess schnellen wirtschaftlichen Wachstums in Gang gebracht werden. Es wäre eine vorrangige politische Aufgabe des Westens, mit allen Mitteln möglichst günstige Voraussetzungen hierfür zu schaffen. Dabei wäre es nicht damit getan, mehr finanzielle Entwicklungshilfe zu leisten. Wichtig wären vor allem weltwirtschaftliche Weichenstellungen, die die Entwicklung der Dritten Welt begünstigen. Entwicklungsfreundliche Reformkräfte in der Dritten Welt wären zu unterstützen, die politisch oft dominierenden Rentiers unter Druck zu setzen. Gegebenenfalls müssten neue regionale Wachstumsmuster dem Markt durch entsprechende politische Intervention "abgetrotzt" werden.

Robert Christian van Ooyen

Die neue Welt des Krieges und das Recht Out-of-area-Einsätze der Bundeswehr im verfassungsfreien Raum

Das klassische Völkerrecht hatte die Begriffe von Krieg und Frieden klar definiert und vom Bürgerkrieg abgegrenzt. Die hiermit verbundene überkommene Systematik liegt auch der bundesdeutschen Verfassung noch bis heute zugrunde. Längst ist jedoch festzustellen, dass der Krieg im Sinne eines zwischenstaatlichen militärischen Konflikts eher die Ausnahme darstellt und abgelöst wurde durch eine Konfliktpalette, die von internationalisierten Bürgerkriegen bis zu den aktuellen Anschlägen "entstaatlichter", transnational operierender Terroristengruppen reicht. Spätestens mit dem Zeitenwechsel von 1989/90 hat diese "neue Unübersichtlichkeit" auch die Bundesrepublik anhand der Frage von Out-of-area-Einsätzen erreicht. Schienen diese zuvor in einhelliger verfassungsrechtlicher und sicherheitspolitischer Beteuerung ausgeschlossen, so lässt sich seitdem beobachten, dass die Bedingungen von Bundeswehreinsätzen nach dem Motto "Not kennt kein Gebot" einfach von Fall zu Fall neu geschöpft werden: angefangen von den "harmlosen" Einsätzen zu Beginn der 1990er Jahre über den wenig beachteten "Tirana-Einsatz" bis zum Kampfeinsatz im Kosovo-Krieg ohne UN-Sicherheitsratsbeschluss, der nach klassischer Lesart kaum unter die Verteidigung als einzig noch erlaubter Form des Kriegs subsumiert werden kann. Damit wird die Frage von Krieg und Frieden nicht aus klaren Kompetenzregelungen der Verfassung heraus bestimmt, sondern aus einem Konzept von "Staatsräson", das mit Kategorien des "Ausnahmezustands" operiert. Auch die Out-of-area-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum "Parlamentsvorbehalt" bei Bundeswehreinsätzen hat in dieser Hinsicht nur scheinbar für Klarheit gesorgt, vielmehr hat das Gericht seinerzeit selbst differenziertere Regelungen angemahnt. Eine Novellierung des Grundgesetzes ist umso dringlicher, da mit den Terroranschlägen in den USA infolge des NATO-Vertrags schon der nächste "Präzedenzfall" vorliegt. Dieser droht nicht nur die Grenzen von Out-of-area-Einsätzen noch einmal ad hoc zu verschieben, sondern die mit der Unterscheidung von Krieg und Frieden einhergehende Trennung von äußerer und innerer Sicherheit überhaupt aufzulösen. Denn für den Kampf gegen Terroristen, - das heißt gegen ein kriminelles Phänomen - sind aus guten Gründen in der deutschen Rechtsordnung bisher Polizei und Justiz nach Bestimmungen des Strafrechts zuständig - und nicht das Militär nach den Regeln und Gebräuchen des Krieges.


© Friedrich Ebert Stiftung | net edition malte.michel | 10/2001