Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 4/2002

 

 

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Zwischen demokratischem Idealismus und sicherheitspolitischem Realismus: Russland und der Westen nach dem 11. September

Hans-Joachim Spanger*

Die neue russisch-amerikanische Entente ist unverblümte Realpolitik. Amerika lässt das stets mehr proklamierte als wirklich verfolgte Ziel der Demokratisierung Russlands fallen. Putin verzichtet im Interesse seiner innenpolitischen Ziele auf symbolische Großmachtansprüche und akzeptiert die Rolle eines weltpolitischen Juniorpartners der USA. Die NATO verliert rapide an Bedeutung.

Am 24. Mai 2002 unterzeichneten der amerikanische und der russische Präsident in Moskau den mit vier Artikeln kürzesten Vertrag zur weiteren Begrenzung ihrer nuklearen Rüstungen und die auf zwölf Seiten am umfassendsten ausgebreitete Erklärung zur künftigen Ausgestaltung ihrer „neuen strategischen Beziehungen“. Beides stellt ein Novum dar, denn in der Epoche des Kalten Krieges verhielt es sich genau umgekehrt, erschöpfte sich der strategische Charakter der Ost-West-Kooperation in der Rüstungskontrolle und darin, im wechselseitigen Misstrauen vereint, durch unendliche Vertragskonvolute detailliert Vorsorge gegen jegliche Eventualitäten zu treffen. Deutlicher als alle offiziellen Bekundungen markiert dies, symbolisch verdichtet, den historischen Wandel in den beiderseitigen Beziehungen.

Eingeleitet hatte die Wende der russische Präsident Wladimir Putin, als er sich am 24. September 2001 vorbehaltlos an die Seite der USA in ihrem anhebenden Krieg gegen den internationalen Terrorismus stellte. Er begründete damit einen, wie Kommentatoren beider Seiten allenthalben erläutern, „Gezeitenwechsel“ in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen und die „signifikanteste geopolitische Neuordnung seit dem Zweiten Weltkrieg“.[1] Erstmals hätten sich die USA, die Europäische Union und Russland zusammengetan, um jenen Problemen zu begegnen, die sie in singulärer Übereinstimmung als Bedrohung ihrer „vitalen Sicherheitsinteressen“ wahrnehmen.[2] Oder mit den plastischen Worten des Vorsitzenden des russischen Föderationsrates, Sergej Mironow: „Die zivilisierte Welt sieht sich einer Gefahr gegenüber, die in ihren potentiellen Dimensionen nicht geringer ist als die Bedrohung durch den Faschismus. Russland, die Vereinigten Staaten, Europa und Israel befinden sich objektiv auf derselben Seite in ihrem Kampf gegen die herausragende Gefahr unserer Zeit.“[3] Es bedurfte folglich erst eines neuen heißen Krieges, um das Kapitel des kalten endgültig zu den Akten der Geschichte zu legen.

Nun wurde in der jüngeren Geschichte bereits so manch neues Kapitel zwischen Russland und dem Westen aufgeschlagen. Und auch der Kalte Krieg fand mit der internationalen „Koalition gegen Terrorismus“ keineswegs zum ersten Mal sein deklaratorisches Ende. Doch folgte auf die aus solchem Anlaß regelmäßig verkündeten „strategischen Partnerschaften“ ebenso regelmäßig die harte Landung auf dem Boden vermeintlicher Realitäten.[4] Hochfliegende Rhetorik hat folglich eine gewisse Tradition und ist mit Vorsicht zu genießen. Allerdings haben sich mit dem 11. September die Parameter der Beziehungen grundlegend verändert – zumal auf amerikanischer Seite.

Für die USA ist seit den Attacken von New York und Washington der Kampf gegen den internationalen Terrorismus zur alles überragenden Herausforderung aufgestiegen, und hier spielt Russland, was es in den Augen der USA lange Zeit entbehrte: eine essenzielle Rolle. Das löste einen weitreichenden Perspektivenwechsel aus. In der Clinton-Administration hatte sich nach dem optimistischen Start der „Russia-first”-Politik zu Beginn der neunziger Jahre eine wachsende „Russia fatigue” breit gemacht. Frustration darüber, dass weder im Prozess der Demokratisierung noch bei der Einführung der Marktwirtschaft die vermeintlich so generöse Zuwendung den erhofften Exporterfolg amerikanischer Werte und Ordnungsvorstellungen zu sichern vermochte, sowie Verärgerung über die „multipolaren“ Ambitionen der russischen Diplomatie ließen zunehmend Distanz entstehen. Da Russland insoweit zwar nachhaltig irritierte, nicht länger aber wirklich die Kreise der amerikanischen Politik stören konnte, sank es auf der Washingtoner Prioritätenskala auf jenes Niveau, das eher mit seinem Wirtschaftspotenzial in der Größenordnung einer machtpolitischen quantité negligeable wie Belgien als mit seinen nuklearen Fähigkeiten korrespondierte. Kurz: „Weit entfernt, die falsche Politik gegenüber Russland zu betreiben, könnten die Vereinigten Staaten aufhören, überhaupt eine zu haben.”[5] Mit der Bush-Administration schien diese Prognose endgültig Wirklichkeit zu werden. Sie erhob die Frustration über ausbleibende Transformationserfolge in den Rang einer sicheren Erwartung, wonach Russland unter demokratischen und marktwirtschaftlichen Auspizien ein ebenso hoffnungsloser Fall sei wie als verantwortungsbewusster außenpolitischer Partner.[6] Es bedürfe daher weder politisch einer besonderen Pflege noch gar - wie unter Clinton - besonderer materieller Zuwendungen. Von all dem ist heute keine Rede mehr, weder in den USA noch bei deren Verbündeten in Europa.

Für Russland stellte sich die Situation insoweit anders dar, als dort der Kampf gegen jenen Terrorismus, der in den USA gerade anhob, in eigener Wahrnehmung bereits seit einigen Jahren ausgefochten wurde: in Gestalt des Krieges gegen die heute in islamistischer Verkleidung auftretenden tschetschenischen Freischärler und in Form von hunderten Opfern wahlloser terroristischer Anschläge. Folglich hat sich für Russland mit dem 11. September weit weniger verändert als für die USA. Zwar erschien damit ganz unerwartet ein mächtiger Verbündeter am Horizont, doch kann dies allein kaum erklären, warum ein dort nicht minder fest gefügtes Syndrom der Abgrenzung mit der gleichen Eloquenz beiseite geschoben wurde. Das ist um so erstaunlicher, als der russische Kurswechsel in seiner materiellen wie seiner symbolischen Dimension weitreichend und durchaus nicht ohne Risiken ist.

Materiell eröffnete Russland den USA mit den zentralasiatischen Operationsbasen für den Krieg in Afghanistan, was es bis dahin als exklusives russisches Sanktuarium betrachtet und gegen jegliche äußere Einflußnahme abzuschirmen versucht hatte: die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Da sich der russische Einfluß dort ohnedies weit mehr auf die kulturell und ökonomisch bestimmten Attribute einer „soft power“ (Joseph Nye), denn auf militärische Machtprojektion stützt, muss dieser spätestens dann – und auch über die Grenzen dieser Republiken hinaus - in Frage stehen, wenn den zentralasiatischen Potentaten das Währungsgefälle zwischen US-Dollar und Rubel plastisch vor Augen geführt wird. Auf der Ebene der außenpolitischen Symbolik nimmt Moskau wiederum de facto Abschied von seinem ambitionierten Selbstbehauptungsanspruch, der vor allem vom Widerspruch gegen die amerikanische globale Hegemonie zehrte. Stattdessen begibt man sich sehenden Auges in eben jene „Juniorrolle“, von der man sich unlängst noch „multipolar“ emanzipieren wollte und die auch heute politisch und psychologisch nicht ohne weiteres zu verkraften ist.[7] Mehr noch verleiht der russische Beitritt zur globalen Koalition dem amerikanischen Krieg gegen den Terrorismus die Weihen einer zivilisatorischen volonté generale und bindet zugleich auch Russland an die Unwägbarkeiten amerikanischer Entscheidungsprozesse, gleich ob diese den Terrorismus auf den Philippinen, in Georgien oder gar auf der „Achse des Bösen“, die sich nach offizieller Lesart vom Irak über den Iran bis Nord-Korea erstreckt, bekämpfen wollen. Es kann angesichts dessen nicht verwundern, dass die neue russische Politik ebenso eng mit dem Namen des amtierenden Präsidenten Wladimir Putin verbunden ist, wie die Einleitung der Perestrojka seinerzeit mit dem Namen des letzten sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. Die politische Klasse Moskaus hüllt sich dagegen in ziemlich eisiges Schweigen.

 

Demokratische Außenpolitik? Putins Entscheidung für den Westen

Konsens herrscht in der Beurteilung der neuen russischen Politik nur insoweit, als der Kurswechsel und mit ihm die „Geburt einer außenpolitischen Strategie“ exklusiv dem russischen Präsidenten zugeschrieben werden. Das gilt übereinstimmend für die Beobachter im Westen wie im Osten, gleich ob sie den neuen Kurs vor Ort explizit befürworten oder sich ihm zähneknirschend ergeben.[8] Weder das Außen- noch das Verteidigungsministerium, deren direkter Steuerung durch den Kreml noch unter Jelzin ein besonderes Augenmerk galt, spielten eine erkennbare Rolle.[9] Vielmehr wurden sie mit ihren Verlautbarungen, die sich ursprünglich ganz in der Tradition russischer Distanz gegenüber dem Westen bewegten und eine russische Kooperation im anhebenden Krieg der USA gegen den Terrorismus weitgehend verwehrten, selbst höchst unangenehm überrascht. Und auch der sonst so lautstarke Chor der Moskauer (außen-)politischen Klasse lässt mit seinen zurückhaltenden Kommentaren allenfalls erkennen, dass der mühsam etablierte Konsens, der Russlands internationale Bedeutung vor allem auf der Waage des europäischen und besser noch des globalen Kräftegleichgewichts messen wollte, so schnell nicht geräumt werden soll.

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Auf der Ebene der außenpolitischen Symbolik nimmt Moskau Abschied von seinem ambitionierten Selbstbehauptungsanspruch, der vor allem vom Widerspruch gegen die amerikanische globale Hegemonie zehrte. Stattdessen begibt man sich sehenden Auges in eben jene „Juniorrolle“, von der man sich unlängst noch „multipolar“ emanzipieren wollte.
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Was im Einzelnen die (neuerliche) Hinwendung zu den USA herbeigeführt haben mag, systematisch entscheidend ist, dass in Anbetracht der obwaltenden Kräfteverhältnisse der Manichäismus, wie er gleichsam als neue Bush-Doktrin für die Washingtoner Politik prägend geworden ist, den Horizont der russischen Möglichkeiten auf eine Alternative verengte: mit oder eben gegen die USA zu operieren.[10] Jelzins virtuoses Ausloten der diplomatischen Grauzone, das in der Rhetorik, etwa aus Anlass der Sezessionskriege auf dem Balkan, immer wieder den Dritten Weltkrieg heraufbeschwor, in der Praxis jedoch verhaltene Kooperation signalisierte, schied damit als Option aus.

Es blieb folglich die nüchterne Abwägung der Risiken, die sich vor allem aus der militärischen Präsenz der USA in der russischen Interessensphäre, möglichen kriegerischen Verwicklungen oder neuerlichen terroristischen Anschlägen für Russland ergeben konnten, sowie des potenziellen Nutzens. Auch dieser war durchaus erkennbar, denn hinter dem Sternenbanner konnte sich Russland aus der bis dato ziemlich isolierten vordersten Linie im Kampf gegen den Islamismus zurückziehen, in die es sich nicht nur in Tschetschenien, sondern auch in Tadschikistan und Armenien sowie, wenn man will, durch die Unterstützung Serbiens in seinen vielfältigen Bürgerkriegen manövriert hatte. Versprach folglich der Beitritt zur Koalition die offene diplomatische Flanke in Tschetschenien zu schließen, so hätten eine Verweigerung und ein Beharren auf den exklusiven russischen Rechten in seiner Interessensphäre GUS aller Voraussicht nach in eine neuerliche, schmerzhafte Niederlage geführt. Darüber hinaus konnte sich die russische Seite natürlich auch westliche Konzessionen erhoffen, von der beschleunigten Aufnahme in die Welthandelsorganisation über die Verlangsamung der geplanten NATO-Erweiterung bis zum Abbruch der amerikanischen Raketenabwehrpläne oder dem Erlaß zumindest der sowjetischen Altschulden – Hoffnungen, die in der Praxis jedoch nur partiell aufgegangen sind.[11] Dass die russische Führung schließlich auch die Erwartung gehegt haben könnte, über die Koalition multilateral Einfluss auf die Kriegführung der USA zu gewinnen, wäre dagegen allenfalls Ausdruck mangelnder Professionalität, wenngleich auch jetzt Anflüge von Größenwahn nicht zu übersehen sind.[12]

Zwar liegen die Vorteile auf der Hand und sind die Risiken überschaubar, dies allein erklärt indes noch nicht, warum die Abwägung zugunsten der USA ausgefallen ist. Auch würde daraus noch nicht jene strategische Dimension folgen, die zahlreiche Beobachter dem neuen russischen Kurs zuschreiben. Vielmehr vollzog sich die Entscheidung auf dem Resonanzboden eines außenpolitischen Diskurses, der letztlich kein anderes Ergebnis zulassen konnte. Und sie wurde auf paradoxe Weise durch Putins Herrschaftsmodell befördert, ja in ihrer reibungslosen Umsetzung durch dieses letztlich erst ermöglicht.

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Mit dem amerikanischen Rückzug auf die Verteidigung der ureigenen nationalen Interessen vollzog sich ein konzeptioneller Wandel, der erheblich an das Mächtekonzert des 19. Jahrhunderts gemahnt und sich damit jenen, vermeintlich antiquierten Ordnungsvorstellungen nähert, wie sie in Russland schon geraume Zeit populär sind. Deutlicher als in der missionsgebundenen Bildung wechselnder Koalitionen um den zur „Hypermacht“ aufgestiegenen Kern der USA läßt sich jedenfalls die Renationalisierung der Sicherheitspolitik kaum demonstrieren.
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Der außenpolitische Diskurs, der vornehmlich um das „neue Codewort für Antiamerikanismus“ – den „Multipolarismus“[13] – und um die (Selbst-)Behauptung nationaler Interessen kreist, hatte eine längere Entstehung und viele Funktionen. Anfangs fungierte er als höchst praktisches Instrument für innenpolitische Machtkämpfe, bei denen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre wahlweise der Außenminister oder der Präsident selbst unter Feuer genommen wurden.[14] Mit dem Amtsantritt von Außenminister Jewgenij Primakow 1996 schließlich zur offiziellen Doktrin erhoben und so etwas wie einen negativen außenpolitischen Konsens repräsentierend, erlaubte der Multipolarismus kompensatorisch nach innen und offensiv nach außen, wahrnehmbar und vom Westen unterscheidbar zu werden. Als Rebellion gegen das von Charles Krauthammer schon 1991 mit imperialer Geste proklamierte „unipolar moment“ der USA zwar verständlich,[15] blieb der Multipolarismus in der Praxis allerdings wenig mehr als der hilflose Versuch, durch eine Koalition der Verlierer der eigenen Marginalisierung zu entgehen. Das schloss Absatzbewegungen vom Westen ein, bisweilen artifiziell eskalierte Konflikte nicht minder, blieb letztlich aber immer symbolisch-defensiv und verdichtete sich an keiner Stelle zu einer prinzipiell anti-westlichen Haltung, gar antagonistischer Qualität.[16] Es gab folglich keine prinzipiellen kognitiven Barrieren, um jener Supermacht Unterstützung zukommen zu lassen, die sich für Russland zwar als unerreichbar darstellt, am 11. September aber selbst als höchst verwundbar erwiesen hat.

Mehr noch vollzog sich mit dem amerikanischen Rückzug auf die Verteidigung der ureigenen nationalen Interessen ein konzeptioneller Wandel, der erheblich an das Mächtekonzert des 19. Jahrhunderts gemahnt und sich damit jenen, vermeintlich antiquierten Ordnungsvorstellungen nähert, wie sie in Russland schon geraume Zeit populär sind. Deutlicher als in der missionsgebundenen Bildung wechselnder Koalitionen um den zur „Hypermacht“ aufgestiegenen Kern der USA läßt sich jedenfalls die Renationalisierung der Sicherheitspolitik kaum demonstrieren. Wie einst in der „Heiligen Allianz“ im Kampf gegen diffuse soziale Bewegungen vereint, gewinnen damit die etablierte internationale Ordnung und ihre konstitutiven Bestandteile – die Nationalstaaten – eine ganz neue Bedeutung.[17] Das kommt den russischen Intentionen sehr entgegen, denn von den maßgebenden Allianzen und Integrationen ausgeschlossen, hatte das angestrebte Konzert der großen Mächte nicht nur als Projektionsfolie zur Restauration nationaler Würde und Grösse für die russische Führung schon immer einen unwiderstehlichen Charme. Im Multipolarismus operativ verdichtet konnte sie sich letztlich nur so die institutionell verwehrte Mitwirkung versprechen, die ihr die Koalition gegen den Terrorismus nun eröffnet.

Gleichwohl lässt sich unschwer ausmalen, dass zu Zeiten Boris Jelzins und der endemischen Kämpfe um politische und wirtschaftliche Claims auch eine solche – naheliegende – Entscheidung alles andere als geräuschlos über die Bühne gegangen wäre. Offenbar hat sich seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten auch innerhalb Russlands einiges geändert. Nun eignet sich Putin noch weniger als sein Vorgänger, um als edler Ritter für die universalen Werte des Westens gegen die Mächte der Moskowiter Finsternis anzutreten. Im Gegenteil – so jedenfalls die bis dato politisch korrekte Lesart im Westen. Tatsächlich ist die Diskrepanz offensichtlich: Nach innen verfolgt das Regime des Wladimir Putin einen Kurs autoritärer Modernisierung petrinischer Qualität, der einerseits den demokratischen Pluralismus der öffentlichen Meinung gleichschaltet, andererseits aber den ökonomischen Pluralismus des Marktes entfaltet; und nach außen betreibt es nunmehr eine mutige Öffnung zu eben jenen Mächten, die dies seit geraumer Zeit mit Argusaugen beobachten. Auf den ersten Blick tun sich hier beträchtliche Widersprüche auf, fliegt, wie es ein russischer Beobachter formuliert hat, der Doppeladler des Staatswappens in entgegengesetzte Richtungen.[18] Beides, innenpolitische Formierung und außenpolitische Öffnung, lässt sich jedoch dann kombinieren, wenn der inneren Modernisierung Priorität eingeräumt wird – und wenn sich außen Partner finden, die dazu mehr als nur modellplatonische Handlungsanweisungen beisteuern können. Mehr noch ließe sich vor dem Hintergrund der bisherigen post-sowjetischen Erfahrungen zugespitzt formulieren, dass eine wesentliche Bedingung der so praktizierten äußeren Handlungsfreiheit die Neutralisierung jeglicher innerer Opposition darstellt.

 

Außenpolitik zur Förderung der Demokratie? Die westliche Entscheidung für Putin

Eine solche auf die genuine Verbindung zwischen innerem Autoritarismus und äußerer Öffnung rekurrierende Interpretation widerspricht markant jener Erklärung für die russische Hinwendung zu den USA, die in der Transformationsideologie der neunziger Jahre verharrt – konzeptionell durch das Theorem des demokratischen Friedens inspiriert, praktisch von der Aussicht beseelt, sich die Welt nach dem eigenen westlichen Bilde zu schaffen. Danach entsprang Russlands „mitfühlende Reaktion“ auf den 11. September keineswegs einem rein „strategischen Kalkül“, sondern hatte ihre Wurzel in der Hinwendung zu einer gänzlich neuen Werthaltung: „der tief gehenden Unterstützung für die Demokratie“ innerhalb der russischen

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Die westlichen Transfers zur Förderung demokratischer Institutionen und sozialer Bewegungen stellten lediglich einen Bruchteil jener Leistungen dar, die offiziell der Schaffung marktwirtschaftlicher Verhältnisse dienten, in der Wirklichkeit ökonomischer Nutzenkalküle aber die Belange der eigenen Volkswirtschaften fest im Blick behielten.
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Bevölkerung. Dass die demokratischen Werte heute dergestalt auch in der Außenpolitik Wirkung entfalten können, ist danach nicht zuletzt das Ergebnis einer „nachhaltigen westlichen Politik des Engagements“. Gleichwohl bleibe die russische Demokratie fragil, darum müsse auch im Zeichen des Kampfes gegen den Terrorismus gelten: „Gerade jetzt sind die Vereinigten Staaten gehalten, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, um innerhalb der Grenzen ihres einstigen Gegners die Demokratie zu fördern.“ Denn: „Die USA dürfen nicht vergessen, wie wichtig die Unterstützung der Demokratie in Russland ist, da dieses Land erst dann ein vollwertiger Partner der westlichen Allianz werden kann, wenn es in vollem Umfang demokratisch geworden ist.“[19]

Ein solches Postulat klingt vertraut, denn soweit vor dem 11. September auf westlicher Seite überhaupt von einer Russland-Politik gesprochen werden konnte, die einen solchen Namen verdiente, spielten die (unzulänglichen) demokratischen Verhältnisse im Lande zumindest deklaratorisch eine Schlüsselrolle. Sie galten im Sinne außenpolitischer Konditionierung nicht nur als Grundvoraussetzung für kooperative Beziehungen; ihre Sicherung, Stabilisierung oder gar Herstellung erfuhren auch und gerade unter den politischen Verhältnissen eines Etatismus Putinscher Prägung besondere Aufmerksamkeit.

In der Praxis jedoch folgte daraus wenig. So stellten die westlichen Transfers zur Förderung demokratischer Institutionen und sozialer Bewegungen lediglich einen Bruchteil jener Leistungen dar, die offiziell der Schaffung marktwirtschaftlicher Verhältnisse dienten, in der Wirklichkeit ökonomischer Nutzenkalküle aber die Belange der eigenen Volkswirtschaften fest im Blick behielten.[20] Ebenso wenig konnte sich eine kohärente Politik demokratischer Konditionierung, die mit der Demokratisierung des russischen Partners die inneren Bedingungen für eine dauerhaft stabile Kooperation schaffen sollte, entfalten. Folglich bestimmte weder das deklaratorische Ziel, in idealistischer Tradition die Demokratie in Russland unterstützen zu wollen, die westliche Außenpolitik, noch gab es in realistischer eine genuine außenpolitische Agenda, die gänzlich von der angestrebten demokratischen Wertegemeinschaft abgesehen hätte.

Tatsächlich schwankte die westliche Politik in eigentümlicher Weise zwischen beiden Polen. Sie erweckte einerseits den Eindruck, der Demokratie dienen zu wollen, benutzte dies aber vornehmlich als Instrument der Immunisierung gegen ein Russland, das man sich ungeachtet seiner politischen Verfassung lieber vom Leib halten wollte. Andererseits bequemte sie sich dann zu kooperativen Referenzen an das russische Machtpotenzial, wenn temporäre außenpolitische Interessen dies geboten erscheinen ließen. Der Konflikt um das Kosovo ist ein charakteristisches Beispiel. Hier zeigte sich im Fortgang des Krieges gegen Jugoslawien insbesondere die deutsche Regierung mit Nachdruck darum bemüht, Rußland in eine diplomatische Lösung einzubinden – eine Lösung, die zum damaligen Zeitpunkt von den Luftangriffen der NATO allein immer weniger erwartet werden konnte. Es war dies einer der wenigen Fälle, in denen das neue post-sowjetische Rußland in Würdigung seines genuinen Gewichts von westlicher und zumal von deutscher Seite als sicherheitspolitischer Partner anerkannt, ja hofiert wurde. Doch bis zum 11. September blieb dies eine nicht mehr als taktische Variation des distanzierenden Grundmotivs.

Letztlich, das hat nicht erst der 11. September offenbart, bestimmen jenseits aller Rhetorik ganz andere Entscheidungsgründe das westliche Verhältnis zu diesem Land. Wichtiger ist denn auch, dass die außenpolitische Fixierung auf die innenpolitischen Verhältnisse in Russland vor allem eines signalisierte: Zwischen Washington und Berlin wusste man wenig mit einem Land anzufangen, das weder „Freund“ noch „Feind“ war, das weder als Gegner abzuschrecken noch als Alliierter zu umarmen war.[21] Diese Unentschiedenheit schlug sich nicht nur unmittelbar in der politischen Praxis nieder, sie ließ auch grundlegende Einstellungsmuster an die Oberfläche treten. Dabei konkurrierte zivilisatorische Arroganz, die ihren Honig aus dem russischen Chaospotenzial und wahlweise seiner Schwäche oder seinem Autoritarismus im Inneren sog, mit dem weniger deutlich artikulierten Respekt vor seinem immer noch eindrucksvollen politisch-militärischen Gewicht. Zumal in Deutschland reflektiert diese Unentschlossenheit die doppelte Asymmetrie aus zivilisatorischer Überlegenheit hier und machtpolitischer Unterlegenheit dort, von denen die wechselseitigen Perzeptionen und damit das Verhältnis beider Länder seit nunmehr zwei Jahrhunderten geprägt sind.

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Die westliche Politik erweckte einerseits den Eindruck, der Demokratie dienen zu wollen, benutzte dies aber vornehmlich als Instrument der Immunisierung gegen ein Russland, das man sich ungeachtet seiner politischen Verfassung lieber vom Leib halten wollte. Andererseits bequemte sie sich dann zu kooperativen Referenzen an das russische Machtpotenzial, wenn temporäre außenpolitische Interessen dies geboten erscheinen ließen.
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In rein machtpolitischen Kategorien sah sich Deutschland – oder vor dem Jahre 1871 seine konstitutiven Elemente wie die Monarchien der Hohenzollern und der Habsburger – Russland signifikant unterlegen. Das wurde nirgends deutlicher als nach dem Zweiten Weltkrieg, traf indes auch für den überwiegenden Teil des 19. Jahrhunderts zu, lagen doch nach dem Wiener Kongress – mit den anklagenden Worten Friedrich Naumanns – die deutschen Lande „wie bessere Balkanstaaten“ Russland zu Füßen.[22] In zivilisatorischer Hinsicht dagegen fühlte sich Deutschland nicht minder überlegen, was russische Westler und deutsche Nationalisten in auffallender Übereinstimmung während des 19. Jahrhunderts regelmäßig zu artikulieren pflegten. Da mochte in der Tradition preußischer Großmachtpolitik ein Heinrich von Treitschke, in Abscheu gegen „die gerühmte Civilisation der Westmächte“ mit dem „nordischen Koloß“ vereint, noch so heftig dafür werben, dass „wir Deutschen ohne selbstgefälligen Culturdünkel die despotischen Formen des russischen Staatswesens in ihrer Berechtigung anerkennen.“[23]

Während das russische Machtpotenzial nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht mehr ausreichte, um die außenpolitische Agenda auf westlicher Seite positiv wie negativ zu prägen, folgte aus der Attitüde des demokratischen Vorbilds eine klare Handlungsanweisung: Wenn Russland als Partner ernst genommen werden will, muss es unverzüglich seine innere Unordnung beseitigen und den Transformationsprozess abschließen, muss sich, wie bisweilen offen artikuliert wurde, „zivilisieren“.[24] Weil sich dies aber im Sinne der okzidentalen Maßstäbe nicht umstandslos einstellen wollte, war die westliche Politik weder in der Lage zu bestimmen, ob sie Russland nun als realen Partner oder als virtuellen Gegner behandeln und ob sie außenpolitischen Kooperations- oder den innenpolitischen Transformationszielen Priorität einräumen sollte. Daran änderte sich nichts, solange es keine herausragenden Ziele und Interessen gab, die eine außenpolitische Agenda mit eigenem Gewicht gegenüber Russland begründen konnten.

Das schlug sich denn auch in der alles andere als ausgeprägten Bereitschaft nieder, Russland Zugang zu den exklusiven Assoziationen der westlichen Wertegemeinschaft einzuräumen, gleich ob es sich um die OECD, die Welthandelsorganisation, die NATO oder die Europäische Union handelt. Dabei kam der NATO, wie die Auseinandersetzungen der letzten Jahre um ihre Zukunft, Funktion und Gestalt illustrieren, besondere Bedeutung zu. Sie wurde gleichsam zum Gradmesser für den Stand der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen – mit beiderseits erheblicher symbolischer Aufladung. So erschien aus russischer Perspektive allein noch die Öffnung des Bündnisses für die eigenen Belange als glaubwürdiger Nachweis der westlichen Bereitschaft, das neue Russland gleichberechtigt im Kreis der verbliebenen Weltordnungsmächte zu akzeptieren – was verflossene Fähigkeiten allzu umstandslos in eine grundlegend veränderte Gegenwart projizierte. Von westlicher Seite wiederum wurden die Tore der NATO gegenüber Russland dauerhaft und fest verschlossen gehalten, obwohl bei den osteuropäischen Beitrittskandidaten eine Mitgliedschaft als besonders geeignet, ja unverzichtbar erschien, um die geforderten inneren Demokratisierungsprozesse zu befördern.

All dies hat sich seit dem 11. September grundlegend geändert. Das wechselseitige Misstrauen, das – wie nunmehr auch der Generalsekretär der NATO freimütig einräumt – beide Seiten daran hinderte, „mehr als die allerersten Schritte zu einer wirklichen Partnerschaft“ zu gehen, darf danach nicht länger im Weg stehen: „Diese Angriffe verpflichten uns, über das ‚business as usual‘ hinauszugehen. Sie zwingen uns, ganz neu über die Bedingungen unserer Sicherheit heute und morgen nachzudenken. Und vor allem verpflichten sie uns, ganz neu über die Beziehungen zwischen der NATO und Russland nachzudenken. Denn eines sollte klar sein: Jegliche gehaltvolle Antwort auf die terroristische Gefahr, auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder auf andere neue und sich entfaltende Bedrohungen erfordert eine stabile Beziehung zwischen der NATO und Russland.“[25] Deutlicher lässt sich nicht dokumentieren, dass mit der neuen Herausforderung für die nationale Sicherheit namentlich der USA nunmehr auch im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen die lange vermisste außenpolitische Agenda Gestalt angenommen hat. Und deutlicher lässt sich ebenfalls nicht dokumentieren, dass die westliche Demokratisierungsagenda bestenfalls als Pausenfüller und Abstandshalter mangels überzeugender Ziele und Interessen figurierte. Kommen solche ins Spiel, ist außerhalb einiger akademischer Zirkel jedenfalls kaum mehr die Rede davon, dass stabile Allianzen nur auf der Basis gleichermaßen liberaler politischer Ordnungen entstehen und Bestand haben können.

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Noch vor kaum zwei Jahren schien mit der NATO eine rein westliche Organisation als Nukleus einer neuen gesamteuropäischen Ordnung auf und handelte auch so. Was davon bleibt, ist eine „security and defence-services institution“, aus der sich nach Auffassung zumal der europäischen Mitglieder die USA nach Bedarf und im Zweifel im exklusiven Tandem mit Russland zu bedienen suchen – ganz wie die „Mission“ und nicht wie die „Koalition“ gebietet.
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Tatsächlich stellten auf einem eigens dafür veranstalteten Gipfel am 28. Mai 2002 in Rom das Bündnis und Russland ihre Beziehungen auf eine ganz neue Grundlage: durch Schaffung eines neuen, mit erweiterten Aufgaben und einem speziellen Entscheidungsmechanismus versehenen NATO-Rates, in dem Russland gemeinsam mit den 19 regulären Mitgliedern nicht nur einen Sitz, sondern diesmal auch eine Stimme innehat. Nicht wie noch 1998/99 der NATO-Russland-Rat als kompensatorische Flankierung der geplanten Erweiterung des Bündnisses durch symbolische Gesten konzipiert, ist damit ein operatives Organ entstanden, das sich insbesondere mit den neuen Bedrohungen auseinandersetzen soll. So stehen denn auch mit dem internationalen Terrorismus und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen die beiden klassischen Themen der aktuellen amerikanischen Agenda im Mittelpunkt, während alle übrigen, von der Streitkräftereform über den Zivil- und Katastrophenschutz bis zur Abwehr taktischer Raketen lediglich von den langen Bank der unverbindlichen Konsultationen im alten zum neuen NATO-Russland-Rat transferiert wurden. Auch hat die NATO keinen Zweifel gelassen, dass der neue gemeinsame Rat keineswegs an die Stelle des NATO-Rats treten, Russland mithin kein Veto-Recht in den Kernbelangen des Bündnisses eingeräumt wird.

Ob dem Gipfel von Rom tatsächlich die „historische Bedeutung“ zukommt, die ihm von offizieller Seite allenthalben zugeschrieben wurde, wird sich erst in den praktischen Mühen der Ebene erweisen, zumal sich aus einer rein institutionellen Perspektive die Unterschiede zwischen dem alten und dem neuen NATO-Russland-Rat eher bescheiden ausnehmen. Richtet sich der Blick dagegen stärker auf den Prozess, so wird deutlich, dass die NATO in ihrer Metamorphose von einer klassischen Verteidigungsallianz zu einer ebenso umfassenden wie zunehmend beliebigen Sicherheitsorganisation ein gutes Stück fortgeschritten ist. Dabei reflektiert auf paradoxe Weise sowohl die Öffnung für Russland als auch die Ausweitung des geographischen Aktionsbereichs vom euro-atlantischen Raum des offiziellen Strategischen Bündniskonzepts zu jenen „anderen Ecken der Welt“, wo die „vitalen Sicherheitsinteressen ihrer Mitglieder“ berührt sein könnten,[26] was sich bereits zuvor im transatlantischen Verhältnis andeutete: die zunehmende Marginalisierung der Allianz. Damit vollzog sich ein fürwahr atemberaubend schneller Wandel, eingedenk der Tatsache, dass mit der NATO eine rein westliche Organisation noch vor kaum zwei Jahren als Nukleus einer neuen gesamteuropäischen Ordnung aufschien und auch so handelte. Was davon bleibt, ist eine „security and defence-services institution“, [27] aus der sich nach Auffassung zumal der europäischen Mitglieder die USA nach Bedarf und im Zweifel im exklusiven Tandem mit Russland zu bedienen suchen – ganz wie die „Mission“ und nicht wie die „Koalition“ gebietet. Auch dies mag ein Licht auf die Essenz der neuen sicherheitspolitischen Kooperationsbereitschaft werfen, die zumindest jenseits des Atlantik seit dem 11. September eben sehr viel stärker der nationalen Prärogative verpflichtet ist als den institutionellen Bindungen multilateraler Arrangements.

 

Wie weit trägt die neue Entente?

Es hat zehn verlorene Jahre gedauert, bis der Westen und Russland nunmehr gefunden zu haben scheinen, wonach sie zuvor nie gemeinsam und zumeist in unterschiedlicher Richtung gesucht hatten: eine gemeinsame außenpolitische Basis. Diese liegt dezidiert jenseits des Postulats vom demokratischen Frieden, das kein Programm gemeinsamer Aktivitäten begründete, sondern auf beiden Seiten eine Politik des Attentismus – auf westlicher in der Frustration über die ausbleibenden Transformationserfolge, auf russischer aus Frustration über die unübersehbaren Transformationsfolgen. Der gemeinsame Nenner manifestiert sich darin, dass auf westlicher Seite ein genuines außenpolitisches Interesse an Russland entstanden ist, das die einst dominante Demokratisierungsagenda in den Hintergrund ritueller Bekenntnisse gedrängt hat. Und auf russischer Seite dominiert heute umgekehrt ein genuines innenpolitisches Interesse an ebenso autoritärer wie beschleunigter Modernisierung, das außenpolitisch weniger auf symbolische Kompensation angewiesen ist und die Juniorrolle im Verbund des Westens als funktionales Äquivalent erträglicher macht.

Gleichwohl – dies sollte die Lehre aus der schnell verflogenen Euphorie des ersten „Gezeitenwechsels“ am Beginn des verlorenen Jahrzehnts sein – stellt dieser gemeinsame außenpolitische Nenner alles andere als ein perpetuum mobile zur Vertiefung der wechselseitigen Beziehungen dar. Er beendete lediglich die Unentschiedenheit und Ziellosigkeit auf beiden Seiten, die diesen Beziehungen ihr markant destruktives Gesicht verliehen. Gemeinsam tragfähig ist ein solcher Nenner auf Dauer nur, wenn er für beide Seiten einen – auf Grund der macht- und entwicklungspolitischen Asymmetrie nur schwer und schon gar nicht einvernehmlich – messbaren Erfolg garantiert. Hier ist die Bilanz in den Monaten nach dem 11. September für Russland allenfalls gemischt.

Positiv lässt sich aus russischer Perspektive verbuchen, dass nach mehr als zehn Jahren und weitreichenden Privatisierungen sowohl die Europäische Union als auch die USA Russland seit Juni 2002 den lange verwehrten Status als „Marktwirtschaft“ einräumen und damit ihren eifrig genutzten Spielraum, russische Exporte mit Dumping-Verfahren zu überziehen, begrenzen. Auch wurde das Land auf dem kanadischen Gipfel Ende Juni endgültig in den

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Auf westlicher Seite ist ein genuines außenpolitisches Interesse an Russland entstanden, das die einst dominante Demokratisierungsagenda in den Hintergrund ritueller Bekenntnisse gedrängt hat. Und auf russischer Seite dominiert heute umgekehrt ein genuines innenpolitisches Interesse an ebenso autoritärer wie beschleunigter Modernisierung, das außenpolitisch weniger auf symbolische Kompensation angewiesen ist und die Juniorrolle im Verbund des Westens als funktionales Äquivalent erträglicher macht.
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Kreis der nunmehr G-8 aufgenommen, unter der Maßgabe, 2006 den Vorsitz zu übernehmen und garniert mit einer Finanzspritze von 20 Milliarden US-Dollar zur Beseitigung nuklearer Abfälle.[28] Auf der anderen Seite stehen die einseitige Kündigung des ABM-Vertrages, die Verhängung von Sonderzöllen für Stahlimporte durch die USA, deren militärische Präsenz in Georgien,[29] die ungeschmälerte Fortführung der NATO-Erweiterung oder auch die Verweigerung eines visafreien Reiseverkehrs von und nach Kaliningrad durch die Europäische Union. All dies ist kaum als Konzession an russische Interessen darzustellen. Und selbst der jüngst abgeschlossene Vertrag zur Reduzierung strategischer Atomwaffen erscheint den meisten Beobachtern in seiner Unverbindlichkeit als endgültiger Beleg für das Ende einer Periode, in der die beiden Großmächte als „Gleiche“ gegenübertraten.[30] Es ist daher nicht verwunderlich, dass innerhalb Russlands die Stimmen nicht verstummen, die sich bei Putins Kurs an Gorbatschow erinnert fühlen und zwar vor allem an dessen finale selbstzerstörerische Phase.

Wenn sich die außenpolitischen Erfolge in Grenzen halten, werden die innenpolitischen um so wichtiger. Ob die Überwindung der ökonomischen Modernisierungsbarrieren den Preis des politischen Autoritarismus lohnt, lässt sich jetzt noch nicht abschätzen. Hier sind durchaus Zweifel angebracht, und es bleibt einstweilen nur die Hoffnung, dass nicht erneut und wie schon oft in der russischen Geschichte Bilanz nach dem Muster des ehemaligen Ministerpräsidenten und heutigen Botschafters in der Ukraine, Wiktor Tschernomyrdin, gezogen werden muss, der zum Ende seiner Amtszeit resignierte: "Wir wollten das Beste; aber es kam wie immer." Nicht zuletzt aus diesem Grund kann die westliche Seite durchaus eine aktive Rolle spielen, denn unter den Prämissen einer substanziellen außenpolitischen Kooperation, die sich auch in einer Heranführung Russlands an die westlichen Integrationen manifestiert, gewinnt die westliche Demokratisierungsagenda einen neuen Stellenwert. Nicht länger als distanzierendes Instrument zur Konditionierung nur partieller Kooperationen missbraucht, kann sie nun in der richtigen Rang- und Reihenfolge Wirkung entfalten und nach innen flankieren, was sich außen bereits vollzieht. Dergestalt konstruktiv gewendet, kann das Theorem des demokratischen Friedens doch noch orientierend dazu beitragen, die inneren Bedingungen stabiler Beziehungen zu schaffen.


[1] Ian Bremmer, Alexander Zaslavsky, “Bush and Putin’s Tentative Embrace”, in: World Policy Journal, Nr. 4, 2001/02, S. 11.

[2] Oksana Antonenko, “Putin’s Gamble”, in: Survival, Nr. 4, 2001/02, S. 49.

[3] Izvestija, 8. Juni 2002.

[4] Vgl. hierzu Hans-Joachim Spanger (Hg.), Rußland und der Westen. Von der „strategischen Partnerschaft“ zur „Strategie der Partnerschaft“, Frankfurt/Main/New York, 1998.

[5] Stephen Sestanovich, “The Collapsing Partnership: Why the United States Has No Russia Policy”, in: Robert J. Lieber (Hg.): Eagle Adrift. American Foreign Policy at the End of the Century, New York 1997, S. 164.

[6] Prototypisch dafür William E. Odom, “Realism about Russia”, in: The National Interest, Nr. 65, 2001, S. 56-66.

[7] So erneut N. Simonia, V. Baranovskii, “What Is in Store for the World?”, in: International Affairs (Moskau), Nr. 1, 2002, S. 15.

[8] Vgl. zum Spektrum der Auffassungen recht instruktiv die Rundtischdiskussion mit prominenten Sprachrohren der Moskauer außenpolitischen Klasse wie Michail Deljagin, Andranik Migranjan, Aleksej Puškov, Konstantin Zatulin und Dmitrij Trenin in: Svobodnaja mysl‘, Nr. 12, 2001, S. 7-22. Vgl. zustimmend auch Dmitri Trenin, Vladimir Putin’s Autumn Marathon: Toward the Birth of a Russian Foreign Policy Strategy, in: Briefing Papers, Moskovskogo centra karnegi, Nr. 11, 2001.

[9] Was in schon vertrauter Weise erneut die Forderung nach einem neuen „effektiven Implementierungsmechanismus“ weckte, vgl. dazu u. a. den Präsidenten des „Rates für Außen- und Verteidigungspolitik“ und überraschend deutlichen Anhänger von Putins Westpolitik, Sergei Karaganov, „Russia’s Foreign Policy a Success“, in: Moscow News, Nr. 52 (26. Dezember-1. Januar), 2001/2002, S. 1 und 3;

[10] Wenig läßt diesen Manichäismus deutlicher werden als die Feststellung des amerikanischen Präsidenten im September 2001: „Every nation, in every region, now has a decision to make. Either you are with us or you are with the terrorists.“ Vgl. zu den Elementen einer neuen amerikanischen Doktrin auch Richard Wolffe, „The Bush doctrine“, in: Financial Times, 21. Juni 2002, S. 14.

[11] Einzig der Weimarer Kompromiß, den der Bundeskanzler und der russische Präsident nach längeren Verhandlungen im März 2002 zum Transferrubel-Saldo aus dem Handel der DDR mit der UdSSR erzielten – Deutschland ließ seine ursprüngliche Forderung in Höhe von etwa 6,5 Milliarden Euro fallen und begnügte sich mit 500 Millionen Euro -, mag als materieller Ertrag gelten, unterscheidet sich aber nicht grundsätzlich von ähnlich generösen Gesten der Vergangenheit, zumal die deutsche Regierung bei den übrigen Altschulden weit weniger Konzessionen zu machen geneigt ist, auch entgegen offener Kritik aus den USA.

[12] Vgl. etwa als guten Seismographen Alexei G. Arbatov, „A Russian Note of Caution“, in: Survival, Nr. 4, 2001/02, S. 153, der meint, daß Rußland der „Hauptpartner der USA in den für diese wichtigsten Sicherheitsfragen“ geworden sei, „weit wichtiger als irgendein NATO-Mitglied oder andere formelle Verbündete“.

[13] William E. Odom, a.a.O., S. 62.

[14] Vgl. hierzu Hans-Joachim Spanger, „Gaullismus à la russe: Moskau und die NATO-Erweiterung“, in: Politische Vierteljahresschrift, Nr. 3, 1997, S. 555-572.

[15] Charles Krauthammer, “The Unipolar Moment”, in: Foreign Affairs, Jg. 70, Nr. 1, 1991, S. 23-33.

[16] Aus jüngerer Zeit dazu recht instruktiv Thomas Ambrosio, “Russia’s Quest for Multipolarity: A Response to US Foreign Policy in the Post-Cold War Era”, in: European Security, Nr. 1, 2001, S. 45-67.

[17] Vgl. hierzu Anatol Lieven, “The Secret Policemen’s Ball: the United States, Russia and the international order after 11 September”, in: International Affairs (London), Jg. 78, Nr. 2, April 2002, S. 245-259.

[18] Vgl. Dmitrij Furman, “Polët dvuglavogo orla”, in Obščaja gazeta, 30. Mai 2002, www.og.ru.

[19] Timothy J. Colton, Michael McFaul, “America’s Real Russian Allies”, in: Foreign Affairs, Nr. 6, 2001, S. 47, 54. So auch als russische Stimme Lilia Schewzowa, „Auf nach Westen!“ in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17. Februar 2002, S. 9. Dabei werden von den beiden amerikanischen Autoren unter den veränderten Auspizien lediglich „realistischere Standards beim Tempo des Wandels“ konzediert (S. 57). Namentlich McFaul bekräftigte damit Präferenzen, die er bereits seit geraumer Zeit vertritt, vgl. u.a. Michael McFaul, „Getting Russia Right“, in: Foreign Policy, Nr. 117, 1999/2000, S. 58-73. Ähnlich auch ein unter seiner Mitwirkung entstandener Report mit Empfehlungen für die Bush-Administration: „[T]he new U.S. administration needs to stress that the preservation of democracy in Russia is a precondition for cooperation and integration into the Western community of states.“ (An Agenda for Renewal: U.S.-Russian Reations. A Report by the Russian and Eurasian Program of the Carnegie Endowment for International Peace, Washington D.C., Dezember 2000.)

[20] Vgl. hierzu ausführlich Hans-Joachim Spanger, Die Fesseln der Konditionierung. Demokratieexport nach Rußland als Politikersatz, Frankfurt/Main (HSFK-Report, Nr.4) 2001, S. 18-31.

[21] Michael McFaul, “Realistic Engagement: A New Approach to American-Russian Relations”, in: Current History, Nr. 648, 2001, S. 316.

[22] „Zwischen West und Ost hatte der Osten gesiegt und nutzte seinen Sieg.“ Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin, 1915, S. 47.

[23] Heinrich von Treitschke, Zehn Jahre Deutscher Kämpfe. Schriften zur Tagespolitik, Berlin 1879 (2. Auflage), S. 594, 598. Es ist dieses Amalgam aus anti-westlichem Reflex und machtpolitischem Kalkül, das ihn zu einem solchen Urteil führt, denn: „Auf dem Bunde Deutschlands und Rußlands ruht heute der Friede in der Welt und die neue Ordnung der Staatengemeinschaft; darum trachten die Agenten Frankreichs wie die Ultramontanen an der Donau und der Spree durch tausend schlechte Künste ihn zu zersprengen.“ (S. 596).

[24] So Martin Walker, „Russia and the West. What Is to Be Done Now“, World Policy Journal, Jg. XI, Nr. 1, 1994, S. 5.

[25] George Robertson, “A New Quality in the NATO-Russia Relationship”, in: International Affairs (Moskau), Nr.1, 2002, S. 32.

[26] Vgl. Speech by German Minister of Defence, Rudolf Scharping, at the International Institute for Strategic Studies in London on 11 April 2002, in: ”www.bundeswehr.de”.

[27] So François Heisbourg, “Europe and the Transformation of the World Order”, in: Survival, Nr. 4, 2001/02, S. 145.

[28] Das hat in Russland Vorstellungen (wieder-)belebt, die G-8 als Nukleus einer neuartigen globalen Sicherheitsallianz zu begreifen, die es nun zu institutionalisieren gelte, vgl. Sergei Karaganov, „Needed: an International Security Alliance“, in: Moscow News, Nr. 23 (19.-25. Juni), 2002, S. 1f.

[29] Die Moskauer Kritik daran wird allein durch den Umstand gemildert, daß sich hier de facto die USA zum Verbündeten der einst heftig gescholtenen russischen Kriegführung in Tschetschenien machen und sich keineswegs mehr mit schweigender Neutralität begnügen.

[30] Georgij Bovt, “Vstreča”, in: Izvestija, 22. Mai 2002. Einen solchen, einseitig auf die Interessen der USA zugeschnittenen Vertrag hätte kein sowjetischer Führer und selbst Boris Jelzin nicht unterzeichnet.

 

Hans-Joachim Spanger * 1953 ;

Institut für Friedensforschung, Frankfurt;
reguas@gmx.de

 

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