Internationale Politik und Gesellschaft
International Politics and Society 1/2003

 

 

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Globalisierung versus Hegemonie
Zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen

Claus Leggewie* 

 

Ein Amerika, das weder auf Partner angewiesen ist, noch irgendeine Macht fürchten muss? Für maßgebliche Kräfte in den USA eine verführerische Vision, die aber den neuen Realitäten nicht gerecht wird. Globalisierung verträgt keinen Hegemon. Europa kann derzeit freilich wenig tun, um Amerika "zur Vernunft" zu bringen.

Die Irak-Krise hat aktuelle Gegensätze und grundsätzliche Differenzen zwischen Amerika und Europa in grelles Licht gesetzt. Die Bush-Administration fährt einen explizit imperialen Kurs, der die amerikanische Suprematie (nicht nur auf militärischem Gebiet) auf Jahrzehnte festigen soll, und sie legt auf multilaterale Kooperation weit weniger Wert als zu den Zeiten des Kalten Krieges. Die Europäische Union als ganze hat darauf noch keine schlüssige Antwort entwickelt, auch nicht die europäischen Mittelmächte als solche, vor allem Deutschland hat sich mit seinem harten (und m.E. richtigen) Nein zu einer Irak-Invasion in eine gewisse Isolation begeben. Drei Szenarien können heute im transatlantischen Verhältnis und darüber hinaus erwogen werden:

  • Der amerikanische Unilateralismus steigert sich zu einem sicherheitspolitischen und geo-ökonomischen Alleingang mit dem Ziel (oder doch wenigstens Effekt) imperialer Machtausübung.
  • Amerika und Europa bilden ein westliches Hegemonialbündnis und führen den „Kampf gegen den Terror“ gemeinsam.
  • Amerika und Europa, die Hegemonialmächte des 19. und 20. Jahrhunderts, binden werden in ein horizontales System der „Global Governance“ eingebunden.

Der wahrscheinlichste Fall, ein strikt unilaterales Vorgehen der USA, impliziert nicht nur die fehlende Abstimmung mit Europa, also eine Fortsetzung der bereits von der Clinton-Administration geübten Außenpolitik der vollendeten Tatsachen, sondern mittelfristig auch den Entzug des militärischen Schutzes und die Ausübung von Zwang, nach der von Georg W. Bush ausgegebenen Devise: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!“ Eine denkbare Reaktion der Europäer ist eine zunächst verbale Auflehnung gegen den Hegemon an der Seite anderer Staaten, eventuell die Aufrüstung zur militärischen Supermacht, womit nationale Rüstungs-anstrengungen koordiniert und zusätzliche Belastungen eingegangen werden müssten - was derzeit unvereinbar erscheint mit sozialstaatlichen Ansprüchen. Die Alternative dazu ist eine diplomatische Offensive und die Implementation einer alternativen Politik kollektiver Sicherheit in Europa und in den Anrainerregionen, die derzeit noch auf dem Papier steht.

Im zweiten Fall - Konvergenz und Kooperation - würden wieder jene Kräfte in den USA gestärkt, die davon ausgehen, dass Amerika zwar militärisch weiterhin dominiert, auf anderen Gebieten aber abhängig bleiben wird von der Mitwirkung anderer an der Lösung globaler Aufgaben, vor allem in klima- und entwicklungspolitischer Hinsicht, aber auch bei der Bekämpfung des transnationalen Terrors. Brächten das vereinte Europa und das weltoffene Amerika ihre (durchaus verschiedenen) Ideen und Ressourcen gemeinsam ein, würde dies eine „antiwestliche Reaktion“ nicht ausschließen, ihr aber eine nicht-militärische Dimension entgegensetzen.

Das dritte Szenario, die Einordnung beider Mächte in eine horizontale Architektur transnationalen Weltregierens, erscheint am unwahrscheinlichsten. Weder die Vereinten Nationen noch andere transnationale Regime (G 8, WTO, IWF, Weltbank etc.) sind stark genug, um den Kern einer solchen föderalen und interdependenten Herrschaftsstruktur zu bilden, vor allem aber weicht die damit verbundene Abgabe nationaler Souveränität erheblich vom amerikanischen Selbstverständnis ab, das auf einen sich im Inneren wie nach außen selbst schützenden Sicherheitsstaat hinausläuft. Amerika als das „neue Rom“ – diese Analogie ist zuletzt als Hauptindiz für den angeblich in Deutschland und Europa grassierenden „Antiamerikanismus“ genommen worden. Ob das amerikanische Empire einen Status vom Range des Imperium Romanum angenommen und das Vorbild vielleicht sogar übertroffen hat, wird jedoch auch in den Vereinigten Staaten selbst ernsthaft diskutiert, und manche Vordenker wünschen sich ausdrücklich Amerika als das neue Rom, weil nur so die Welt sicher werden könne.

Stellen wir also im Licht historischer Rückblicke und aktueller Analysen folgende Fragen: Gibt es eine amerikanische Hegemonie überhaupt, nachdem vor wenigen Jahren und zum Teil heute noch vom Fall des US-Imperiums die Rede war (Kennedy 2000, Wallerstein 2002)? Wie gehen Verbündete mit einer Hegemonialmacht um, die erklärtermaßen macht, was sie will? Liefern die Vereinigten Staaten noch Sicherheit für Europa und den Rest der Welt? Das heißt: können sie akute Bedrohungen von „Schurkenstaaten“ und „Terror-Netzwerken“ wirksam abschrecken und bekämfen? Benötigt eine entgrenzte Welt eine pax americana, und wenn nicht: Welche Machtstrukturen soll eine alternative Globalisierung aufweisen?

 

Von der Hegemonie zum Imperium?

Hegemon nannte man im alten Griechenland den Heerführer, der eine Streitmacht freier Polis-Bürger und Stadt-Staaten anführte. War damals noch unterstellt, er handele im Interesse gemeinsamer Sicherheit, so bekam der Begriff unter der Ägide Roms bei den Anrainern des mare nostrum einen negativen Klang, den er im europäischen Staatensystem beibehielt: Hegemonie störte das angestrebte Gleichgewicht und gefährdete den Frieden. Dabei gab es zu allen Zeiten hegemoniale Reiche und Staaten: Spanien in seinem Goldenen Zeitalter unter Karl V., Frankreich unter dem Sonnenkönig und erneut unter Napoléon, das britische Weltreich zur Zeit Georg III. und zuletzt die Doppelhegemonie im Kalten Krieg, welche die eigenen Blöcke im Griff hatte[1] und an der Peripherie für Ordnung sorgte. Hegemonie wird herkömmlich definiert als zwischenstaatliche Interaktion und ein Führungsverhältnis, „dessen Existenz und Bestand zum einen von den Machtressourcen, dem Willen und der strategischen Kompetenz eines führenden Staates (des Hegemonen) und zum anderen von der prinzipiellen Freiwilligkeit der Gefolgschaft einer herrschaftsorganisatorisch homogenen Gruppe von Staaten abhängig ist.“( Triepel 1943, nach Röbel 2001:21)

Unterstellt wird damit, dass Hegemonie alles in allem benevolent ist und das Gleichgewicht fördert. Ludwig Dehio legte nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage „Gleichgewicht oder Hegemonie“ als Grundproblem der neueren Staatsgeschichte neu vor (Dehio 1948/1996), als Europas Genius“, die alte Balance der Staatenwelt, durch die indirect rule und open society der angelsächsischen See- und Luftmächte und durch die sowjet-russische Machtkonzentration zerstört war. Mittlerweile haben sich die „insularen Potenzen“ gegen Russland durchgesetzt, und die Frage ist, ob und wie Amerika ohne diesen Widerpart noch zu bremsen ist. Multipolarität und in der Folge multilaterale Sicherheitspolitik, die sich im ausgehenden Ost-West-Konflikt aufzudrängen schienen, sind in den meisten Denkschulen jenseits des Atlantiks passé, und auch Amerikas alte Neigung zur Isolation hat einem teils realpolitischen, teils idealistischen Internationalismus Platz gemacht.

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Zu einer mehr als rhetorischen Allianz gegen Amerika ist es bisher nicht gekommen, da der wohltätige Hegemon der Welt öffentliche Güter geliefert hat, die allen zugute gekommen sind.

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Die historische Erfahrung lehrt, dass das internationale System den Primat eines einzelnen Staates nicht (lange) duldet, doch zu einer mehr als rhetorischen Allianz gegen Amerika ist es bisher nicht gekommen, da der wohltätige Hegemon der Welt öffentliche Güter geliefert hat, die allen zugute gekommen sind (Joffe 1997). Michael Stürmer hat erst kürzlich noch einmal die Paradoxie bekräftigt, „dass es ohne wohlwollende Hegemonie, die von außen kommt, Gleichgewicht nicht gibt“(2000:231). Dagegen wurde schon in den 1980er Jahren behauptet (Keohane 1990), Kooperation mittels internationaler Organisationen und Regime sei auch ohne die Existenz einer Hegemonialmacht möglich, wobei man sich aber auf Staaten und deren ökonomische Beziehungen konzentriert und nicht die Entgrenzung der Nationalstaaten und die Privatisierung der Weltpolitik bedacht hat, also alles, was man heute üblicherweise unter Globalisierung fasst. Wie globalisierungsfreundlich ist die amerikanische Hegemonie bzw. welches Muster von Globalisierung geht aus ihr hervor?

In einem engeren Sinne ist die aktuelle Hegemonie der Vereinigten Staaten unverkennbar und verwandelt sich hegemoniale in imperiale, womöglich imperialistische Machtausübung. Offen wird in den USA von der Notwendigkeit eines amerikanischen Imperiums gesprochen, was mehr beansprucht als Vormacht, nämlich Herrschaft. Maßgebliche Autoren haben den Verfechtern eines „transatlantischen Dialogs“ schallende Ohrfeigen versetzt. Robert Kagan, ein den Republikanern nahestehender Politikwissenschaftler, bestreitet schlicht, dass Europa und Amerika überhaupt noch eine gemeinsame Sicht der Welt haben: „Amerikaner sind vom Mars und die Europäer von der Venus.“[2] Er meint, in Anspielung auf die Entstehungsphase des internationalen Systems, Europa lebe in einer Kantianischen Phantasiewelt ewigen Friedens, während Amerika aufgerufen und allein befähigt sei, in der Hobbesianischen Anarchie globalen Ausmaßes Ordnung zu schaffen.

Hobbes siegt über Kant: Schon diese drastische Gegenüberstellung wird in Europa kaum noch verstanden, obwohl nur ein historischer Rollentausch stattgefunden hat: Noch vor hundert Jahren waren die Karten so verteilt, dass Europa die Welt beherrschte und seine bis an die Zähne bewaffneten Nationalstaaten einseitig ihre Interessen verfochten, während Amerika eher antikolonialen Ideen und einem idealistischen Internationalismus anhing, als es in die Weltpolitik eintrat. Aus militanten Nationalstaaten, die sich 1945 zugrundegerichtet hatten, wurde ein supranationales Bündnis von Multilateralisten ohne großes militärisches Gewicht, die emphatisch auf internationale Abkommen und Allianzen setzen, während sich die einstmals exemplarisch transnationale und imperiale Republik der Vereinigten Staaten von Amerika als starker Nationalstaat restituiert, der vor allem nach dem elften September allein auf die eigene Stärke setzt und, nolens volens, in aller Welt Nationalstaaten baut – eine schöne Ironie der Geschichte.

Nie war eine Supermacht so hegemonial wie die Vereinigten Staaten von heute. Welchen Indikator man auch heranzieht, die Anziehungskraft des Shareholder-Kapitalismus scheint eben unbestreitbar wie der Appeal der amerikanischen Populärkultur, die Dynamik der Informations- und Biotechnologien ist ebenso unwiderstehlich wie die Schlagkraft der US-Army. Im nächsten Jahr wird der US-Haushalt mehr Geld (aber immer noch nur drei Prozent seines Bruttosozialprodukts!) für seine Streitkräfte bereitstellen als die fünfzehn bis zwanzig nächstgrößten Armeen, und dieser Vorsprung ist nicht allein quantitativ: Es ist ein Typ von Kriegsgerät, im Weltraum wie unter der Erde, angesteuert, dessen Abschreckungseffekt und Zerstörungspotenz weltweit niemand erreichen kann und den USA auf Dauer globale Luft- und Seeüberlegenheit garantiert. Diese Militärüberlegenheit kumuliert sich dadurch, dass die USA mit nur knapp fünf Prozent der Weltbevölkerung fast ein Drittel des globalen Sozialprodukts erwirtschaften, vierzig Prozent der Investitionen für Forschung und Entwicklung tätigen und, nebenbei, vier Fünftel aller Einkünfte an Kinokassen haben. [3]

Die USA sind damit der einzige globale Akteur, der seine Macht weltumspannend projizieren und bei Bedarf an vielen Konfliktorten gleichzeitig auftreten kann, gemessen daran sind alle anderen Mächte und Bündnisse lokal gebunden. Amerika könnte möglicherweise an drei, vier Schauplätzen gleichzeitig Krieg führen, wozu in der Geschichte weder das Vereinigte Königreich um 1870 noch Amerika selbst um 1950, vor der sowjetischen Wasserstoffbombe und dem Sputnik, die Möglichkeit besaß. Und noch eine Kluft zwischen Europa und Amerika wächst: Während die Alte Welt weiter altert und trotz Masseneinwanderung weit unter die „Regenerationsquote“ (2,1 Kinder pro Paar) absinkt, darf man dank höherer Fertilität und bei anhaltender Einwanderung innerhalb der nächsten fünf Jahrzehnte mit einer halben Milliarde Amerikanern rechnen (Economist August 24th-30th 2002). Allein diese Divergenz wird dazu führen, dass sich Wohlfahrtspolitik diesseits und jenseits noch stärker unterscheidet als bisher schon.

Ist aber automatisch stark, wer Trillionen in die Rüstung steckt? Die jüngste Mega-Investition reagierte auf die kolossale Demütigung des elften September, doch beruhte Amerikas Stärke bereits auf anderen Ruinen, nämlich auf dem Ende von Mauer und Eisernem Vorhang. 1989 war das definitive Ende der alten Bipolarität gekommen, und alle Auguren, die seinerzeit mehr Multipolarität voraussagten, müssen sich mit den zitierten Macht- und Einflußgrößen auseinandersetzen. So konnten die USA „reine“ Hegemonie erlangen, das heißt die Möglichkeit einer einzigen Super-Macht, anderen Staaten den eigenen Willen aufzuzwingen und eine internationale Ordnung nach eigenen Wünschen einzurichten, woran keine Kombination aller anderen Akteure sie hindern kann. Amerika verspürt wenig Notwendigkeiten, genießt aber viele Wahlmöglichkeiten; bei Freunden wie Feinden ist es genau umgekehrt.

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Es ist eine seltsame Ironie der Geschichte, dass das immer schon transnationale und imperiale Amerika, das sich bis heute als „Gesellschaft ohne Staat“ geriert, beim Übergang in die reale Weltgesellschaft und unter dem Druck der verinnerlichten Bedrohung nun offenbar in eine Art nachholende Staatsbildung eingetreten ist.
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Damit enden die Zahlenspiele. Hegemonie ist ein Konstrukt und kann, wenn auch nicht beliebig, rekonstruiert werden. Bisher blieben alle Versuche rhetorischer Natur: Dass man Oncle Sam in Teheran oder Gaza täglich als Satan anklagt und rituell Stars & Stripes anzündet, belegt eher den Minderwertigkeitskomplex der arabisch-islamischen Welt. Auch andere Staaten haben die US-Hegemonie nicht wirklich gekontert; weder China noch Rußland noch die Mittelmächte der Europäische Union oder gar diese als ganze können in absehbarer Zeit den dargelegten Vorsprung auch nur annähernd aufholen, aus eigener Kraft ebenso wenig wie im „ganging-up“, was in realistischer Sicht die zwangsläufige Reaktion auf hegemoniale Ausreißer ist. Denn ein Alleingang (etwa Chinas) brächte die lokale Umgebung (in diesem Fall: Japan und Russland) auf, und alle supranationalen Allianzen (wie die EU) schwächen sich durch das Insistieren ihrer Mitgliedsstaaten auf Souveränität. Ein Indikator dafür ist der Rückgang der Militärausgaben bei so gut wie allen möglichen Rivalen Amerikas und die überraschend geschmeidige Einfügung der ex-kommunistischen Führungsnationen in Konstellationen gemeinsamer Sicherheit. Vieles seit 1990 entsprach folglich amerikanischen Wünschen, die Hemisphäre von Freihandel und pluralistischer Demokratie weitete sich erheblich aus.

Zwei amerikanische Politikberater kamen deshalb zu dem Schluss, dass ein „Rückfall in die Multipolarität die schlechteste  aller Welten für die USA sein würde. In einem solchen Szenario würden sie weiterhin den Haufen anführen und als Projektionsfläche des Ressentiments und des Hasses für staatliche und nicht-staatliche Akteure dienen, aber über weniger Möglichkeiten verfügen, mit der Situation umzugehen. Die Bedrohungen würden bleiben, aber die Möglichkeit zu einer wirksamen und koordinierten Gegenaktion wäre begrenzt“ (Brooks/Wohlforth 2002, S.20-33). Das meint jedoch nicht automatisch eine unilateralistische Strategie, da, wie spätestens der elfte September gezeigt hat, herkömmliche Kriegsführung mit begrenzten Staatenkriegen und lokalen Partisanenaufständen Vergangenheit ist (Münkler 2002); an ihre Stelle trat ein ressourcenschwacher, aber global wirksamer Terror, dessen virale Gewalt (verstärkt durch Medieninszenierung) auch eine Hegemonialmacht ins Wanken bringen kann. Und im übrigen: „Washington kann den Grad der Ablehnung nicht ignorieren, den ein aggressiv unilateraler Kurs unter seinen wichtigsten Alliierten  hervorrufen würde. Nicht Macht, sondern Einfluss ist es, was letztlich zählt. Je mehr man die kurzfristige Agenda überschreitet, umso deutlicher werden die vielen Probleme – Umwelt, Epidemien, Wanderungen, die Stabilität der globalen Wirtschaft, um nur ein paar zu nennen – welche die USA nicht aus eigener Kraft lösen können. Solche Themen ziehen wiederholte Behandlung mit vielen Partner über viele Jahre hinweg nach sich. Die Beziehungen jetzt zu verhärten, bewirkte ein noch schwieriges Politikumfeld in der Zukunft“ (ebda.:)

Diesem realistischen Plädoyer für eine multilaterale Außenpolitik, die auch nicht exklusiv auf militärische Mittel setzt, sind die Vereinigten Staaten häufiger gefolgt, als es eine anschwellende Klage über den alleingehenden Verbündeten wahrhaben will. In Sachen Menschenrechten und Demokratie, Welthandel und Finanzmarktregulierung, Kriegsverhütung und militärische Intervention haben sie sich nach 1990 so gut wie nie isolationistisch verhalten, sondern (für amerikanische Verhältnisse) überaus internationalistisch, wobei Form und Reichweite der Einmischung, wie nicht anders zu erwarten, stets an nationalen Interessen der USA bemessen waren. Sie mag den Europäern nicht immer gefallen haben, aber sie konnten, weder auf dem Balkan noch im Nahen Osten, eine eigene Krisen- und Kriegsverhinderungspolitik betreiben.

In der vergangenen Dekade intervenierte die U.S. Army häufiger in Übersee als in den vier Dekaden des Kalten Krieges zuvor, und nicht zuletzt entsandte Amerika gegen starke innere Vorbehalte Tausende von GIs in den Mittleren Osten, auf den Balkan und nach Afghanistan. Damit hat der einstige „Sheriff wider Willen“ seine Zurückhaltung endgültig aufgegeben. Auch wenn dem Rest der Welt die Zielsetzungen nicht passen: Die Aufgabe der „Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten“ haben oder hätten sie an anderer Stelle durchaus begrüßt und unterstützt – das ehemalige Jugoslawien und Ruanda sind Beispiele dafür. Und in Washington sieht man keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Diktatur eines Slobodan Milosevic und der eines Saddam Hussein, zwischen den Warlords in Kosovo und denen in Afghanistan. Bis vor Jahresfrist haben sich die Vereinigten Staaten in der Regel auch um eine Allianz im Kampf gegen Bedrohungen ihrer und der globalen Sicherheit bemüht, also stets um ein multilaterales Setting; auch beim „Nation-Building“ und bei der Entwicklungshilfe hat die Bush-Administration die von den Europäern gern beklagte Zurückhaltung aufgegeben.

Nicht Isolation, sondern Unilateralismus ist also die akute Herausforderung der hegemonialen Politik, und unilateral war (und ist) Amerika vor allem in den Fragen, in denen ihm klügere Berater multilaterale Sensibilität empfehlen, das heißt: eine Mäßigung der protektionistischen Handelspolitik (bei Stahl, Textilien, Landwirtschaft) und vor allem mehr Verantwortung in der globalen Umwelt- und Energiepolitik. Diese Züge treten nun auch auf anderen Gebieten erheblich stärker hervor, spitzen sich in europäischer Wahrnehmung zu einer Ideologie des Hegemonismus zu: Gulliver wirft die lästigen Liliputaner ab und erklärt: Take dictation! Das wesentliche Dokument dafür ist die Nationale Sicherheitsstrategie vom September 2002, ein 33seitiges Grundsatzpapier aus der Feder der Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice „von weitreichender, vielleicht epochaler Bedeutung“ (FAZ 23.9.2002). Darin heißt es, die Vereinigten Staaten hätten alle heißen und kalten Kriege gewonnen, die Gefahr gehe heute nicht mehr von einem anderen Goliath aus, sondern von vielen Davids und „düsteren Netzwerken von einzelnen“. Gleichwohl konzentriert sich die operative Politik ganz auf Mittelmächte, die zu Rivalen aufsteigen könnten. „Der Präsident wird es nicht zulassen, dass irgendeine fremde Macht den großen Abstand aufholen wird, der sich seit dem Zerfall der Sowjetunion ... gebildet hat“. Dazu ist ein Rüstungsprogramm aufgelegt worden, dessen Umfang nur obszön zu nennen ist – und zwar sowohl, wenn nur so die Sicherheit der Welt noch zu gewährleisten sein sollte, als auch natürlich noch mehr, wenn sie dazu gar keinen sinnvollen Beitrag leisten würde.

Die bereits „Bush-Doktrin“ getaufte Neuorientierung verkündet das Ende der Abschreckung und aller darauf beruhenden Allianzen und Feindbilder. Die USA setzen jetzt ganz auf präemptive und präventive Selbstverteidigung und sucht sich dazu die passenden Partner – „forms follows function“ könnte man diese neue Bündnisphilosophie nennen. Der Strategiewechsel ist durch den elften September nur beschleunigt, nicht ausgelöst worden; manche Kritiker in den USA und Europa gehen so weit, die Terroranschläge seien von den Falken in der Bush-Administration als Vorwand benutzt worden, um einen lange geplanten Politikwechsel durchzusetzen. Dieser geht zurück auf die rechtskonservative Kritik an der Entspannungspolitik und das Aufrüstungsprogramm des Weißen Hauses in den Reagan-Jahren, die bekanntlich auf einen Raketenschirm über dem nordamerikanischen Territorium ausgerichtet war. Man kann dies auf einen Elitenwechsel zurückführen, der sich im totalen Durchmarsch der Falken, etwa im Defense Policy Board (unter Richard Perle) erweist, aber möglicherweise liegt auch ein Systemwechsel vor, der die Rolle der europäischen Verbündeten nachhaltig verändern würde.

 

Der neue deutsch-amerikanische Dissens

Besonders Deutschland, von George Bush Senior 1991 noch zum „partner in leadership“ auserkoren, wird nach der Domestizierung und Einbindung Russlands schlicht nicht mehr gebraucht und hat im neuen Format nur noch wenige Funktionen. Aus deutscher und europäischer Sicht fragt sich, wie man mit einem Freund umgeht, der erklärtermaßen macht, was er allein für richtig hält. Das war selten ein Thema, solange die deutsch-amerikanische Freundschaft selbstverständlich schien und der Hegemon unterm Strich stets wohlwollend und aufgeklärt agierte, mit anderen Worten: den West-Deutschen mehr half als schadete, und sein nie verhohlener Eigennutz die regionalen und lokalen Nutzenkalküle anderer zufrieden stellte. Im atlantischen Bündnis fielen militärische Interessen, wirtschaftlicher Nutzen, politische Annäherung und kulturelle Amerikanisierung in eins, aber sie blieben stets asymmetrisch und unter dem Vorbehalt, dass vor allem West-Deutschland in der übergeordneten Blockkonfrontation nützlich war. Wo Germany ein Hemmschuh war oder ein Risiko zu werden drohte, ließen Großzügigkeit und Freundlichkeit sogleich nach, und es traten die „ewigen“ Divergenzen und Gegensätze zutage, die das deutsch-amerikanische Verhältnis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgängig charakterisiert hatten und als „Allianz des Mißtrauens“ (Brandstätter 1989, Junker u.a., 2000) nach 1945 unterirdisch begleiteten. Da Deutschland in der übergeordneten Konfrontation, wie die Führung der Vereinigten Staaten sie definiert, heute nicht mehr vorkommt oder lästig erscheint, muss man sogar die Möglichkeit ins Auge fassen, dass die deutsch-amerikanische Freundschaft nur eine Episode des Kalten Krieges bleibt und dass auf Grund der tektonischen Verschiebungen in der transnationalen Politik die üblichen Interessengegensätze und Schismen wieder hervor- und neue Konfliktlinien hinzutreten.

Das deutsch-amerikanische Verhältnis wird in allen Rückblicken als love and success story erzählt: Aus Rivalen um die Beseitigung der Dominanz der alten europäischen Land- und Seemächte in der Epoche des Wilhelminismus und Theodore Roosevelts und erbitterten Haupt-Feinden in den 1930er und 1940er Jahren wurden nach 1947/48 engste Verbündete. Doch waren das imperiale Reich und die imperiale Republik auch Hauptkonkurrenten im Zwanzigsten Jahrhundert; für Woodrow Wilson wie Franklin D. Roosevelt war Deutschland ein „Reich des Bösen“, dessen Eindämmung, nach 1945 durch Integration, auf der Tagesordnung blieb. Diese ist gelungen, denn Deutschland hat sich, auch nach der Vereinigung, nachhaltig verwestlicht und seine imperialen Ambitionen völlig aufgegeben. Anders gesagt: Deutschland und Amerika hatten so lange keine Probleme, wie einer oder beide wirtschaftlich und politisch-militärisch schwach war oder sich auf sich selbst konzentrierten. Zum Konflikt kam es, wenn zwei (radikal verschiedene) Internationalismen aufeinander prallten. Und nur weil Deutschland keine Weltmacht mehr sein dufte und auch nicht mehr sein wollte, konnte Amerika eine bleiben bzw. zur unbestrittenen Führungsmacht im Westen aufsteigen.

Vor allem die „deutsche Frage“ hatte die USA zum Austritt aus der Isolation und zur Ausformulierung ihrer Mission bewegt, die Welt sicher zu machen (für die Demokratie). Berlin blieb das Symbol und Faustpfand der amerikanischen Zuwendung zur Welt, nun im Kampf gegen den Kommunismus, wobei die nukleare Eindämmung der Sowjetunion immer auch die Kontrolle Deutschlands und Westeuropas erlaubte. Diese „doppelte Eindämmung“ (Hanrieder) begründete den sicherheitspolitischen Deal zwischen Deutschland und den USA - die Kosten und Risiken der gigantischen Aufrüstung der 1980er Jahre wurden, über weltwirtschaftliche Mechanismen, von Europa und Japan getragen, auch der Golfkrieg von Saudi-Arabien, Japan und Deutschland finanziert. Deutschland und Europa waren im Rückblick also der wesentliche Garant der Niederhaltung und am Ende der Zerstörung des Anspruchs der sowjetischen Hegemonialmacht auf Gleichstellung mit Amerika, wobei der östliche Teil Europas und Deutschlands der Leidtragende der damit verbundenen Nicht-Intervention in die inneren Angelegenheiten des Ostblocks und der Aufrechterhaltung des status quo wurde.

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Da Deutschland in der übergeordneten Konfrontation, wie die Führung der Vereinigten Staaten sie definiert, heute nicht mehr vorkommt oder lästig erscheint, muss man sogar die Möglichkeit ins Auge fassen, dass die deutsch-amerikanische Freundschaft nur eine Episode des Kalten Krieges bleibt.
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Im Hinblick auf die deutschen Sonderwege war dieser Prozess zweifellos ein Segen. Amerika vermisst heute die Dankbarkeit dafür, und in der Tat kann kein Initiator, aber auch kein überzeugter Absolvent der „reeducation“ verstehen, wie man einem Saddam Hussein gegenüber „appeasement“ betreiben kann, wie dies in Europa stellenweise der Fall ist. Dass man einen Diktator wie ihn unter Umständen militärisch beseitigen und demokratische Verhältnisse erzwingen müsse, war ein Grundmotiv des amerikanischen Idealismus und Internationalismus, der nun, durch den Schock von Nine Eleven, wiederbelebt worden ist. Insofern ist Saddam Hussein Adolf Hitler, und die Idee des gerechten Krieges, die den Kampf gegen Nazideutschland animiert (und auch eine „Amerikanisierung des Holocaust“ erlaubt) hat, aktualisiert sich nun im Krieg gegen „Schurken-Staaten“ und die „Achse des Bösen“ in den 1990er Jahren.

Genau diese moralische und religiöse Fundierung irritiert die europäischen Beobachter und Akteure mehr als vieles andere an der US-Politik. Unsere moralischen und missionarischen Antriebe sind entweder abgestorben oder haben sich auf andere Gegenstände verlagert: Im europäischen Pazifismus und Ökologismus sind ähnlich apokalyptische Weltanschauungen erkennbar, auch sie werden bisweilen mit missionarischer Energie propagiert, und im Blick auf den mangelnden Klimaschutz und den verschwenderischen Energieverbrauch gelten die Vereinigten Staaten vielen Europäern nicht nur als kritikwürdig, sondern, pardon, als evil empire.

Ähnlich fundamental ist die Ablehnung des Dollar-Imperialismus, und dieser Antikapitalismus verweist auf ein anderes Konfliktfeld, auf welchem die US-Hegemonie nach 1945 am stärksten in Zweifel gezogen wurde: im Hinblick auf die Form der Marktwirtschaft und die Architektur des Welthandels- und Weltfinanzsystems. Man erinnert sich an den „kranken Mann am Potomac“ in den 1970er und 1980er Jahren, als Dollarschwäche, die Erosion des Systems von Bretton Woods und chronische Handels- und Zahlungsbilanzdefizite von amerikanischer Seite nur noch über eine Externalisierung der Kosten auszugleichen waren. Auch hier geht der Blick noch einmal in die 1930er und 1940er Jahre zurück: Die Wiedereinordnung der besiegten faschistischen Achsenmächte in die Weltwirtschaft bildete die selbstverständliche Grundlage westdeutschen Wohlstands, darunter der Rohölimporte, denen man in Deutschland erstaunlich wenig Bedeutung beimisst. Freihandel und Exportorientierung bildeten das stärkste Fundament der Verwestlichung, sie erweisen sich nun aber als ihre Achillesferse, da die Legitimation der kapitalistischen Prosperität nicht mehr aus der selbstevidenten Überlegenheit in der „Systemkonkurrenz“ abfällt, sondern aus sich heraus beschafft werden muss und im so genannten „shareholder value“ eine nicht eben strahlende Gestalt gefunden hat.

Eben dieser Legitimationszweifel bildete den Kern der von Bundeskanzler Gerhard Schröder verwendeten Formel vom „deutschen Weg“, an deren Zweideutigkeit berechtigte Kritik geübt worden ist.[4] Gemeint sein kann damit nicht der deutsch-nationale Sonderweg, auch kein Rückfall in den National-Neutralismus der Schumacher-SPD, sondern nicht weniger als die Selbstbehauptung des europäischen Wohlfahrtsstaates. Seit Maggie Thatcher und Ronald Reagan ist dieser nicht selten in die Nähe des Staatssozialismus gerückt worden, seit 1990 dient er als Popanz neoliberaler Ideologen. Nicht mehr Sozialismus oder Kapitalismus, wohl aber die Ausgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsweise ist ein Spannungsthema der transatlantischen Beziehungen und von handfesten handelspolitischen Zwistigkeiten begleitet, die sich auch nach Meinung amerikanischer Beobachter zu einem innerwestlichen „clash“ ausweiten könnten (Kupchan 2002, Leggewie 2000). Krisen im deutsch-amerikanischen Verhältnis nach 1948/49 sind schon oft als Handels- und Währungskonflikte in Erscheinung getreten; nun erwächst ein grundsätzlicher Dissens aus der Art und Weise, wie die USA gegen die notwendige Transnationalisierung der Entscheidungsgremien agieren bzw. sie nur für egoistische Zielsetzungen manipulieren.

Nach dem elften September folgte der Charaktertest im deutsch-amerikanischen Verhältnis. Bundeskanzler Schröder bekundete glaubhaft „uneingeschränkte Solidarität“ – und zwar im Kampf gegen den Terror, nie mit anderen geopolitischen Zielen und auch nicht damit, dass das am schwersten attackierte Land die alleinige Definitionsmacht darüber erhält, was Terror ist und wie man ihm beikommen kann. Im Bundestagswahlkampf 2002 distanzierte sich die Bundesregierung deutlich von der sich abzeichnenden Irak-Intervention, und es gab Verstimmungen eines Grades, wie sie seit langem nicht mehr vorgekommen waren. „Ich werde meine Hand nicht dafür heben, dass auch nur ein einziger deutscher Soldat in einen Bodenkrieg gegen Saddam Hussein zieht“, erklärte (ungefragt) Peter Struck als neuer Verteidigungsminister (Spiegel 37/2002); aber auch der Kanzlerkandidat der Union, Edmund Stoiber, erging sich in (rasch dementierten) Andeutungen, man könne die Fuchs-Spürpanzer aus Kuwait abziehen. Inhaltlich folgte die Opposition damit der Schröder-Linie; sie übte eher Stilkritik und monierte (zu Recht) fehlende Abstimmung mit den europäischen Verbündeten. Sogar die Kündigung der Stationierungsverträge und der Verweigerung von Überflug- und Landerechten war im Gespräch, und daran mag man erkennen, wie ernst die Meinungsverschiedenheiten geworden sind. Der US-Botschafter, der sich in ungewöhnlicher scharfer Form geäußert hatte, wurde ins Auswärtige Amt zitiert und (noch ein Vergleich) vom Interimsvorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Ludwig Stiegler mit Pjotr Abrassimow gleichgesetzt – dem einstigen Statthalter der Sowjetunion in Ost-Berlin.

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Die Auseinandersetzung um den Kurs der ökonomischen Globalisierung wird ganz entscheidend sein.
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Man könnte solche rhetorischen Auswüchse „abhaken“, hätten sie einzig und allein dem Ziel gedient, im Wahlkampf einen Themenwechsel herbeizuführen und der pazifistisch orientierten PDS Stimmen abzunehmen. Doch auch nach dem 22. September 2002 lehnt die deutsche Bevölkerung die amerikanische Kriegsvorbereitung überwiegend ab. Deutscher Eigensinn wird in Washington weniger toleriert als französischer, englischer oder auch spanischer, und sie wird auch leichter als Anti-Amerikanismus gebrandmarkt, der die deutsche Rechte wie die deutsche Linke in der Tat beseelt hat und auch heute noch virulent ist. Es gibt solchen Antiamerikanismus, der „die Amerikaner“ für das verdammt, was sie sind, aber er ist nicht zu verwechseln mit einer politischen Kritik an dem, was die amerikanische Regierung tut, also an konkreten sicherheitspolitischen Maßnahmen und einem Grand Design, das den europäischen Interessen eindeutig zuwiderläuft. Man muss sich mit dem wohlfeilen Vorwurf des Antiamerikanismus nicht lange beschäftigen, kann man doch stets wortgleiche (und oft noch erheblich galligere) Quellen aus den USA selbst zitieren. Am strikten Unilateralismus hat fast die gesamte alte Bush-Mannschaft Kritik geübt: Scowcroft, Baker, Eagleburger, auch General Zinni, der ehemalige Nahost-Sonderbotschafter mahnten zur Zurückhaltung.

So darf eine nüchterne Risiko-Analyse nicht verboten sein: Welche Opfer kostet ein Feldzug gegen den Irak? Welche Kettenreaktion löst eine solche Militäraktion eventuell aus, was die Stabilität der arabischen Nachbarländer, die Entwicklung der Ölpreise und die Sicherheit der Energieversorgung betrifft? Welche mittel- und langfristigen Folgen und Risiken ergeben sich für die Region - muss der Irak anhaltend besetzt bleiben (und von wem?), welche Kollateralschäden ergeben sich im Nahost-Konflikt und für die Befriedung und den Wiederaufbau Afghanistans? Wird eine Militäraktion den islamistischen Terror noch anfachen und seiner effektiven Bekämpfung schaden? Andererseits ist natürlich immer zu fragen, welche Folgen es haben könnte, einen Saddam Hussein einfach gewähren zu lassen, worauf Kritiker Amerikas oft nur unzureichende Antworten haben. Aber auch hier können Walter Laqueur (ZEIT 18.10.2002) oder auch Christopher Hitchins (FAZ 20.10.2002)[5] als unabhängige amerikanische Quelle zitiert werden, die – im Unterschied zu deutschen Kritikern der US-Politik – in hiesigen Zeitungen stets ein Forum bekommen.

Deshalb muss man noch einmal die Position der rot-grünen Bundesregierung erläutern, die mehrfach erklärt hat, sich auf keinen Fall an einer militärischen Intervention gegen Bagdad beteiligen zu wollen, auch wenn diese unter einem UN-Mandat erfolgen sollte. Auch wenn die Bundesrepublik nicht um militärischen Beistand gebeten worden und dieser im Zweifel auch völlig verzichtbar ist, kann man darin, auch im Verhältnis zu anderen Verbündeten der USA, die schärfstmögliche Distanzierung erkennen, die wie gesagt nicht nur wahltaktisch begründet war, sondern einen klaren Dissens erkennen lässt. Die Bundesrepublik setzt sich dafür ein, dass die UN-Waffenkontrolleure mit erweitertem Mandat und besser ausgerüstet in den Irak zurückkehren, damit die Produktion von Massenvernichtungswaffen dort gestoppt und dauerhaft verhindert wird. Sie ist jedoch nicht bereit, dazu einen militärischen Präventivschlag zu leisten und das Mittel des Regimesturzes einzusetzen. Die deutschen Prioritäten sind andere: die Identifizierung und Bekämpfung des von El-Keida und anderen Netzwerken ausgehenden Terrors, der Wiederaufbau Afghanistans und die Sicherung regionaler Stabilität in Zentralasien, wobei geo-ökonomische Interessen, etwa an den dortigen Erdölressourcen, nachrangig eingestuft werden.

Der Dissens betrifft nicht allein die Ziele, sondern auch und vor allem die Mittel der Politik: Deutschland möchte das geltende Völkerrecht gewahrt und nicht durch einen in der Charta der Vereinten Nationen ausdrücklich untersagten Präventivschlag zerstört sehen. Deutschland, der einstige Unrechts- und Machtstaat (worauf man in den USA fast täglich hingewiesen wird), möchte nicht, dass Macht systematisch vor Recht geht, und dies womöglich zum Gesetz des Handelns in der internationalen Politik wird. Deutschland befürchtet eine unkontrollierbare Kettenreaktion: Mit welchem Argument will man Indien an einem ähnlichen Schlag gegen Pakistan und Russland an einer analogen Aktion im Kaukasus hindern? Man kann auch nicht immer zweierlei Maß anlegen: Wer gegen den Irak geht, müsste eigentlich auch gegen Nord-Korea vorgehen – und wieso dann nicht gegen China? Und wer stattdessen mit China Handel treibt, muss andere auch mit dem Iran oder sogar Libyen handeln lassen. Die amerikanische Politik, vor allem durch den mittlerweile aus dem Senat ausgeschiedenen Jesse Helms formuliert, war hier in extremer Weise selektiv, und es ist an der Zeit, solchen Pressionen nicht mehr nachzugeben. Saudi-Arabien ist ein, wenn nicht der ideologische und finanzielle Hauptsponsor des radikal-islamistischen Terrors, den man gewähren lässt, weil an ihm die geoökonomische Gesamtarchitektur des Mittleren Ostens hängt und die USA dort über ähnlich wichtige Militärbasen verfügt wie in Deutschland.

Deutschland und viele europäische Nationen sind nicht davon überzeugt, dass ein Schlag gegen Saddam Hussein effektiv und hilfreich sein wird im Kampf gegen den Terrorismus. Es fehlen weiterhin die Belege für enge Beziehungen zwischen Bagdad und den Urhebern des elften Septembers, und solche sind auch in den amerikanischen Begründungen immer stärker gegenüber anderen Zielsetzungen zurückgetreten, namentlich der Beseitigung eines totalitären Regimes, das sein Volk unterdrückt und seine Nachbarn bedroht. Auf keinen Fall darf der Eindruck entstehen, dass europäische Mächte einem solchen Vorgehen indifferent oder beschwichtigend gegenübersteht. Aber ist es zu erwägen, ob ein Angriff auf den Irak die Allianz gegen den islamistischen Terror erschüttert und eine Solidarisierung der arabisch-islamischen Welt eintritt, aus der weit verbreiteten, in den elektronischen Medien geschürten Wahrnehmung, die arabische Welt in tot sei unschuldiges Opfer eines Angriffs durch den Westen geworden, woraufhin den Terror-Netzwerken „Märtyrer“ und Mittel zuströmen würden. Die Bundesrepublik ist, mit anderen Worten, gegen einen Präventivschlag, weil dieser die Bekämpfung des Terrorismus zurückwerfen und die regionale Stabilität gefährden könnte.

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Zusammenfassend kann man sagen, dass sich die deutsche Regierung
weder einer pazifistischen noch einer Appeasement-Politik verschrieben,
vielmehr eine rationale Interessenabwägung betrieben und andere
Prioritäten gesetzt hat als Washington.
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Sie artikuliert damit einen inhaltlichen Dissens, der durch ein institutionelles Argument unterstützt wird: dass sich ein amerikanischer Alleingang für die internationalen Beziehungen gegenwärtig und in Zukunft ungünstig auswirken kann und die Welt damit eben nicht sicherer wird für Frieden, Freihandel und Demokratie. Damit artikuliert Deutschland ein vitales Interesse an der Aufrechterhaltung der Vereinten Nationen und der NATO, die in den USA viele rechtskonservative Kräfte als Relikte des Kalten Krieges verabschieden möchten (Czempiel 2002). Ein anderer, nicht minder bedeutsamer Kritikaspekt betrifft die Form der zwischenstaatlichen Kooperation, die in transnationalen Regimen nicht gerade zweitrangig ist. Zu Recht hat der deutsche Bundeskanzler betont, dass viele Zumutungen Washingtons auf „Unterordnung und nicht Freundschaft“ hinauslaufen und erklärt: „Konsultation kann nicht heißen, dass ich zwei Stunden vorher einen Anruf bekomme und gesagt kriege: ‚Wir gehen rein‘“. Auf den Punkt gebracht: Die USA sind „nicht unser Vormund“, und es ist erfreulich, dass die Bundesregierung ihre (vielleicht vergangenheitsbedingten) Komplexe ablegt und besonders der Außenminister nicht mehr einem kompensatorischen Anti-Antiamerikanismus frönt.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die deutsche Regierung weder einer pazifistischen noch einer Appeasement-Politik verschrieben, vielmehr eine rationale Interessenabwägung betrieben und andere Prioritäten gesetzt hat als Washington. Man kann nur spekulieren, ob sich die vorsichtig zurückhaltende Linie der deutschen Außenpolitik sogar durchgesetzt hat, da die Vereinigten Staaten bei der Suche nach einem Kompromiss im UN-Sicherheitsrat etwas zurückgerudert sind und ihre Ziele im Hinblick auf einen Regimewechsel im Irak abgemildert haben. Obwohl dies deutschen Intentionen entsprach, sind eben daran die Schwachpunkte der deutschen Position sichtbar geworden. Es gab nämlich keine gemeinsame europäische Position, und es ist trotz der engen deutsch-französischen Beziehungen nicht gelungen, die deutsche Linie als eine europäische zu definieren. Tony Blair, der es mit einer nicht unerheblichen Opposition in der Labour Party und in der britischen Öffentlichkeit zu tun hatte (was zeigt, dass die deutschen Bedenkenträger nicht allein standen), verfolgte das Kalkül: Will man Einfluss auf Amerika behalten, muss man loyal sein und die Zustimmung der US-Regierung behalten. Diese Mischung aus britischer Festigkeit und französischem Eigensinn hat eine stärkere Mandatierung der Irak-Politik durch die UN und ein zweistufiges Vorgehen erzwungen - erst Waffeninspektoren, dann ein konditionierter Militärschlag. Amerika bekommt keinen Blankoscheck, und Le Monde eine wie immer selbstbewusste Schlagzeile erlaubt: „Chirac fait reculer Bush“ (19.10.2002)

 

Der nackte Imperator: Liefert Amerika globale Sicherheit?

Die eigene Allianz im Griff zu behalten, ist nur die eine Seite hegemonialer oder imperialer Macht; die andere, eng damit zusammenhängend, ist, ob der Hegemon gemeinsame Feinde wirksam abzuschrecken vermag. Um dies unter Beweis zu stellen, bauen die Vereinigten Staaten derzeit ein gigantisches Kriegstheater auf, aber nachdem die Anschläge vom elften September ihre Verwundbarkeit auf extreme Weise demonstriert haben, ist auch ein gutes Jahr später die Welt vor dem Terror leider nicht sicherer geworden. Hier zeigt sich eine strategische Differenz zwischen Europa und Amerika: Die amerikanische Abschreckung richtet sich gegen so genannte Schurken-Staaten, aber der Feind steht längst in der Zitadelle, immer noch unsichtbar und offensichtlich zu allem entschlossen. Der Terror hat sich jeder staatlichen Form entkleidet und er dringt nun, wie ein Virus, durch alle Filter der Sicherheits- und Überwachungssysteme, deren demonstrative Präsenz seine Wirkung noch steigert. Auch in den USA mehren sich die kritischen Stimmen, die davor warnen, zur Abwehr der Angriffe auf die Freiheit der Bürger der USA deren bürgerliche Freiheiten in einem Maße zu beschädigen, das ihrer Abschaffung gleichkommt und damit ungewollt die Absichten der Terroristen unterstützt.

Wichtiger noch ist die „Inversion des Terrors“, die man unmittelbar nach dem Anschlag auf World Trade Center und Pentagon in Form der bis heute nicht geklärten Anthrax-Anschläge beobachten konnte. Ein Jahr später hat ein Heckenschütze sein Unwesen getrieben und die Hauptstadt der westlichen Führungsmacht in eine Art halbseitige Lähmung versetzt. Man hat spekuliert, beide Angriffe seien durch El-Keida verübt oder veranlasst worden; dafür gibt es keine Bestätigung, aber die individuellen Anschläge treiben weiter, was schon vor Nine Eleven begonnen hatte. durchschnittliche Amerikaner zu töten, um andere durchschnittliche Amerikaner in Angst und Schrecken zu versetzen und damit Amerikas „spirit“ zu brechen, seinen Optimismus und seine Courage. Auch wenn die Urheber der Briefbomben und der Geschosse aus dem Hinterhalt Einzeltäter und Psychopathen sind, der innere Zusammenhang bleibt bestehen und damit die von El-Keida erwünschte allgemeine Verunsicherung. Auch separate Einzelne, die amerikanische Politiker, Beamte und Bürger bedrohen, betätigen sich wie freie Mitarbeiter auf einem vom viralen Terror bereiteten Boden, und jeder sonstige Amokläufer und „serial killer“ tut ein übriges.

Ob die Neuen Kriege von den USA zu führen und zu gewinnen sind, ist fraglich geblieben. Nachdem die amerikanischen Geheimdienste vor Nine eleven konkrete Warnungen nicht ernst genommen hatten, konnte auch ein Jahr danach CIA-Chef George Tenet dem Kongreß nur berichten, dass sich erstens das Bedrohungsumfeld nicht verändert und damit das Risiko weiterer Terroranschläge in den USA nicht verringert habe, solche vielmehr bevorstünden; dass zweitens trotz einer erheblichen Aufstockung von Mitteln und Personal die Homeland Security nicht gerüstet sei, bevorstehende Angriffe zu verhindern; und dass drittens eine Ausdehnung des Aktionsfeldes auf Regionen und Ziele außerhalb der USA wahrscheinlich sei, wie sich in Djerba, Bali und auf den Philippinen bereits bewahrheitet hat. El-Keida ist nicht besiegt, nicht einmal schwer getroffen, und vermutlich ist der Terror nicht einmal ansatzweise verstanden, selbst wenn die bombastische Formel „War Against Terror“ anderes suggeriert.

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Die Brutstätte solcher Gefahren sind eher die „failed states“, wo
Staatlichkeit und Gewaltmonopol nicht mehr existieren, doch die amerikanische Politik richtet ihr Augenmerk auf autoritär
funktionierende Staaten wie den Irak, den Iran und Nord-Korea, die sie überdies moralisch-ideologisch überhöht.
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Europa wird in den USA vorgeworfen, den Terrorismus zu unterschätzen, aber es ist mit seiner Funktionsweise und Wirkungskraft durchaus vertraut. Alle europäischen Staaten und Japan haben ihre Erfahrungen gemacht – mit der ETA und der IRA, mit den Roten Brigaden und den Roten Armee Fraktionen, mit rechtsradikalen Einzeltätern und Pogromen, aber auch mit dem Staatsterror Muammar Ghaddafis, den Aktivitäten palästinensischer Gruppen und dem Terror der algerischen GIA, die Paris und andere französische Städte (unter anderem mit Flugzeug-Bomben) ins Visier genommen hatte. Nicht, dass Europa diese Gefahren immer entschlossen bekämpft und ihrer Herr geworden wäre; gleichwohl ist als Lehre zu ziehen, dass weniger massive Vergeltungsaktionen oder Präventivkriege gegen „Sponsoren-Staaten“ angebracht sind als gezielte Polizeiaktionen, für die man heute ein weltumspannendes, transparentes, die Zivilgesellschaften einbeziehendes Netzwerk von Spezialkommandos, Eingreiftruppen und Geheimdiensteinheiten benötigt. Genau darin sind keine sichtbaren Fortschritte erzielt worden. Die Vereinigten Staaten konzentrieren sich ganz auf die größt-mögliche Katastrophe, dass nämlich Terror-Netzwerke Massenvernichtungswaffen in die Hände bekommen; die Aufmerksamkeit richtet sich auf Staaten, nicht auf die „Gesellschaftswelt“, aus der die Attacken gekommen sind. Man könnte El-Keida durchaus als eine transnationale Nicht-Regierungs-Organisation kennzeichnen und den Terrorismus als eine Form des Krieges, die ebenso entgrenzt wie privatisiert ist. Die Brutstätte solcher Gefahren sind eher die „failed states“, wo Staatlichkeit und Gewaltmonopol nicht mehr existieren, doch die amerikanische Politik richtet ihr Augenmerk auf autoritär funktionierende Staaten wie den Irak, den Iran und Nord-Korea, die sie überdies moralisch-ideologisch überhöht, um der Bevölkerung ein ähnlich starkes Feindbild zeichnen zu können wie es seinerzeit Hitlerdeutschland und die Sowjetunion waren. Darin sehen auch amerikianische Kritiker (Lind 2002) den zentralen Denkfehler der pax americana: Selbst wenn die USA einen simultanen Vielfrontenkrieg gegen alle möglichen Staaten führen können, sind sie heute nicht besser als vor dem elften September auf eine neue Terrorattacken von unten eingestellt.

 

Erneuerung des transatlantischen Dialogs?

Anders als Robert Kagan es sieht, gibt es in den USA durchaus noch Fürsprecher einer multilateralen Einbindung in bester amerikanischer Tradition. Hier liegen wichtige Anknüpfungen für einen erneuerten transatlantischen Dialog und für eine echte transnationale Politik, die, wenn nicht die Bundesregierung, so doch transnationale Netzwerke jenseits der gouvernementalen Ebene führen können. Zu beachten ist dabei die amerikanische Friedensbewegung, die am 6. Oktober, zum Jahrestag der ersten Bombardements in Afghanistan, zu Zigtausenden im Central Park von New York und in vielen anderen Städten gegen den „Krieg nach außen und die Repression nach innen“ protestiert hat. (Dabei konnte man sogar Poster mit der Aufschrift sehen: „For once Germany did the right thing“.) Ihr Veto legten auch die Unterzeichner der Erklärung „Not in Our Name“ ein, und gegen die symbolische Übermacht der New Yorker Feuerwehrleute traten fünfzig „Peaceful Tomorrows“ an,  die Angehörige bei den Terroranschlägen verloren hatten und gleichwohl gegen einen Militärschlag gegen den Irak eingestellt sind. Von den üblichen Verdächtigen – der ätzenden Empire-Kritik eines Gore Vidal, der stets lesenswerten Nestbeschmutzung eines Kurt Vonnegut und Noam Chomskys Pamphleten – kann man hier vielleicht absehen, auch von Magazinen wie „The Nation“, bei dem freilich anzumerken ist, wie ernsthaft die amerikanische Linke ihre Differenzen ausdiskutiert. Selbst Stimmen wie von Michael Walzer oder Richard Ford kann man hier außer Acht lassen – nicht etwa, weil sie unwichtig wären, aber weil ihre Kritik im amerikanischen Mainstream ungehört verhallt und sie auch in der herkömmlichen „transatlantic community“ als Exzentriker verschrien sein dürften, wenn sie überhaupt bekannt sind. Das liegt vor allem an den elektronischen Medien, die auch 150.000 Menschen im Central Park keine Resonanz verleihen würden und auf ganzseitige Anzeigen in der liberalen Presse wenig geben.

Wo Widerstand spürbarer ist, beim akademischen Nachwuchs und auf dem Campus, sind regelrechte Wachhunde eingesetzt worden wie Campus Watch, die auf eine politische korrekte (und das heißt heute: super-patriotische) Behandlung des Islam und der arabischen Welt dringen.[6] Die höchst selektive, an Selbstzensur grenzende Berichterstattung paart sich mit einer Entpolitisierung der breiten Bevölkerung, die Norman Birnbaum im Blick auf das Desinteresse seiner Landleute gegenüber Vorgängen im Ausland drastisch umschreibt: „Wir bewohnen einen gewaltigen Kontinent, der die größte geistige Provinz ist“ (FAZ 20.9.2002) Gleichwohl ist die Unterstützung des Kriegskurses laut Umfragen erheblich abgebröckelt (Anfang Oktober sprachen sich lt. CNN/USA Today 53 Prozent für eine Invasion aus, und – wichtiger noch - nicht mehr als ein Drittel der Befragten wünschte, dass Amerika notfalls allein geht.[7]

So argumentierten auch römisch-katholische Bischöfe, und damit kommt man zur nächsten Gesprächsebene für einen erneuerten transatlantischen Dialog: zu den amerikanischen Eliten. Wenig Rückhalt gefunden haben alle Proteste und Vorbehalte in der öffentlichen und nicht-veröffentlichten Meinung bei der demokratischen Partei, die in die Patriotismusfalle gegangen ist und sich einen „Maulkorb“ umhängen ließ (so Barbra Streisand, eine ihrer wichtigsten Spendensammlerinnen), ohne dafür in den Zwischenwahlen im November 2002 belohnt worden zu sein. Im US-Kongress dominieren die Unilateralisten noch mehr, und der amerikanische Präsident, der sich im Wahlkampf persönlich für die Republikaner engagiert hatte, leitete aus dem Wahlergebnis ein plebiszitäres Mandat für seine Irak-Politik ab.

Von konservativen Think tanks in den Hintergrund gedrängt, aber immer noch rührig ist eine dritte Gesprächsebene, die liberalen Denkfabriken, die sich dem Hegemonismus der amerikanischen Rechten klar entgegenstellen (zusammenfassend Zakaria 2002, Lehmann 2002). Ihre Positionen decken sich in vielen Punkten mit denen europäischer Regierungen, Politikberater und Wissenschaftler und sollen deswegen viel stärker in die Wagschale des transatlantischen Dialogs geworfen werden. Joseph Nye Jr., Tony Judt, Michael Mandelbaum und George Ikenberry haben deutlich für die Mitarbeit in den transnationalen Regimen und Nicht-Regierungs-Organisationen plädiert und für den Gebrauch von soft power, die Amerika in der Vergangenheit – Deutschland ist das beste Beispiel – Einfluß, Glaubwürdigkeit und Reputation verschafft hat, mittlerweile aber längst von Deutschland, Schweden oder Kanada überholt worden ist.

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Eine Einmischung in amerikanische Angelegenheiten? An solche Unverschämtheiten wird man sich in Washington gewöhnen müssen - es gibt keine „inneren Angelegenheiten“ mehr.
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Das New Transatlantic Project von Ronald Asmus und Kenneth Pollack fordert deswegen zum Aufbau einer neuen, innerwestlichen Allianz auf, und Benjamin Barber zur Abfassung einer Declaration of Interdependence. Solche Appelle stellen sich gegen eine ganz unamerikanische Tradition, die mit dem von Kagan angesprochenen Rollentausch zu tun hat. Anders als die heutigen Europäer, vermögen die Vereinigten Staaten, auf Grundlage religiöser Deutungsmuster[8] einen Feind ihrer Freiheit zu identifizieren, den sie in Gestalt von Bin Laden oder Saddam Hussein auch zum des „Feind des ganzen Menschengeschlechts“ hypostasieren. Mit dieser Freund-Feind-Philosophie rücken sie einer in der Erfahrung religiöser Bürgerkriege verankerten Politischen Theologie näher, von der Europa gern verschont bliebe. Carl Schmitt schrieb 1933 über den totalen Staat, er lasse „in seinem Innern keinerlei staatsfeindliche, staatshemmende oder staatszerspaltende Kräfte aufkommen. Er denkt nicht daran, die neuen Machtmittel seinen eigenen Feinden und Zerstörern zu überliefern und seine Macht unter irgendwelchen Stichworten, Liberalismus, Rechtsstaat oder wie man es nennen will, untergraben zu lassen. Ein solcher Staat kann Freund und Feind unterscheiden.“[9]

Es ist eine seltsame Ironie der Geschichte, dass das immer schon transnationale und imperiale Amerika, das ein solcher Staat niemals sein wollte und sich bis heute als „Gesellschaft ohne Staat“ geriert, beim Übergang in die reale Weltgesellschaft und unter dem Druck der verinnerlichten Bedrohung nun offenbar in eine Art nachholende Staatsbildung eingetreten ist. Nun hat Amerika äußere und innere Feinde zuhauf, während dem säkularisierten und supranationalen Europa nicht viel mehr einfällt als ratlose Neutralität zu allen Gotteskriegern dieser Welt, es im Ernstfall aber wieder die amerikanische Supermacht um Schutz und Beistand anrufen müsste.

 

Globalisierung statt Hegemonie

Eine „Globalisierung“, die diesen Namen verdient, erfordert das Ende des American „exceptionalism“ und damit einer räumlich gebundenen, von nur einer Kraftquelle ausgehenden Mission. Sie erträgt keinen arroganten Hegemon, Amerika muss sich nolens volens selbst globalisieren und die viel ironisierte internationale Gemeinschaft anerkennen. Viel Druck kann Europa diesbezüglich nicht ausüben. Sein Dilemma besteht darin, dass die EU mit ihrer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht vorangekommen ist und derzeit fast nur zwei Sorten von Selbstmord zur Auswahl hat. Sie kann sich entscheiden, an der Seite, aber nicht einmal mehr als Juniorpartner Amerikas die abenteuerliche Fahrt ins Ungewisse mitzumachen, oder aber, auch im Kontrapunkt zu dieser imperialen Macht, massiv aufrüsten – und damit endgültig die Axt an den europäischen Wohlfahrtsstaat legen, der die kollektive Identität der Alten Welt nachhaltig bestimmt hat. Die Bundeswehr etwa kann man nur aufrüsten, wenn man andere Aufgaben – soziale Sicherung  und Bildung, Familie und Infrastruktur – weitgehend beiseite schiebt. Amerika ist kein Sozialstaat und kann sich Aufrüstung erlauben, Europa kann sich nicht einmal Selbstverteidigung leisten, wenn es eine Wohlfahrtsregion bleiben und jenseits von Oder und Donau werden will. Die Auseinandersetzung um den Kurs der ökonomischen Globalisierung wird ganz entscheidend sein (Kupchan 2002), und Europa und der Rest der Welt brauchen sich von amerikanischen Politikern und Managern wahrlich keine Lektionen mehr geben zu lassen.

Dem Krieg gegen den Terror würde man im übrigen hoffnungsvoller entgegensehen, wäre das anvisierte Vorgehen gegen Saddam Hussein und (nach amerikanischer Zählung) weitere 60 Terror-Sponsoren auch nur annähernd von einer Idee beseelt, was danach kommen soll. Anders als im Kampf gegen Hitler haben die Vereinigten Staaten keine Munition für einen Krieg der Ideen, es gibt keine Vision für eine neue Weltordnung außer der , dass alles schon erledigt und vorhanden ist und nur der amerikanische Lebensstil verteidigt werden muss. Es formuliert keine Alternative zum religiösen Fanatismus und zu den direkten oder indirekten Ursachen des Terrors und lässt nicht einmal einen Hauch von Selbstkritik anklingen. Man kann nicht pauschal behaupten, das amerikanische Volk sei dem abgeneigt; die Kritik richtet sich an eine Regierung, die klar auf eine Politik der Ungleichheit gesetzt hat (Phillips 2002) erheblich weiter rechts steht als jene europäische Regierungen, vor denen unter anderem die US-Regierung gewarnt hat, etwa das Österreich unter Nebenkanzler Jörg Haider. Eine Einmischung in amerikanische Angelegenheiten? An solche Unverschämtheiten wird man sich in Washington gewöhnen müssen - es gibt keine „inneren Angelegenheiten“ mehr.

 

Literatur

Asmus, Ronald D./ Pollack, Kenneth M. (2002) The New Atlantic Project, in: Policy Review Oktober/November 2002, Online-Version

Brandstätter, Karl J. (1989) Allianz des Mißtrauens. Sicherheitspolitik und deutsch-amerikanische Beziehungen in der Nachkriegszeit, Köln

Brooks, Stephen G./ William C: American Primacy in Perspective, in: Foreign Affairs Juli/August 2002

Czempiel, Ernst-Otto (2002) Weltpolitik im Umbruch. Die Pax Americana, der Terrorismus und die Zukunft der Internationalen Beziehungen, München

Dehio, Ludwig (1948/1996) Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Krefeld/Zürich

Dohnanyi, Klaus von (1999) Im Joch des Profits. Eine deutsche Antwort auf die Globalisierung, Stuttgart

Haass, Richard (1997) The Reluctant Sheriff. The United States after the Cold war, New York

Ikenberry, George (2001) After Victory. Institutions, strategic restraint, and the rebuilding of order after major wars, Princeton

Ders. (2002) America’s Imperial Ambition, in: Foreign Affairs September/Oktober 2002, S. 44-60

Joffe, Josef (1997) How America Does is, in: Foreign Affairs, September/ Oktober 1997, dt. gekürzt Transit 14, S. 63-72

Judt, Tony (2002) Its Own Worst Enemy, in: New York Review of Books, 15.8.2002

Junker, Detlef u.a. (Hrsg.) (2001) Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch, München

Kennedy, Paul (2000) Aufstieg und Fall der großen Mächte, Frankfurt am Main

Keohane, Robert O. (1990) After Hegemony. Cooperation and Discord in the World Political Economy, Princeton

Leggewie, Claus (2000) Amerikas Welt. Die USA in unseren Köpfen, Hamburg

Lehmann, Nicolas (2002)  in: The New Yorker

Mandelbaum, Michael (2002) The Inadequacy of American Power, in Foreign Affairs September/ Oktober, Online Version

Münkler, Herfried (2002), Die neuen Kriege, Reinbek

Nye, Joseph S. (2002) The Paradox of American Power. Why the world’s only superpower can’t go it alone, New York

Robel, Stefan (2001) Hegemonie in den internationalen Beziehungen. Lehren aus dem Scheitern der „Theorie der hegemonialen Stabilität“, Dresden

Schmitt, Carl (1940) „Totaler Staat“ in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles, S.186, Hamburg

Stürmer, Michael (2001) Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte, Berlin-München

Triepel, Heinrich (1943) Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart

Wallerstein, Immanuel (2002)

Zakaria, Fareed (2002) Our Way. The trouble with being the world’s only superpower, in: The New Yorker, 14.10. 2002


*

[1] Raymond Aron charakterisierte den Schwebezustand mit den Worten „Friede unmöglich, Krieg unwahrscheinlich“, vgl. Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. Frankfurt/Main 1986

[2] Robert Kagan, Power and Weakness, in Policy Review 113/2002, zit. nach Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 10/2002, dort auch eine Debatte in den Heften 11 und 12/2002

[3] einen guten Überblick gibt das Dossier der Zeitschrift The Economist unter dem Titel Present at the Creation, Heft 24-30. August 2002, S. 20-22

[4] so bereits Klaus von Dohnanyi, Stuttgart 1999

[5] Der Kritiker des Vietnamkrieges (und Henry Kissingers) nimmt eine diktaturkritische Position ein und bezweifelt, ob man sich als Linker indirekt für eine Baath-Partei stark machen könne, die Gewerkschaften und Linksopposition sowie die kurdische Minderheit verfolgt hat. Unter den Initiatoren des Aufrufs Not In Our Name (s.u.) sieht er zweifelhafte Figuren eines „emotionslosen, neutralistischen, einfältigen Isolationismus“ am Werk (FAZ 20.10.2002)

[6] Petra Steinberger, Die Aufpasser, SZ 2./3.10. 2002

[7] Pew Umfrage, zit. nach SZ 2.3./10/2002

[8] am deutlichsten in der mit Bibelzitaten gespickten Rede John Ashcrofts vor der National Religious Broadcasters Convention in Nashville/Tennessee, 19.2.2002

[9] Carl Schmitt, Hamburg 1940, S. 186

 

 

Claus Leggewie *1950;

Professor für Politikwissenschaft, Universität Gießen;
claus.leggewie@zmi.uni-giessen.de

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