100 Jahre Internationale Arbeitsorganisation: Katerstimmung nach dem Geburtstag

Die ILO-Jahrhunderterklärung zeigt: Arbeiter*innenrechte werden weltweit abgewickelt, multilaterale Organisationen straucheln.

Bild: Demonstration des IGB untet dem Motto "Eine ILO für das 21. Jahrhundert: Zeit für einen neuen Sozialvertrag" von Jannis Grimm/FES

Bild: Raum XVII, der vorübergehende Wohnsitz des ILO-Jahrhunderkomitees von Jannis Grimm/FES

Am Nachmittag des 20. Juni 2019 kommt endlich der Durchbruch bei der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) in Genf. Auf den Gesichtern der Teilnehmer*innen des Komitees zur Ausarbeitung einer Jahrhunderterklärung zur Zukunft der Arbeit weicht die Anspannung der Erleichterung, als der Hammer des Vorsitzende ein letztes Mal fällt: Regierungen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmer*innen haben sich geeinigt. Habemus declaratio!

Nicht nur den Delegierten des Jahrhundertkomitees, sondern auch dessen Vorsitzendem – ein libanesischer Karrierediplomat mit Erfahrung in der Aushandlung tripartiter Abkommen – sind die zurückliegenden Strapazen deutlich anzusehen: Zwei Wochen hat das sogenannten „Committee of the Whole“ in Genf unter erschwerten Arbeitsbedingungen nahezu ohne Pause getagt – anfangs von 9:00 morgens bis 22:00 Uhr, gegen Ende oft bis weit nach Mitternacht.

Als temporäres Domizil für ca. 400 der mehr als 6000 IAK-Delegierten diente dabei der von den Vereinigten Arabischen Emiraten gestiftete Raum XVII, der mit seinem sandfarbenen Teppichboden und weißen Kamelledersesseln, den festinstallierten Monitoren in den Tischen und der LCD-Tageshimmeldecke ein wenig an Science Fiction-Produktionen der 1980er Jahre erinnerte. Die Sitzung am Donnerstagnachmittag ist vorerst die letzte in dem fensterlosen Sitzungssaal.

Eine Jahrhunderterklärung ohne Ambition

Über den Dächern des Genfer Völkerbundpalasts steigt zwar kein weißer Rauch auf. Dennoch enthält die Jahrhunderterklärung vor allem eines: Viel heiße Luft. Statt einer klaren Vision für die Regulierung von Arbeitsverhältnissen im nächsten Jahrhundert dominieren ambivalente und luftige Formulierungen. Oftmals fallen sie weit hinter bereits bestehende Sprechregelungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zurück.

Eine ambitionierte Agenda zum Umgang mit den allgegenwärtigen Veränderungen in der Arbeitswelt, mit Digitalisierung, mit der Zunahme von informeller und Plattformarbeit sucht man in dem Papier vergebens. Schon richtig: hier und dort wurden bedeutsame Schlagworte nach dem Gießkannenprinzip über die Erklärung verteilt: social justice, decent work, environment, democracy, inequality, etc. Insgesamt liest sich die Jahrhunderterklärung aber wie ein thematisches Sammelsurium vieler im Kern nicht falscher Elemente ohne klare Stoßrichtung – und ohne rechtliche Bindung. Ein Vorschlag zur Regulierung von Plattformarbeit oder zum Umgang mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Zukunft der Arbeit? Der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit? Klare Bekenntnisse zu einer „Universal Labour Garantie“ – wie von der Globalen Kommission zur Zukunft der Arbeit in ihrem hoch gelobten und deutlich ambitionierteren Bericht gefordert, oder zu „Occupational Safety and Health“ – dem grundlegendem Recht auf gesundheitlichen Schutz und Sicherheit am Arbeitsplatz? Fehlanzeige.

Tiefe Gräben zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften

Dieses durchwachsene Ergebnis ist einerseits auf eine unerbittlich kompromisslose Haltung der Arbeitgeberbank zurückzuführen, dem die Gewerkschaftsvertreter*innen zu wenig entgegenzusetzen vermochten. Deren Verhandlungsgewicht ist im vergangenen Jahrzehnt stetig gesunken, was sich auch an einem sinkenden Drohpotenzial in den Verhandlungen bemerkbar macht. Gleichzeitig befeuerten der Aufstieg neuer, transnational agierender Player wie Amazon das Selbstbewusstsein der Arbeitgeberverbände – genau wie die zunehmende Flexibilisierung, Diversifizierung und Deterritorialisierung von Beschäftigungsverhältnissen und die damit einhergehende Aufweichung von Arbeitnehmer*innenschutz. Entsprechend vermittelte die Arbeitgeberseite glaubhaft, dass sie die Jahrhunderterklärung wenn nötig scheitern lassen würde, sollte selbige die veränderte Machtbalance nicht reflektieren.

So gelang es den Arbeitgeber*innen letztlich, der Erklärung einen deutlichen kapitalistischen Stempel aufzudrücken. Das im Jahr 1944 formulierte und mantraartig vorgetragene Leitmotiv der ILO „Arbeit ist keine Ware“ fand zwar auch in die Deklaration Einzug. Aber letztlich wird es durch permanente Referenzen zu den Bedürfnissen der Märkte und eine ökonomisierte Sprache in nahezu allen Abschnitten des Dokuments konterkariert.

Erschwerte Arbeitsbedingungen

Der Verabschiedung einer visionären Erklärung standen indes nicht nur ideologische Grabenkämpfe im Weg, sondern auch die - mehrfach modifizierten - Arbeitsmethoden des Komitees selbst. Etwa wurde die Jahrhunderterklärung Paragraph für Paragraph verabschiedet. Nur so war es überhaupt möglich, die hunderten Änderungsanträge aus den Reihen der Regierungs-, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter*innen zu verhandeln. Doch geriet dadurch das große Ganze aus dem Blick.

Auch der knappe Zeitrahmen von zwei Wochen war für die Ausarbeitung eines Jahrhundertdokuments kaum angemessen: Gegen Ende der ersten Arbeitswoche war klar, dass sich die Diskussionen bei gleichbleibender Arbeitsgeschwindigkeit mehrere Wochen hinziehen würden. Zur Veranschaulichung: die Debatte drehte sich vor allem in den ersten Tagen teils stundenlang um einzelne Formulierungen, etwa um einen Passus, der die Notwendigkeit zur „Wiederbelebung“, „Erneuerung“ oder „Revitalisierung“ der Internationalen Arbeitsorganisation unterstreichen sollte. Ästhetische Scheingefechte also, keine handfesten Inhalte. Gleichzeitig stand da der Termin zur feierlichen Präsentation der Erklärung durch ILO-Generalsekretär Guy Rider bereits fest – Scheitern somit keine Option.

Die besonders strittigen Absätze wurden daher kurzerhand in eine Redaktionsgruppe überstellt, die im kleineren Kreis bei den meisten Konfliktpunkten einen Kompromiss erzielen konnte. Ihre intransparente Zusammensetzung und Arbeitsweise schwächten aber die demokratische Legitimation eben jener Kompromisslösungen. Im übrigen Dokument blieb es größtenteils bei kosmetischen Änderungen an dem wenig ambitionierten Entwurf des ILO-Sekretariats. Aus dessen vager Sprache können nun alle beteiligten Parteien etwas herauslesen. Mehr als einen Minimalkonsens und eine Bejahung des ohnehin prekären Status Quo der ILO ist er aber nicht.

Die ILO vor der Existenzprobe

Die Jahrhunderterklärung ist damit ein Spiegel der gesamten Konferenz, die von einer zwiespältigen Stimmung geprägt war. Einerseits erinnerten dutzende hochrangige Redner*innen im eindrucksvollen Plenarsaal an den Gründungskontext und die historischen Meilensteine der ILO. Viele Laudator*innen mahnten die zentrale Rolle der Organisation bei der Gestaltung und Begleitung der technologischen Transformationen in der Arbeitswelt an. Echte Feierstimmung kam jedoch nicht auf. Schließlich ließen sich auch bei der IAK die veränderten politischen Rahmenbedingungen weltweit kaum leugnen, welche multilaterale Organisationen wie die ILO vor die Existenzprobe stellen.

Die internationale Arbeitsorganisation ist von den globalen Entwicklungen gleich doppelt betroffen: Einerseits leidet sie unter den Auswirkungen dessen, was Appadurai et al. kürzlich treffend als "große Regression" bezeichnet haben: dem globalen Wiederaufleben von Nationalismus und Populismus, dem Trend zu bilateralem Agieren abseits international bindender Regelwerke, und einer Aufweichung des normativen Wertekonsens hinter bestehenden multilateralen Konventionen.

In Genf machte sich dieser Trend insbesondere auf der Regierungsbank bemerkbar. Dort bildeten sich bisweilen bizarre Allianzen, etwa zwischen Brasilien, Zimbabwe und Ägypten, die ihr Festhalten an autoritären Führerfiguren eint und die sich aufgrund ihrer Beschränkung assoziativer Freiheiten auch im Normenanwendungsausschuss der ILO auf der Anklagebank wiederfanden. Das neue Gespann regressiver Kräfte agierte - bisweilen unterstützt durch die USA oder die Schweiz - verlässlich als Bremser.

Auf der anderen Seite sieht sich die Organisation auch massiven Angriffen der Arbeitgeberbank ausgesetzt, die sich vom ILO-Sekretariat übergangen und ausgegrenzt sieht. In seiner Antrittsrede warf der Arbeitgebersprecher Mthunzi Mdwaba dem Sekretariat gar eine Parteinahme gegen die Unternehmer*innen vor, die das fragile Gleichgewicht innerhalb der Organisation ins Wanken bringe. Diese Haltung war tonangebend für den Widerstand der Arbeitgeber-Delegierten gegen jede Stärkung der Organisation in ihren Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Tarifverhandlungen oder gewerkschaftliche Assoziationsfreiheit.

Diese beiden, sich derzeit überlappend und gegenseitig verstärkenden Trends machen ein Vorankommen innerhalb der tripartit organisierten ILO, in deren Komitees Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverteter*innen mit Nationalstaaten verhandeln, derzeit schwieriger denn je. Umso bezeichnender war es da, dass sich kaum einer der zahlreichen Staats- und Regierungschefs, die als Sprecher*innen geladen waren, durch Vorschläge für eine effektive Reform der Organisation hervortat. Macron verwies in seinem 50-minütigen Redemarathon zwar mit deutlichen Worten auf eine „Krise der Zivilisation“, blieb jedoch Antworten schuldig, wie die ILO dieser begegnen könnte. Letztlich waren Lösungen aber auch nicht gefragt.

Sicheren Applaus vom Plenum gab es vielmehr für passionierte Hommages und Rückblicke auf die Sternstunden der ILO, etwa für Cyril Ramaphosas Intervention, die daran erinnerte, wie die ILO den südafrikanischen Befreiungskampf unterstützte – untermalt von einer Videosequenz Nelson Mandelas bei der ILO Generalversammlung. Auch Kanzlerin Merkels klare Verurteilung von Kinderarbeit stieß auf Begeisterung. All dies sind wichtige Ergebnisse der Arbeit der ILO, hinter denen sich heute alle Mitglieder der Organisation kritiklos versammeln können – über diverse Regime-Typen hinweg. Wichtig und richtig, aber eben nichts Neues, nichts Zukunftsweisendes.

Ein Lichtblick: Die ILO-Konvention Nr. 190

Im Fazit war die IAK eine große Nostalgie Show. Der Großteil der Sprecher*innen bemühte sich so sehr um Konsens, dass es fast schon ironisch anmutete, als Merkels Bekenntnis zum Multilateralismus und Kompromissbereitschaft den ersten lang anhaltenden Applaus auf der Gewerkschaftsbank einfuhr. Das zeigte jedoch auch, wie sehr die ILO vor einer Zerreisprobe steht. Diese stellt das traditionelle Modell des Tripartismus ebenso auf den Prüfstand wie die multilaterale Institution selbst als Gremium, das Standards für die Arbeitswelt setzt.

Vor diesem Hintergrund ist es umso bedeutsamer, dass die Organisation zu ihrem Jubiläum wenigstens eine neue Konvention verabschieden konnte. Die hart umkämpfte Konvention Nr. 190 leistet nicht nur einen längst überfälligen Schritt zum Schutz von Arbeiter*innen vor sexualisierter Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz. Sie ist auch das Ergebnis langjähriger und unermüdlicher Lobbyarbeit von Gewerkschafter*innen innerhalb der ILO-Gremien – lange bevor #MeToo die Medienöffentlichkeit für das Thema sensibilisierte. Der Text der neuen Konvention, der im Gegensatz zur Jahrhunderterklärung deutlich konkreter gehalten ist, knüpft indes auch an diese jüngeren Debatten an. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass er erstmals eine weltweit gültige Definition von Gewalt und sexueller Belästigung liefert und diese nicht nur auf Übergriffe am Arbeitsplatz selbst reduziert, sondern auch auf häusliche Gewalt sowie Belästigung auf dem Arbeitsweg hinweist. Zwar könnte der Schutz von besonders gefährdeten Gruppen, insbesondere von LGBTI-Personen expliziter verankert sein, gleichwohl ist die Konvention ist ein historischer Erfolg für Gewerkschaften, Frauenrechtsorganisationen und die Konferenz gleichermaßen.

Letztlich ist sie aber auch für die Internationale Arbeitsorganisation als Institution in symbolischer Hinsicht bedeutsam. Sie belegt, dass die Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die jährlich Regierungs-, Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter*innen aus 187 Ländern zusammenbringt, als Standard-setzende Instanz in der Welt der Arbeit nach 100 Jahren immerhin noch arbeitsfähig ist.

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Die ILO-Jahrhunderterklärung zur Zukunft der Arbeit ist abrufbar unter: https://www.ilo.org/ilc/ILCSessions/108/reports/texts-adopted/WCMS_711674/lang--en/index.htm
Die ILO-Konvention 190 zur Eliminierung von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz ist abrufbar unter: https://www.ilo.org/ilc/ILCSessions/108/reports/texts-adopted/WCMS_711570/lang--en/index.htm
Die Empfehlungen der IAK zur Umsetzung der Konvention 190 sind abrufbar unter: https://www.ilo.org/ilc/ILCSessions/108/reports/texts-adopted/WCMS_711575/lang--en/index.htm

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Über den Autor:Jannis Grimm ist bei der FES Berlin zuständig für das Regionale Gewerkschaftsprojekt im Nahen/Mittleren Osten und Nordafrika sowie für das Globale Gewerkschaftsprojekt.


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