Frieden und Sicherheit

Ein feministischer Aktionsrahmen für unsere digitale Zukunft: Erkennen wir die Zeichen der Zeit?

Die Tech-Giganten sind dabei, alle Sektoren der Weltwirtschaft auf Dauer zu transformieren. Soziale Bewegungen müssen darauf reagieren. Dieser Beitrag skizziert eine feministische Perspektive auf die Digitalwirtschaft, die die Ungerechtigkeiten dieser Transformation adressiert – sowohl die bestehenden als auch die, die sich im Zuge der Pandemie noch verschärfen.

Während der COVID-19-Pandemie ist es für Millionen Männer und Frauen weltweit Alltag geworden, Beruf, Familie und Haushalt gleichzeitig managen zu müssen. Die Pandemie hat die Art und Weise, wie wir digitale Technologien in unseren Alltag integrieren, grundlegend verändert – und diese digitale Transformation wird mit dem Ende der Pandemie nicht vorbei sein.

Nach wie vor führt COVID-19 zu drastischen Veränderungen in der Weltwirtschaft und zu steigender Arbeitslosigkeit. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) warnte kürzlich, dass fast die Hälfte der lohnarbeitenden Bevölkerung weltweit ihre Lebensgrundlage verlieren könnte, da wiederholte Lockdowns zu einem dramatischen Rückgang der Zahl der bezahlten Arbeitsstunden geführt haben. Gering qualifizierte Arbeitnehmer_innen sind besonders betroffen – sowohl in den reicheren Ländern als auch in den Entwicklungsländern. Dabei sind Krisen nie geschlechterblind, und COVID-19 bildet da keine Ausnahme: Frauen verarmen schneller. Zum einen sind sie stärker in den am meisten betroffenen Wirtschaftssektoren vertreten; zum anderen arbeiten sie häufiger in Sektoren wie dem Gesundheitswesen und der Care-Wirtschaft, die die Auswirkungen der Pandemie am unmittelbarsten zu spüren bekommen. Die britische Hilfsorganisation Oxfam erwartet, dass 2021 zusätzliche 47 Millionen Frauen weltweit weniger als USD 1,90 pro Tag verdienen und damit in die extreme Armut fallen könnten.

Während die Frauen das Nachsehen haben, ist die Krise für die Technologiebranche eine hervorragende unternehmerische Chance – oder genauer gesagt: für die kleine Anzahl Tech-Giganten, die den Sektor dominieren. Technologiemilliardäre nutzen ihre Gewinne für private Trips ins Weltall, während sie ihre Arbeitnehmer_innen ausbeuten und an der gewerkschaftlichen Organisation hindern. Mit ihrer beherrschenden Marktposition und schier unendlichen Ressourcen sind sie bestens positioniert, um Profit aus der Krise zu schlagen.

Bei der digitalen Transformation geht es aber nicht nur um Technologie, sondern auch um Prozesse und Organisationen. Es geht um die Frage, wer die die neue Realität gestaltet. Große Technologieunternehmen kontrollieren die Software-Plattformen, die ihnen die Macht über Daten, Produktivität und Handel verleihen.

Eine feministische Perspektive auf die Digitalwirtschaft

Eine globale Gruppe Feministinnen hat diese neue Realität in dem Grundsatzpapier Der Deal unserer Träume: Ein feministischer Aktionsrahmen für die Digitalwirtschaft beschrieben. Darin skizzieren sie Möglichkeiten, die Digitalwirtschaft neu zu denken und ihr transformatives Potenzial auszuschöpfen – auch wenn es gegenwärtig noch so scheint, als sei die Macht der Tech-Giganten nicht zu brechen. Die Autorinnen betonen, dass es im aktuellen Kontext, da digitale, Plattform- und Datentechnologien den Paradigmenwechsel in der globalen Wirtschaft beschleunigen, nicht mehr nur um reine Fragen des Zugangs gehen kann. Vielmehr ist es an der Zeit, den Fokus auf die Nutzungskulturen zu verlagern und damit eine feministische Wirtschaftskritik auch in diesem neuen, digitalen Kontext wieder zum Tragen zu bringen. Daher schlägt der Aktionsrahmen transformative Ideen für einen neuen Multilateralismus für das digitale Zeitalter vor, eine Rechenschaftspflicht für Tech-Giganten und die Formulierung einer feministischen digitalen Infrastrukturpolitik. 

Feminist_innen wissen schon lange, dass wirtschaftliche Ungerechtigkeit die andere Seite von Geschlechterungerechtigkeit ist. In der Digitalwirtschaft wird diese Ungerechtigkeit noch verschärft, da es Governance-Defizite und Regulierungslücken in zwei wesentlichen Bereichen gibt: Erstens ermöglichen grenzüberschreitende Datenströme den großen Konzernen des globalen Nordens, Datenressourcen aus dem globalen Süden abzuschöpfen. Damit bleibt den Ländern des globalen Südens kein Raum, Wege auszuloten, wie man Datenkapazitäten so nutzen kann, dass lokale Gemeinschaften und alternative Unternehmen der Sozial- und Solidarwirtschaft davon profitieren können. Zweitens muss über die Besteuerung transnationaler Digitalkonzerne gesprochen werden, sowie über die Frage, wie die Erosion von Besteuerungsgrundlagen und die Profitverlagerungstaktiken der Unternehmen gestoppt werden können. Steuergerechtigkeit hat direkte Auswirkungen auf Investitionen in öffentliche Infrastruktur – und die braucht es zwingend, um Geschlechtergerechtigkeit herzustellen.

Ein neuer Multilateralismus für die digitale Welt

Die aggressive neue digitale Welt braucht einen neuen Multilateralismus, in dem alle Länder autonom ihre Strategien hin zu nachhaltiger, gleichberechtigter und geschlechtergerechter Entwicklung verfolgen können. Noch wichtiger wird dies im Kontext von digitalen Unternehmen, die künstliche Intelligenz nutzen.

Um den Gender Bias im Design von Daten- und KI-Technologien zu überwinden, reichen Selbstverpflichtungen nicht aus. Es braucht verbindliche Industriestandards, um die Industrieunternehmen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Technologiebranche muss sich Design-Normen geben, um patriarchatsfördernde, frauenfeindliche Algorithmuskulturen wirksam zu durchbrechen. Die wachsenden Ungleichgewichte und Spannungen der heutigen Globalisierung finden in einer immer stärker finanzialisierten und digitalisierten Welt statt. Das multilaterale Handelssystem stößt an seine Grenzen. Appelle an den guten Willen von Unternehmen, begleitet von Aufrufen, niemanden zurückzulassen, sind bestenfalls optimistische Plädoyers für eine zivilere Welt, schlimmstenfalls absichtsvolle Bemühungen, von ernsthaften Diskussionen über die wahren Treiber globaler Ungleichheit und Unsicherheit abzulenken. Das Generation Equality Forum und seine Action Coalition on Technology and Innovation for Gender Equality müssen hier dringend handeln, damit Projekte und Programme im Bereich Technologie und Innovation vollständig geschlechtergerecht gestaltet werden.

Wenn das digitale Zeitalter seinen Verheißungen gerecht werden soll, muss das multilaterale Handelssystem neu gedacht werden. Ein neuer Multilateralismus muss Süd-Süd-Kooperation fördern, Steuergerechtigkeit herstellen, gleichberechtigten und fairen Handel ermöglichen, universelle Arbeitsnormen garantieren und öffentliche Investitionen in die Care-Infrastruktur vorsehen. Er muss ein neues globales System für die Governance von Daten als wirtschaftlicher Ressource umfassen – gestützt auf ein ehrliches Engagement für die Menschenrechte von Frauen. Im Moment werden digitale Handelsregeln plurilateral bei der WTO sowie durch regionale Freihandelsabkommen verhandelt. Damit wird der Geist des demokratischen Multilateralismus unterlaufen. Den Entwicklungsländern werden die politischen Handlungsräume genommen, ihr Recht auf Regulierung von Datenressourcen und digitalen Märkten auszuüben und ihre eigenen, selbstbestimmten Wege zu einer Entwicklung im digitalen Zeitalter zu gehen. Es braucht einen globalen Governance-Rahmen für die Plattform-Ökonomie, um die Tech-Giganten zur Verantwortung zu ziehen. Dazu sollte ein internationaler, rechtsverbindlicher Vertrag über transnationale Unternehmen gehören, mit dem die Straflosigkeit von Unternehmen und die Angriffe auf die Menschenrechte von Frauen bekämpft werden können.

Der Weg in die Zukunft

In vielerlei Hinsicht geht es bei dem Deal unserer Träume um genau dieselben Herausforderungen, vor denen Feminist_innen vor dem Hintergrund der kapitalistischen Globalisierung und der damit einhergehenden Ausbeutung von Produktions- wie Reproduktionsarbeit immer gewarnt haben. Die angeblich so neue Konfiguration der Digitalwirtschaft ist eigentlich nur eine weitere Strategie, neoliberale Handels- und Wirtschaftsmodelle durchzusetzen. Diese Modelle stützen sich nach wie vor auf eine sehr eng gefasste Agenda von Wirtschaftswachstum und Gewinnmaximierung, während Menschenrechte und menschliches Wohlergehen eine untergeordnete Rolle spielen. Wenn darüber hinaus kulturelle Normen nicht hinterfragt werden, nach denen gesellschaftliche Reproduktionsarbeit Frauensache ist, wird die Verantwortung für Haushalt und Care-Arbeit weiterhin bei den Frauen abgeladen werden. Die neuen Formen der Arbeit in der Digitalwirtschaft schreiben damit traditionelle Geschlechternormen fort und können bestehende Unterschiede in Status und Einkommen sogar noch verschärfen.  

Das richtige Narrativ zu entwickeln, wird keine leichte Aufgabe sein. Der feministische Aktionsrahmen weist in die richtige Richtung: Vorgeschlagen wird ein produktiver, bewegungsübergreifender Dialog über die Notwendigkeit feministischer makroökonomischer Perspektiven. Dabei steht die Arbeit erst am Anfang. Gesellschaftliche Bewegungen, Gewerkschaften, Aktivist_innen und Wissenschafter_innen müssen befähigt werden, die Debatte über die Schlüsselfragen des Aktionsrahmens mitzugestalten. Lokal eingebettete, gut geplante Aktionen – zum Beispiel in Form von politischer Lobbyarbeit, pädagogischen Maßnahmen, Kampagnen oder wissenschaftlichen Studien – werden die Mittel der Wahl sein.

Die FES und ITforChange treiben diesen Dialog voran, um die strukturellen Transformationen zu thematisieren, zu denen Digitalisierung und Datafizierung in der Weltwirtschaft bereits geführt haben. Die Tech-Giganten sind dabei, alle Sektoren der Weltwirtschaft grundlegend umzustrukturieren. Es ist höchste Zeit, dass soziale Bewegungen darauf reagieren und die damit einhergehenden Ungerechtigkeiten bekämpfen.

Der Aktionsrahmen ist in den folgenden Sprachen verfügbar:

 

Gurumurthy, Anita; Chami, Nandini

The deal we always wanted

A feminist action framework for the digital economy
Berlin, 2020

Publikation herunterladen (2,5 MB PDF-File)


Gurumurthy, Anita; Chami, Nandini

Der Deal unserer Träume

Ein feministischer Aktionsrahmen für die Digitalwirtschaft
Berlin, 2020

Publikation herunterladen (2,7 MB PDF-File)


Gurumurthy, Anita; Chami, Nandini

O acordo que sempre quisemos

Um marco de ação feminista para a economia digital
Berlin, 2021

Publikation herunterladen (2,7 MB PDF-File)


Gurumurthy, Anita; Chami, Nandini

L'accord que nous voulons depuis toujours

Cadre d'action féministe pour l'économie numérique
Berlin, 2021

Publikation herunterladen (3 MB, PDF-File)


Gurumurthy, Anita; Chami, Nandini

El acuerdo que siempre quisimos

Un marco de acción feminista para la economía digital
Berlin, 2021

Publikation herunterladen (3 MB, PDF-File)


Gurumurthy, Anita; Chami, Nandini

[The deal we always wanted]

[A feminist action framework for the digital economy]
Berlin, 2021

Publikation herunterladen (2,7 MB PDF-File)



Ansprechpartnerin

Natalia Figge
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+49 30 26935-7499
Fokus Zeitenwende der Friedrich-Ebert-Stiftung: Eine neue Ära

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