Referat Lateinamerika und Karibik

Das Leben im Mittelpunkt – oder Gewinninteressen?

Die Pandemie zeigt uns, wie wichtig der Schutz der Lebensräume für uns ist. Diejenigen, die sich dafür einsetzen, werden derzeit jedoch in Lateinamerika besonders heftig verfolgt.

Bild: Mitglieder des Kollektivs "Ni todo está perdido" in der Zentrale, die ihnen die Stadtverwaltung Montevideo zur Verfügung stellt. von © FES Uruguay

Ein Interview von Sebastian Sperling, Leiter der FES Uruguay und Karin Nansen, Gründerin von Redes – Amigos de la Tierra Uruguay.

Wie und in welcher Weise hat diese Pandemie das Szenario für Aktivist_innen in ihrem Kampf  für Umweltgerechtigkeit in Lateinamerika verändert?

Die durch Covid-19 ausgelöste Krise wirkt sich nicht nur auf die Gesundheit und die Gesundheitssysteme aus. Vielmehr legt sie auch die tiefsitzende ökologische, sozioökonomische und geschlechtsbezogene Ungerechtigkeit offen, die den Kontinent durchzieht. Verstärkt wird diese noch durch die antidemokratische, neoliberale und diskriminierende Politik der Rechten. Zudem enthüllt Corona auch die enormen Ausmaße und Folgen der systemischen sozioökologischen Krisen: der Klimakrise, der Krise der biologischen Vielfalt, der Ernährungskrise und der Krise des Wohlfahrtsstaats.

Vor diesem Hintergrund wird einmal mehr deutlich, dass die neoliberale Politik, die sich durch die Schwächung des Staates und die Sparpolitik auszeichnet, der Gesundheit, den Grundrechten und den Ökosystemen schadet, die das Leben auf unserem Planeten überhaupt erst möglich machen. In Ländern, die die öffentliche Versorgung, das Gesundheitswesen und die sozialen Sicherungssysteme privatisiert und den Arbeitsmarkt flexibilisiert haben, sind die unteren Bevölkerungsschichten schwächer und können ihre Rechte schlechter durchsetzen. Länder, die wie Uruguay den Rückbau des Staates gebremst und ein Gesundheitssystem für alle eingerichtet haben, können der Krise dagegen mehr entgegensetzen. Dasselbe gilt auch für die Natur: Ein Recht auf Wasser und Saatgut ist möglich, wenn sich der Privatisierungswelle widersetzt wird.

Und doch lässt sich in der Region eine Rückkehr zum neoliberalen Weg beobachten. Die rechtsgerichteten Regierungen, die derzeit an der Macht sind, drehen die Bemühungen um eine regionale Integration unter reger Mitwirkung der nationalen Wirtschaftseliten und der internationalen Konzerne zurück und bemühen sich stattdessen um eine internationale Integration. Diese schafft mit ihrer Liberalisierung von Handel, Dienstleistungen und Investitionen jedoch neue Abhängigkeiten. In Uruguay ist dabei insbesondere ein Modell der Produktion und Bodennutzung zu beobachten, das dem privaten Vorteil Vorrang gibt und kleinbäuerliche Strukturen, Familien, Quilombolas ( Gemeinschaften der Nachfahren einst geflohener Schwarzer Sklav_innen )und Indigene an den Rand drängt.

Hinzu kommt noch die aktuelle antidemokratische Kampagne und die Bekämpfung historisch verwurzelter sozialer Bewegungen, die unterlaufen und zum Schweigen gebracht werden sollen. In einer Zeit, in der die Verteidigung historischer Lebensräume entscheidend ist, um diese und andere Systemkrisen zu bewältigen, leiden diejenigen, die sich seit langem organisieren und für die Rechte der Bevölkerung eintreten, heute mehr unter Verfolgung, Kriminalisierung oder gar Mord als jemals zuvor. Diese Form der Gewalt wird gegen Frauen in besonders brutaler Form angewandt, vor allem wenn sie afrikanische oder indigene Wurzeln haben, in der Fischerei oder der Landwirtschaft tätig sind oder der Arbeiter_innenschicht angehören und für kollektive Interessen eintreten und damit ihre Rolle als politische Subjekte stärken.

In Uruguay wird seit einigen Jahren verstärkt über das Thema Nachhaltigkeit diskutiert. Die neue Regierung hat zugesichert, sich stärker für den Umweltschutz einzusetzen. Wie drückt sich das in den aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronakrise aus?

In Uruguay hat die neue Regierung einen Plan verabschiedet, um auf die Allianz verschiedener Bevölkerungsgruppen zu reagieren, auf die sich die Rechte in ihrem Kampf gegen soziale und ökologische Gerechtigkeit stützt. Zwar wurde der Umweltschutz durch die Schaffung des Umweltministeriums stärker institutionell verankert; doch das Vorhaben, die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren und auf eine neoliberale Politik zu setzen, die sich unweigerlich negativ auf die Umwelt auswirken wird, laufen diesem Diskurs zuwider.

Das Gesetzesvorhaben Ley de urgente consideración (Dringlichkeitsgesetz / Notfallgesetz), über das derzeit im Repräsentantenhaus debattiert wird, stellt einen großen Rückschritt in Sachen Umweltschutz und Nahrungsmittelsouveränität dar. Denn es soll das landesweite System der Schutzgebiete und die für die Landverteilung zuständige Behörde (Instituto Nacional de Colonización) schwächen. Diese ist jedoch für die kleinen, überwiegend jungen landwirtschaftlichen Kooperativen und die Vermittlung von Bodenbesitz an Frauen von zentraler Bedeutung. Das Gesetzesvorhaben, das im Parlament nur sehr kurz behandelt werden soll – wodurch die Beteiligung der Öffentlichkeit und die demokratische Debatte verhindert werden –, sieht weitreichende Veränderungen vor. Sollte es verabschiedet werden, wird der Rechtsstaat geschwächt. Stattdessen werden seine repressive Funktion und seine Nähe zur Wirtschaft gestärkt. Zugleich wird die Rolle der Öffentlichkeit unterhöhlt und das Gemeinwohl tritt hinter privaten Interessen zurück.

Wenige Monate nach ihrem Amtsantritt ist klar zu erkennen, dass die Prioritäten der Regierung den Interessen des uruguayischen Volkes und der Verbände zuwiderlaufen. Diese sind stark in der «Intersozialen» (Zusammenschluss verschiedener sozialer Organisationen und dem Gewerkschaftsdachverband Pit-Cnt) verankert und fordern seit jeher eine Politik, die sich auf die Rechte der Arbeiterklasse besinnt und auf Solidarität setzt.

Wie sehen vor diesem Hintergrund die Prioritäten und Strategien der Redes Amigos de la Tierra in Uruguay und der Region jetzt aus?

Organisationen, die wie Amigos de la Tierra América Latina y Caribe für Umweltgerechtigkeit eintreten, sind der Ansicht, dass das gegenwärtige Szenario eine koordinierte politische Agenda und Aktion von den sozialen Bewegungen des Kontinents erfordert um die strukturellen Ursachen der Krise anzugehen. Außerdem wollen sie Vorschläge formulieren und Initiativen ins Leben rufen, die den Rechten, Bedürfnissen und Interessen der Bevölkerung dienen und zugleich die Ökosysteme und ihre lebenswichtigen Funktionen schützen. Uns ist klar, dass die Stärkung kollektiver politischer Subjekte von grundlegender Bedeutung ist, um sich gegenüber der Politik Gehör zu verschaffen und die Angriffe auf die Demokratie abzuwehren. Deshalb hat der Kampf gegen die Rechte, den Neoliberalismus und die Macht und Straflosigkeit der multinationalen Konzerne für die Arbeiter_innenklasse, den Feminismus und die Umweltgerechtigkeit oberste Priorität. Und genau dafür haben wir uns beim „Kontinentalen Tag“ für Demokratie und gegen den Neoliberalismus (Jornada Continental por la Democracia y Contra el Neoliberalismo) ausgesprochen.

Heute besteht die dringliche Notwendigkeit, Unterdrückungs- und Ausbeutungssysteme zu zerstören und uns dem wachsenden institutionellen Rassismus, der zunehmenden Ausbeutung der Frauen und der Arbeiterklasse und der sich verschärfenden Gewalt des Patriarchats entgegenzustellen. Die aktuelle Lage ruft uns dabei ins Gedächtnis, wie wichtig der Schutz des Lebens, des Wohlfahrtsstaats und der öffentlichen Versorgung sind. Deshalb kämpfen wir gemeinsam mit verschiedenen Bewegungen und Organisationen aus der Bevölkerung dafür, dass die Erholung nach der Krise gerecht abläuft.

Karin Nansen ist Gründerin von Redes – Amigos de la Tierra Uruguay(www.redes.org.uy/) und Präsidentin von Amigos de la Tierra Internacional (https://www.foei.org/es).

*Das Interview wurde von der FES Uruguay am 23.6.2020 geführt und ist eine Übersetzung aus dem Spanischen. Hier gelangen Sie zur spanischen Version.

In der deutschen Fassung verwenden wir eine geschlechtersensible Sprache.


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