Landesbüro Nordrhein-Westfalen

Dienstag, 08.06.21 19:00 bis Dienstag, 08.06.21 20:30

WORKING CLASS: Lesung und Diskussion


Terminexport im ICS-Format

Lesung und Diskussion mit Julia Friedrichs und Dr. Norbert Walter-Borjans

Rückblick: Working Class: Lesung & Diskussion

 

In Deutschland wird vermutet, dass sich die Trennlinien zwischen gesellschaftlichen Gruppen anhand von Abschlüssen ablesen lassen: Wer einen hohen Abschluss erreicht habe, verdiene am meisten Geld; Menschen mit einem niedrigen Schul- oder Ausbildungsabschluss seien prekären finanziellen Verhältnissen zuzuordnen.

Julia Friedrichs zeigt in ihrem Buch „Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“ (erschienen 2021) jedoch eine andere Realität auf: In Deutschland verlaufen gesellschaftliche Trennlinien nicht entlang von Ausbildungsabschlüssen oder Berufszweigen, sondern von Vermögensund Verdienstverhältnissen.

Für die Recherche zu ihrem Buch hat sie einerseits mit Expert_innen, Wissenschaftler_innen und Politik_erinnen gesprochen. Besonders eindrucksvoll und bewegend wird ihr Buch jedoch durch die persönliche Begleitung von vier Menschen, die von ihren täglichen Aufgaben, Sorgen und Wünschen berichten. Dabei wird schnell deutlich: Obwohl die Protagonist_innen – ein U-Bahnhofsreiniger, ein Büroangestellter und ein Musiklehrerpaar – unterschiedliche Ausbildungsgänge durchlaufen haben, unterscheidet sich ihre prekäre ökonomische Situation im Grunde nicht sonderlich. Sie arbeiten in

Nach der Lesung von zwei Passagen aus dem Buch diskutierte Julia Friedrichs mit Dr. Norbert Walter-Borjans und unter Berücksichtigung von Fragen und Einwänden der Teilnehmenden aus dem Chat ihre Beobachtungen. Weshalb zahlt sich das gesellschaftliche Grundversprechen, dass Leistung und Fleiß gesellschaftlichen und finanziellen Aufstieg bringen, nicht mehr aus? Wie stellen sich die Lebensbedingungen vieler Menschen in Deutschland da? Und wohin muss sich die soziale Demokratie entwickeln, um sich weiter für eine demokratische Gesellschaft mit gleichen Teilhabemöglichkeiten einsetzen zu können?

Lesung aus „Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“

Die Autorin führte in der Lesung der ersten Passage in die Thematik des Buches ein. Die Übersetzung der Bezeichnung „Working class“ ins Deutsche biete ihr keine zufriedenstellende Lösung: Weder sind es „einfache Leute“, noch das, was man früher als „Mittelschicht“ bezeichnet hat. Obwohl die Bezeichnung „Arbeiter_in“ in Deutschland zunächst vor allem Assoziationen mit Zechen und Bergbau hervorruft, ist sie für Julia Friedrichs dennoch die zutreffendste Bezeichnung. Denn es sind auch in Deutschland meist Arbeiter_innen mit niedrigem Lohn und in Leiharbeit, die selbst kaum oder kein Kapital bzw. Vermögen vorweisen können und auf den Lohn ihrer Arbeit angewiesen sind.

Der ärmere Teil der Bevölkerung habe schon vor 20 Jahren wenig Vermögen vorweisen können, heute jedoch so gut wie keines. Seit 2010 nehme die Ungleichheit zwischen Menschen wieder zu; obwohl Deutschland wirtschaftliches Wachstum zu verzeichnen hatte, habe das untere Drittel der Bevölkerung davon nichts abbekommen. Vor allem in der Altersgruppe bis 45 gebe es eine stark anwachsende Gruppe, für die es immer schwieriger werde, sich aus eigener Kraft Wohlstand zu erarbeiten. Im Gegensatz dazu konnten Menschen mit bestehendem Vermögen dieses sogar sehr stark ausbauen.

„Es knirscht an allen Ecken“

In der zweiten Passage lernten die Teilnehmenden den U-Bahnhofsreiniger Said kennen, der von einem Bruttogehalt von 1.600€ eine vierköpfige Familie ernähren muss. Nur durch die zusätzliche Arbeit seiner Frau und eines Sohnes komme die Familie über die Runden, aber trotzdem knirsche es an allen Ecken. Saids Beispiel zeigt, an wie vielen Stellen er benachteiligt wird: So wird ihm vom Arbeitgeber kein Zugticket für den Arbeitsweg gezahlt und er wird nicht für gearbeitete Stunden, sondern pauschal für ein Set an zu erledigenden Arbeiten bezahlt. Früher habe es „Ekelprämien“ bei besonders herausfordernder Arbeit gegeben, heute wird ihm die Last der Mehrarbeit sogar selbst auferlegt. Für Said ist es eindeutig: Die Umstellung auf den Euro hat alles zum Schlechten verändert. Daher rechnet er bis heute noch zu hohe Preise in DM um.

Herausforderung Wohnen, Lohn und Kinder: Wen trifft die Schuld an der derzeitigen Situation?

Laut Julia Friedrichs gibt es nicht das eine einzige auslösende Element, das zur derzeitigen prekären Situation geführt hat. Stattdessen ist ab den 1980er Jahren vieles gleichzeitig passiert, das sich fatal für die Arbeiter_innen auswirkt: Klassische Lobbyorganisationen wie Gewerkschaften, Parteien oder Kirchen schwächeln, Angestellte in Betrieben werden atomarisiert und fühlen durch die fehlende Verbindung untereinander auch keine gemeinsame Identität mehr. Außerdem hat der Staat entschieden, den Sozialstaat auf Arbeit zu fußen, wodurch Menschen unter anderem durch Sozialabgaben bedrückt werden. Gleichzeitig sind durch Privatisierungen auch Immobilienpreise gestiegen und Arbeiten, die mit dem Kopf bzw. Geist geleistet werden, werden seitdem höher wertgeschätzt als beispielsweise Handwerk.

Dr. Norbert Walter-Borjans sieht vor allem in der neoliberalen Ausrichtung aller gesellschaftlicher Bereiche seit den 1970er Jahren eine Ursache. Die gleichzeitige Globalisierung hat Staaten unter Druck gesetzt und diese haben nicht mit modernen und angemessenen Instrumenten darauf reagiert. Julia Friedrichs hingegen wertet dies als typische ausweichende Antwort von Sozialdemokrat_innen. Die SPD wurde von Arbeiter_innen gewählt, habe aber die konkreten Sorgen und Nöte der Menschen nicht gelöst, obwohl Politik direkten Zugriff darauf gehabt habe. Walter-Borjans widerspricht dieser Aussage vehement, denn auch Menschen wie Said seien Opfer dieser Globalisierung und neoliberalen Privatisierung. Sie seien die Leidtragenden der Entwicklung während sich die großen Gewinner_innen nicht an der Gesellschaft beteiligen würden. Deshalb müsse man eine Art Gegenlobby für Arbeiter_innen aufbauen, damit sie eben nicht mehr atomarisiert alleine kämpfen müssen.

Ungleichheit auch eine Frage der Generationen?

Eine lebhafte Diskussion auch mit den Teilnehmenden aus dem Chat entstand um die Frage, welche Rolle die Menschen, die vor den 1980ern geboren worden sind und die selbst aufgestiegen sind, in der derzeitigen Situation hätten. Julia Friedrichs meint: diese goldenen Generationen haben nichts für die kommenden Generationen vorbereitet. Vor allem ältere Generationen aus den westlichen Bundesländern würden bis heute nicht klar sehen, dass es sehr wohl eine Ungleichheit in der Gesellschaft gibt. Daher ist da Thema der Arbeiter_innen für Julia Friedrichs auch ein Generationenthema. Zusätzlich hätten Menschen durch die Diskursverschiebung von „Klasse“ hin zu „Milieus“ den Blick für ihre eigene gesellschaftliche Stellung verloren. 

Walter-Borjans bestätigte den letzten Punkt vor allem in Bezug auf Steuerreformen für das oberste ein Prozent, da sich die Mehrheit fälschlicherweise diesem Prozent zuordne und daher Steuererhöhungen ablehne. Durch seinen beruflichen und persönlichen Einsatz für Steuerreformen fühlt er sich aber gleichzeitig durch den Verweis auf die Ignoranz der goldenen Generationen angegriffen. Einig waren sich beide, dass die Auseinandersetzung mit Steuern und Vermögen unbedingt notwendig ist.

Wertschätzung der Arbeit und Aufstieg im Betrieb ist für alle wichtig

Julia Friedrichs ist durch die Recherche für das Buch klar geworden, dass Aufstiegsmöglichkeiten in großen Betrieben oder Unternehmen für alle Menschen wichtig ist. Aufgrund von Outsourcing und dem gewachsenen Einsatz Zeitarbeitsfirmen, sei es nicht mehr möglich mit einfachen Tätigkeiten in einer Firma einzusteigen und dann aufzusteigen. Arbeiter_innen wie Said können dies nicht erreichen, weil sie nicht zur Stammbelegschaft gehören. Kombiniert man dies mit einer geringen Wertschätzung für bestimmte Berufsgruppen, sei das für die Arbeiter_innen neben der geringen Entlohnung eine große Verletzung.

Dr. Norbert Walter-Borjans ist diese soziale Spaltung einerseits durch Bücher und sein eigenes politisches Wirken bekannt, doch solch persönliche Erzählungen wie von Said und den anderen Protagonist_innen berühre ihn immer wieder aufs Neue. Beide Gäste waren sich daher einig, dass die Wertschätzung von Menschen, ihrer Arbeit und ihrer Leistung eine absolute Grundlage für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Wandel darstellen.

Perspektiven und Instrumente, um die Gesellschaft positiv zu verändern

Walter-Borjans ist davon überzeugt, dass es viele Ideen, Instrumente und Perspektiven für den Wandel gibt, die derzeit einfach noch nicht ausgeschöpft werden. Corona habe gezeigt, dass man oft zu eng und unkreativ denke. Neben der Besteuerung von Vermögen und hohen Einkommen sind vier Punkte sind für ihn entscheidend: Kommunen brauchen finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder, damit sie nicht outsourcen müssen. Abgesehen davon gilt es generell tarifliche Beschäftigungsverhältnisse zu stärken und dementsprechend Arbeit anständig zu bezahlen. Ebenso müsse der öffentliche Wohnungsbau gestärkt werden, um die Portemonnaies von Geringverdiener_innen weniger stark zu belasten. Für all das sei schlussendlich die Lockerung der Schuldenbremse und die Abkehr von der „schwarzen Null“ nötig. Als letzten Punkt hob er die von der SPD geforderte Kindergrundsicherung hervor, damit Kindeswohl vom Einkommen der Eltern entkoppelt werde.

Julie Friedrichs betonte in der Veranstaltung immer wieder die Bedeutung von Vermögen, vererbtem Vermögen und den Interessenslobbyismus von Vermögenden, beispielweise beim Wohnungsbau. Es müsse ein Bündel an Gegenmaßnahmen umgesetzt werden, das beispielsweise einen höheren Mindestlohn und den Umbau der Sozialsysteme und der Steuerstruktur als wesentlichen Kern beinhalte. So könnten beispielsweise Sozialversicherungssysteme von der Arbeit gelöst werden. Das bedingungslose Grundeinkommen hingegen sei für Arbeiter_innen keine Lösung. Vielmehr müssten sie wieder Aussichten angeboten bekommen, die zu ihrer Lebenssituation und -wünschen passe und ihre konkreten Probleme löse. Dafür müsse in Deutschland endlich anerkannt werden, dass Menschen unabhängig ihrer (Aus-)Bildung in ökonomisch prekären Verhältnissen leben und diese Menschen Zuspruch und Lobbyarbeit erhalten. Denn Julia Friedrichs ist davon überzeugt, dass Menschen gerne arbeiten und diese Arbeit wieder angemessen entlohnt sowie wertgeschätzt werden müsse. Sie wirbt dafür, auf Menschen zuzugehen und ihnen lange und ehrlich zuzuhören. „Danach nimmt man die Welt anders wahr, wenn man Dinge weiß, die man früher nicht wusste.“

Text: Kathrin Schroth

Redaktion: Landesbüro NRW der Friedrich-Ebert-Stiftung

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Termin

Dienstag, 08.06.21
19:00-20:30 Uhr

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