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Politik und Gesellschaft Online
International Politics and Society 3/1999

Vorläufige Fassung / Preliminary version

CARSTEN HERRMANN-PILLATH / MICHAEL LACKNER
Länderbericht China. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im chinesischen Kulturraum
Bonn 1998
Bundeszentrale für politische Bildung, 698 S.

Im Zuge der Diskussion um den „Standort Deutschland" wird oft die Frage gestellt, ob weiteres wirtschaftliches Wachstum davon abhängt, daß der Anpassungsprozeß an die technologische und wirtschaftliche Globalisierung weitergeführt wird. Läßt sich eine ähnliche Frage auch im Falle des Entwicklungslandes China stellen? Haben Chinas Modernisierung und traditionelles Bestreben, ein „reiches und starkes Land" zu werden, einen Stand erreicht, der die Globalisierung zu einem Problem wie im Westen macht? Welche Konsequenzen hätte dies für die staatliche Organisation der Volksrepublik China, für die kulturelle Identität der Chinesen und für die weitere Verflechtung oder Diversifizierung des sogenannten „Größeren China" - der Gesamtheit chinesischer Staaten und der Auslandschinesen? Mit derartigen Fragen, die sich aus der sich überschlagenden Entwicklung Chinas in den letzten Jahren ergeben, befaßt sich der „Länderbericht China" der Bundeszentrale für Politische Bildung, herausgegeben von Carsten Herrmann-Pillath und Michael Lackner, mitbearbeitet von Doris Fischer und Christoph Müller-Hofstede. Nach zehn Jahren liegt damit ein neuer Länderbericht der Bundeszentrale vor, der schon durch den Umfang der beigefügten und neu erschlossenen Materialien beeindruckt.

Dem hohen Niveau des Datenmaterials entsprechen die Aufsätze, die von einer allgemeinen Einführung in die wirtschaftsgeographischen Grundlagen über Geschichte und Kultur bis zu den internationalen Beziehungen und außenpolitischen Interessen Chinas reichen. Es sind nur wenige Beiträge darunter, die sich auf routinehafte Faktenaufzählung beschränken (Schmidt-Glintzer, Wolfgang Taubmann). Unzulänglichkeiten mögen auch durch die erforderliche Gedrängtheit der Darstellung verursacht sein: Chinesischsprachige Fachtermini („die Shi-Städte") hätten erläutert werden müssen; auch macht sich das Defizit eines Schriftzeichenverzeichnisses bemerkbar. Ein detailliertes Sachregister fehlt, ein Literaturverzeichnis gibt es jeweils nur für jeden Aufsatz gesondert. Irritierend ist die - inkonsistent durchgehaltene - Entscheidung, Namen von Personen, Orten und Institutionen in Taiwan nicht in der in Taiwan, sondern in der in der Volksrepublik gebräuchlichen Umschrift zu schreiben; zum praktischen Nutzen des Lesers hätte die taiwanesische Schreibweise zumindest in Klammern aufgeführt werden müssen. Am problematischsten dürfte die Entscheidung sein, „Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im chinesischen Kulturraum" - so der Untertitel des Werks - darzustellen. Dies führt dazu, daß neben dem geographischen Raum Chinas einschließlich Taiwans (und, besonders genannt, Hongkongs, das jedoch zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches längst an die Volksrepublik zurückgegeben war) Singapur in die Behandlung einbezogen wird. Singapur als Teil des „Großen Chinas" in den Band aufzunehmen, hat sicher gute Gründe, doch gäbe es angesichts des politischen Selbstverständnisses Singapurs mit eigener südostasiatischen Identität mindestens so viele Gegenargumente. Die meisten Beiträge gehen denn auch auf Singapur überhaupt nicht weiter ein.

Wichtiger ist jedoch, und dies macht den eigentlichen Wert des Bandes aus, daß die Herausgeber neben der Darstellung von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Daten, der Analyse, der Interpretation und auch der Spekulation genügend Raum bieten. Neben der Frage nach dem Selbstverständnis Chinas und seiner Einordnung in globale Kulturzusammenhänge gehört hierher auch die Frage nach der zu erwartenden inneren Entwicklung der Volksrepublik und nach der künftigen Gestaltung seiner Außenbeziehungen.

Carsten Herrmann-Pillath etwa geht in seinem Beitrag zur chinesischen Identität weit über die sattsam bekannte Diskussion des „Neokonfuzianismus" als wesentlichem konstituierenden Element chinesischer Kultur und des chinesischen Staates hinaus und erörtert die Bedeutung der Familie und des Ahnenkults in Relation zum Staats-Konfuzianismus. Er gelangt von dort zur Frage nach dem „Dualismus von schriftlich fixierten, monistischen Kulturtraditionen einerseits und der Vielfalt lebensweltlicher Traditionen andererseits", die sich in der Dichotomie von Stadt und Land und in jener des politischen und des kulturellen China widerspiegeln. Herrmann-Pillaths abschließende Frage ist, ob eine „globalisierte chinesische Kultur" eine chinesische Identität wird stiften können, die eine „Spielart universeller Moderne" wäre.

Sebastian Heilmanns Analyse des Zustands der Kommunistischen Partei Chinas konstatiert deren zunehmende Schwächung nicht in ihrer Ähnlichkeit zur Entwicklung im früheren sowjetischen Machtbereich, d. h. durch wirtschaftliche Mißerfolge bedingt, sondern durch die wirtschaftlichen Erfolge der Partei. Aus dem sich ergebenden Wandlungsdruck und aus dem Einfluß einer neuen „technokratischen Generation" auf die Partei schlußfolgert Heilmann schließlich für die weitere Entwicklung drei Möglichkeiten: die eines „Kollapses" der KP und anschließenden Zerfalls Chinas, die einer schrittweisen institutionellen Erneuerung, und schließlich die Möglichkeit „permanenten Krisenmanagements". Diese letztere hält er für die wahrscheinlichere Entwicklung. Plausibel, wie diese Darlegungen sind, vermißt der Leser hier doch die Aufführung chinesischer Vorstellungen.

Joachim Glaubitz gelangt in seiner Darstellung der außenpolitischen Situation und Perspektiven Chinas zu der Schlußfolgerung, China werde politisch und militärisch die führende Position im asiatisch-pazifischen Raum einnehmen. Vielleicht erliegt er damit der in der gegenwärtigen Japankrise verbreiteten Geringschätzung des japanischen Potentials, das wirtschaftlich ebenso wie militärisch und vor allem technologisch einen wahrscheinlich auch langfristig abzusichernden Vorsprung Japans in seiner Entwicklung China gegenüber garantiert. Wenn Glaubitz von der fortdauernden Instabilität in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen spricht, dann ist dies plausibel nur ohne mittelfristige Einbeziehung Chinas in stabile multilaterale Strukturen. Angesichts der von Glaubitz festgestellten chinesischen „Reserve" gegenüber dem Multilateralismus mag dies zutreffen. Im Anschluß an den Beitrag Glaubitz' gehörte eigentlich ein Thema ausführlicher behandelt, dessen sich Stefan Friedrich nur im Anhang knapp annehmen darf: die deutsch-chinesischen Beziehungen. Selbst bei wirklichkeitsnaher Einschätzung der sicherlich geringen Bedeutung Deutschlands für China ist doch zu bedenken, daß die Mehrheit der Leser gerade an diesem Thema besonderes Interesse haben dürfte.

In jedem Fall der passende Schlußbeitrag ist jener Müller-Hofstedes, der die Bedingungen für Chinas Modernisierung im Zeitalter der Globalisierung zu verstehen sucht. Von den Ursprüngen des chinesischen Nationalismus über seine gegenwärtige Gestalt, von der Zukunft Chinas als Nation bis zu den Einflüssen nach außen wegstrebender Regionen wie Tibets und Sinkiangs reicht der Bogen, den Müller-Hofstede schlägt, um schließlich zur Schlußfolgerung zu gelangen, daß „die Welt in den nächsten zehn Jahren China mehr prägen (wird) als umgekehrt". Eine Einschätzung, der nach der Lektüre dieses Aufsatzes ebenso wie unter Berücksichtigung des Wegs, den China derzeit in die internationale Gemeinschaft nimmt, kaum berechtigt widersprochen werden kann. Nach Ablauf dieser zehn Jahre, ist zu hoffen, wird ein neuer, ebenso eindrucksvoll gelungener „Länderbericht China" vorliegen.

Volker Stanzel
SPD-Bundestagsfraktion
Bonn


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